Silvia Ulrich/Ines Rössl
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
Schutz von Frauen vor Gewalt als transversales Schutzkonzept
1 Einleitung
Nach der Prävalenzstudie der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahr 2014 hat jede dritte Frau in der EU seit ihrem 15. Lebensjahr zumindest eine Form von körperlicher oder sexueller Gewalt erfahren1. Das Übereinkommen des Europarats2 (im Folgenden: das Übereinkommen) ist am 01. 08. 2014 völkerrechtlich in Kraft getreten und verpflichtet die Vertragsstaaten zu einer umfassenden und effektiven Gewaltschutzpolitik.
Der vorliegende Beitrag setzt das Übereinkommen in den Kontext einer kontinuierlichen Rechtsentwicklung im internationalen und regionalen Menschenrechtsschutz (siehe unten 2), skizziert Anwendungsbereich und Regelungsinhalte und stellt das transversale Schutzkonzept des Übereinkommens vor (siehe unten 3). Im Sinne des thematischen Fokus des Sammelbandes liegt der Schwerpunkt auf den Vorgaben des Übereinkommens für das Straf- und Strafprozessrecht, und zwar insb in Hinblick auf Opferschutz und Opferrechte (siehe unten 4). Im Lichte der Novellierung des österreichischen Strafprozessrechts (StPRÄG I 2016)3, die in Umsetzung der OpferschutzRL4 erfolgte, werden einige strafprozessuale Aspekte aus Perspektive des Übereinkommens näher beleuchtet (siehe unten 5) und abschließend wird der aus dem Übereinkommen erfließende Sorgfaltsmaßstab und dessen (Grundrechts-)Relevanz für die Rechtsanwendung thematisiert (siehe unten 6).
2 Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung
Der Schutz von Frauen vor Gewalt war lange Zeit eine große Leerstelle in der völkerrechtlichen Menschenrechtskonzeption. Die bürgerlichen und politischen Menschenrechte der ersten Generation waren va von männlichen Unrechtserfahrungen geprägt und stellten insb auf die Abwehr von politischer Repression ab5. Die Bekämpfung privater Gewalt wurde ursprünglich nicht als Teil der Staatenverantwortung gesehen. Dies war insb eine Folge der Überbetonung von Privatautonomie und führte zur Vernachlässigung staatlicher Schutzpflichten im privaten Bereich6. Va den Schutzbedürfnissen von Frauen im häuslichen Bereich und im sozialen Nahraum wurde nicht hinreichend Rechnung getragen. Auch die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)7 aus dem Jahr 1979 nahm auf dieses drängende Problem noch nicht explizit Bezug8. Erst Anfang der 1990er Jahre wurde geschlechtsspezifische Gewalt als eine Form von Diskriminierung anerkannt. Bahnbrechend für diese Entwicklung war der CEDAW-Ausschuss, der in teleologischer Interpretation herausgearbeitet hat, dass genderspezifische Gewalt gegen Frauen vom Diskriminierungsbegriff des Art 1 CEDAW erfasst ist9. Unterlässt ein Vertragsstaat die erforderliche Sorgfalt (due diligence) in der Verfolgung von privaten Gewaltakten, so verletzt dieser seine Schutzpflichten gegenüber den betroffenen Frauen. Dies wird als eine spezielle Form geschlechtsspezifischer Diskriminierung qualifiziert, die dem Staat als Menschenrechtsverletzung zurechenbar ist10.
Der EGMR hat dieses erweiterte Diskriminierungsverständnis des CEDAW-Ausschusses rezipiert und legt die akzessorische Gleichheitsgarantie des Art 14 EMRK mittlerweile auch in diesem Sinne aus.
Mit der Inter-Amerikanischen Konvention zur Verhütung, Bestrafung und Ausrottung von Gewalt gegen Frauen (Konvention Belém do Pará)11 wurde 1994 auf regionaler Ebene der erste Menschenrechtsvertrag geschaffen, der sich ausschließlich mit dem Schutz von Frauen gegen Gewalt befasst.
Auf universeller Ebene wurde mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs12 aus dem Jahr 2000 ein weiterer wichtiger Meilenstein im Kampf gegen Gewalt an Frauen verwirklicht. Von diesem universellen Strafrechtsregime sind auch geschlechtsspezifische Gewaltexzesse explizit erfasst und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw als Kriegsverbrechen pönalisiert13.
Neben der Schaffung spezifischer Schutznormen wurde die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in den jüngeren UN-Menschenrechtsverträgen auch als Querschnittsverpflichtung verankert, sodass frauenspezifische (Schutz)Bedürfnisse im Rahmen des jeweiligen sachlichen Anwendungsbereichs besonders zu berücksichtigen sind. In der Behindertenrechtskonvention14 aus dem Jahr 2006 ist dieser Regulierungsansatz sehr deutlich erkennbar. Der allgemeine Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau wird ua durch eine Querschnittsklausel erweitert, wonach die Vertragsstaaten die geschlechtsspezifischen Bedürfnisse von Frauen und Kindern bei der Verwirklichung des Schutzes vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch besonders zu berücksichtigen haben15.
Dieser Regelungsansatz wird auch mit dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels16 aus dem Jahr 2005 verfolgt, dessen Hauptzweck es ist, den Menschenhandel – unter Gewährleistung der Gleichstellung von Mann und Frau – zu verhüten und zu bekämpfen und einen umfassenden Opferschutzrahmen auszuarbeiten. Trotz des allgemeinen personalen Geltungsbereichs wird an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass der besonderen Gefährdungslage von Frauen und Mädchen durch Berücksichtigung besonderer (Schutz)Bedürfnisse Rechnung getragen werden soll17.
Einschlägige Rechtsakte der EU wie die RL zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels18 und die OpferschutzRL19 haben ebenfalls die Geschlechterdimension im Blick.
Bisher fehlte allerdings ein umfassendes Schutzkonzept zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen im europäischen Menschenrechtsschutz. Diese Schutzlücke schließt nunmehr das Übereinkommen mit seinen transversalen Achtungs-, Schutzund Gewährleistungspflichten.
3 Das Übereinkommen als europäischer und außereuropäischer Gewaltschutzstandard
Der Beitritt zum Übereinkommen steht nicht nur den 47 Mitgliedstaaten des Europarates, sondern auch der Europäischen Union offen, die seit der Vertragsänderung von Lissabon Völkerrechtssubjektivität besitzt. Beitrittsberechtigt sind darüber hinaus auch Nicht-Mitgliedstaaten, die sich an der Ausarbeitung der Konvention beteiligt haben (Art 75). Dies sind Kanada, USA, Mexiko, Japan und der Vatikan. Zudem kann das Ministerkomitee weitere Staaten zum Beitritt einladen (Art 76)20.
3.1 Beitrittsperspektive der EU
In der EU wurde bereits ein strukturierter Diskussionsprozess über einen möglichen Beitritt eingeleitet. Die Europäische Kommission hat im Herbst 2015 eine Roadmap21 veröffentlicht, in der die politischen und rechtlichen Implikationen eines Beitritts in ihren grundsätzlichen Dimensionen reflektiert werden. Ein Beitritt wäre nicht nur ein wichtiges politisches Signal, sondern hätte auch konkrete Bedeutung für die Rechtssetzung, die Auslegung und Umsetzung von einschlägigem Unionsrecht und die Förderungspolitik der EU, die im Sinne europäischer Gewährleistung stärker als bisher zur Verbesserung des Gewaltschutzes mobilisiert werden müsste.
Die von der EU geschlossenen internationalen Übereinkommen binden gem Art 216 Abs 2 AEUV die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten und haben Vorrang vor den Rechtsakten der EU22. Durch den Beitritt wären die Unionsorgane völkerrechtlich verpflichtet, die Gewaltschutzstandards des Übereinkommens innerhalb des unionsrechtlichen Kompetenzrahmens umfassend umzusetzen. Dies betrifft insb geschlechtsspezifische Maßnahmen der Nichtdiskriminierung (Art 19 und Art 157 Abs 3 AEUV), die justizielle Zusammenarbeit in Zivilrechtssachen (Art 81 AEUV) und in Strafsachen (Art 82 und 83 AEUV), Asyl und Einwanderung (Art 77–79 AEUV) und die Fortentwicklung der bestehenden gewaltschutzrelevanten Sekundärrechtsakte. Dazu zählen zB die Antidiskriminierungsrichtlinien im Hinblick auf sexuelle Belästigung23, die SchutzmaßnahmenVO24, die RL über die Europäische Schutzanordnung25, die OpferschutzRL, und im Bereich des Flüchtlingsrechts die StatusRL26, die VerfahrensRL27 und die AufnahmeRL28.
In den Erwägungsgründen der OpferschutzRL wird auf das Übereinkommen bereits Bezug genommen, die Spezifik geschlechtsbezogener Gewalt anerkannt und die besondere Betroffenheit von Frauen hervorgehoben29. Zu den Gewaltopfern mit besonderen Schutzbedürfnissen zählt die OpferschutzRL ausdrücklich auch Opfer von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt und Opfer von Gewalt in engen Beziehungen30.
3.2 Ratifikation durch Österreich
Österreich hat das Übereinkommen bereits 2014 ohne völkerrechtliche Vorbehalte iSd Art 78 ratifiziert31. Gem Art 50 Abs 2 Z 4 B-VG wurde jedoch ein innerstaatlicher Erfüllungsvorbehalt beschlossen, sodass die unmittelbare Anwendung der Konventionsbestimmungen durch Gerichtsbarkeit und...