Wien 1918–1938
Welche Auswirkungen hat der Erste Weltkrieg?
Die Schriftstellerin Gina Kaus beschreibt eine Demonstration Ende des Ersten Weltkriegs in der Herrengasse: „Bataillone der Arbeiterschaft“ kommen aus den Außenbezirken ins Zentrum. Von Euphorie ist bei ihnen, so Kaus, wenig zu spüren. „Müde und schmutzig, in elende Lumpen gekleidet, mit bleichen, abgezehrten Gesichtern kamen sie. Sie kamen schweigend. Sie trugen Plakate, auf denen stand: ‚Wir wollen Frieden und Brot.‘“1
Ein Bekannter von Kaus, der Schriftsteller Franz Werfel, fühlt sich dennoch in revolutionäre Stimmung versetzt und ruft lauthals: „Nieder mit Habsburg! Es lebe die Republik!“2 Die Ernüchterung erfolgt sofort, denn der deutschnationale Parlamentsabgeordnete Karl Hermann Wolf konfrontiert Werfel mit der Frage: „Sind Sie ein Deutscher?“3 Werfel ist Jude, und damit kein „Deutscher“ in den Augen eines Rassisten wie Wolf.
Dass Kaiser Karl I. im November 1918 angesichts der Niederlage im Ersten Weltkrieg zurücktritt, Wien verlässt und den Weg zur Gründung einer Republik frei macht, erscheint bis dahin unvorstellbar. Doch es geschieht: Nach 700 Jahren Regentschaft danken die Habsburger ab und hinterlassen Wien als eine europäische Metropole mit einem monströsen Apparat von Bürokratie, Adel und Militär. Über Nacht wird aus dem riesigen Reich des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie mit seinen mehr als 51 Millionen Menschen ein Ministaat mit nur mehr 6,5 Millionen Menschen: Deutsch-Österreich. Vom imperialen Glanz bleibt Wien der Schatten der Vergangenheit.
Die Stimmung im Land ist dementsprechend gedrückt. Die Republik Deutsch-Österreich ist nicht das Ergebnis eines breiten politischen Willens, sondern das Ergebnis einer militärischen Niederlage, ein Staat wider Willen. Wie soll dieses kleine Land überleben, das einem Wurmfortsatz der Habsburgermonarchie ähnelt? Die Friedensverträge werden in Österreich wie in Deutschland als aufgezwungene Knebelverträge wahrgenommen, als eine Art zweite Niederlage nach der militärischen Katastrophe. Die deutschnationalen Kräfte sinnen auf Rache, sehnen sich nach einer Wiederherstellung der verletzten Ehre der „Deutschen“ und trachten nach Abschaffung der Friedensverträge. Selbst die Konservativen haben für die neugegründete Republik nicht viel übrig, noch im Monat der Ausrufung verunglimpfen sie diese abfällig als „Judenrepublik“.4 Das alles lässt nichts Gutes für die Zukunft erahnen. Heute wissen wir: Der brüchige Frieden sollte nur 21 Jahre lang dauern.
Für die Mehrheit der Wienerinnen und Wiener sind die angeblich „wilden Zwanziger Jahre“ alles andere als wild oder gar faszinierend. Sie sind mit vielerlei Mühsal und Ängsten konfrontiert, mit der Sorge ums tägliche Überleben, mit der katastrophalen Unterversorgung an Lebensmitteln, einer drückenden Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, schließlich auch mit einer hohen Kindersterblichkeit. Ende 1918 wütet eine Pandemie in der Stadt, die „Spanische Grippe“. Sie rafft nicht nur die Armen und Unterernährten dahin, sondern auch berühmte Persönlichkeiten wie den expressionistischen Maler Egon Schiele und dessen schwangere Ehefrau Edith.5 Schwer traumatisierte Soldaten und Verwundete mit amputierten Gliedmaßen prägen das Stadtbild Wiens. Revolutionen wie im benachbarten Ungarn und Bayern können jederzeit auch in Österreich ausbrechen, letztlich bleibt die Revolution aber aus.
Die 1893 in Wien geborene Schriftstellerin Gina Kaus beschreibt in ihren Erinnerungen die unruhige Zeit rund um das Ende des Ersten Weltkriegs.
(Foto: ÖNB)
Der 1890 in Prag geborene Franz Werfel wird einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit. Die revolutionäre Stimmung zu Kriegsende 1918 reißt ihn mit. Sein „Revolutions-Aufruf“ gilt der Befreiung vom Leid: „Brüllend verbrenne im Wasser und Feuer – Leid! Renne, renne, renne gegen die alte, die elende Zeit!“
(Foto: ÖNB)
Der Erste Weltkrieg hinterlässt tausende Menschen, denen Beine oder Arme fehlen, die blind sind oder aufgrund traumatischer Kriegserfahrungen pausenlos zittern. Bei der Rede von Adolf Hitler am Heldenplatz erhalten sie einen Ehrenplatz. Bis zum Ausbruch des nächsten Krieges dauert es nur mehr eineinhalb Jahre.
(Foto: ÖNB)
Deutsch-Österreich – ein Teil Deutschlands?
Während die aus der Habsburgermonarchie hervorgegangenen Staaten wie Ungarn oder die Tschechoslowakische Republik sich ihrer von national gesinnten Kräften herbeigesehnten Selbstständigkeit erfreuen, fehlt dieses befreiende Gefühl einer eigenen Nationalstaatlichkeit in der neugegründeten Republik Deutsch-Österreich völlig. Weder die politischen Parteien noch die Mehrheit der Bevölkerung glauben an die Überlebensfähigkeit des neuen Staates. Es gibt eine große Bereitschaft, die Eigenstaatlichkeit Deutsch-Österreichs aufzugeben und das Land an Deutschland anzuschließen. Abstimmungen in Salzburg und Tirol enden mit der Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit für eine Angliederung an Deutschland. Doch die Siegermächte verbieten das in dem mit Österreich ausverhandelten Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye. Ein Grund für das Anschluss-Verbot ist die durchaus berechtigte Sorge, dass Deutschland ansonsten zu mächtig werden könnte. Auch der Staatsname Deutsch-Österreich muss abgeändert werden. Am 21. Oktober 1919 beschließt das Parlament, den Staat fortan „Republik Österreich“ zu nennen.
Der „Kikeriki“ ist ein radikales antisemitisches Witzblatt. Was immer in der Gesellschaft als Problem vorliegt: Hinter allem Unglück stecken die Juden, so die simple Botschaft. Für Antisemiten sind die Juden sogar Schuld am „Anschlussverbot“. In den 1930er Jahren sympathisiert die Satirezeitschrift offen mit dem Nationalsozialismus und wird deswegen 1933 verboten.
(Abbildung: „Kikeriki“, 3.5.1921, ANNO/ÖNB)
Ist Wien multikulturell?
Die Antwort ist einfach und unmissverständlich: Ja. In Wien leben 1918 Menschen aus allen Teilen der früheren Habsburgermonarchie mit unterschiedlichen Erstsprachen wie Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Jiddisch, Ukrainisch, Rumänisch, Polnisch, Romanes, Slowenisch, Kroatisch oder Italienisch.6 Sie alle prägen den Alltag in Wien: die Speiseeishändler aus Italien genauso wie die tschechischen Schuster, Schneider, Ziegelarbeiter und Ziegelarbeiterinnen, Ammen, Dienstmädchen und Köchinnen. Sie prägen nicht nur den Alltag, sondern hinterlassen auch Spuren im Wienerischen. Strawanzen, Gspusi, Techtelmechtel sind einige der von den italienisch Sprechenden übernommenen Wörter, barabern, pomali, Strizzi von den tschechisch Sprechenden. Beisl, Masen, Pofel und Reibach stammen aus dem Jiddischen.7
Wien bleibt bis zum Ersten Weltkrieg ein Magnet für Menschen aus der gesamten Habsburgermonarchie, die Arbeit und neue Lebensperspektiven suchen oder die aus der geistigen Enge des Dorfes und der Kleinstadt ausbrechen wollen. Vor dem Ersten Weltkrieg ist deutlich mehr als die Hälft e der Bevölkerung Wiens nicht in dieser Stadt geboren. Der Zusammenbruch der Monarchie veranlasst jedoch Tausende, aus Wien abzuwandern, etwa weil die Lebensmittelversorgung in ihrem Herkunft sland besser ist. Der Anteil der Menschen, die in Wien leben, aber anderswo zur Welt gekommen sind, geht daraufh in markant zurück. Bei der Volkszählung 1923 leben in Wien aber immer noch knapp 30 Prozent, die in einem anderen Land als Österreich geboren wurden.
Tabelle 1: Geburtsländer der Wiener Bevölkerung 1910–19348
Die tschechische und slowakische Bevölkerung
Obwohl zwischen 1918 und 1923 rund 150.000 Personen aus Wien in die Tschechoslowakei zurückwandern, bleiben die im Gebiet der Tschechoslowakei Geborenen weiterhin die wichtigste Zuwanderungsgruppe. 1934 umfasst diese Gruppe 292.880 Menschen, unter ihnen sind aber auch viele, die in deutschen Familien aufgewachsen sind. Nicht ohne Grund wird um die Jahrhundertwende vom „Česká Víden“ gesprochen, dem tschechischen Wien. Wie wichtig diese Menschen für das Gedeihen der Stadt sind, besingt ein Lied, in dem es heißt: „Wien ist Wien, aber ohne Tschechen wär’s hin“.9
Der tschechischen und slowakischen Minderheit in Wien kommt zugute, dass sie mit der 1918 neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik eine staatliche „Schutzmacht“ hat und Österreich sich sowohl im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye als auch im Brünner Vertrag dazu verpflichtet, Minderheitenrechte zu achten und auch Schulen für tschechischsprachige Kinder zu betreiben.
Wie für jede ethnische Minderheit gilt: Die „Wiener Tschechen“ gibt es nicht. Über 300 tschechische und slowakische Vereine „bilden das Rückgrat der Minderheit“10 und sind Abbild ihrer Vielfältigkeit. Um ein Beispiel zu geben: Mitte der 1920er Jahre zählen die tschechischen Sportvereine in Wien mehr als 10.000 Mitglieder. Sie unterscheiden sich durch ihre politische Orientierung und sind tschechisch-national,...