Teil I:
Ursachen und Wirkungen
Kapitel 1:
Das tödliche Quartett
Seit Jahrzehnten ist die »Viererbande« schon zur Fahndung ausgeschrieben – es handelt sich um Killer, die zahllose Menschen in aller Welt auf dem Gewissen haben. Und sie schlagen immer häufiger zu, mal nur zu zweit oder zu dritt, ein andermal wieder in größerer Formation. Nach neuesten Hinweisen handelt es sich neben vier Haupttätern um mindestens drei oder vier Mittäter. Und – als ob es nicht schlimm genug wäre – sie können sich auf eine ganze Reihe von Sympathisanten und Hintermännern stützen. Das ganze Potenzial dieser organisierten Gewalt ist heute kaum noch zu überblicken. Man wird in Zukunft die Fahndungsanstrengungen gewaltig intensivieren müssen, um die Hintergründe und die genaue Vorgehensweise der äußerst kriminellen Bande zu entschlüsseln. Aber selbst über die Frage, wie man sie nun eigentlich nennen soll, findet man international immer noch keine Einigung …
So oder so ähnlich kann man die Entwicklung des Phänomens beschreiben, das in den 1950er-Jahren von den Experten erstmals skizziert und schließlich im Jahr 1984 als das »tödliche Quartett« auf einem Fahndungsplakat porträtiert wurde1: Bluthochdruck, erhöhte Blutfettkonzentrationen, erhöhter Blutzucker und erhöhte Insulinwerte! Es war damals auffällig häufig beobachtet worden, dass bei 40 bis 50 Prozent der Bluthochdruckpatienten gleichzeitig auch die anderen hier genannten Störungen vorlagen. Und man fand diese typischerweise bei Übergewichtigen. Der Münchner Professor Hellmut Mehnert bezeichnete angesichts der runden Tatsachen dieses medizinische Phänomen im Jahr 1968 als »Wohlstandssyndrom«. Damit hatte er voll ins Schwarze getroffen!
Gleichzeitige Hypertonie (erhöhter Bluthochdruck), Hyperlipidämie (erhöhte Blutfette), Hyperglykämie (erhöhter Blutzucker) und Hyperinsulinämie (erhöhte Insulinkonzentrationen) – das halten selbst die stärksten Gefäße nicht lange aus, ein schwacher Kreislauf umso weniger. Eines Tages kommt es fast zwangsläufig zu gravierenden Folgeerkrankungen …
In Europa beobachtet man nach Jahren des Rückgangs oder der Stagnation seit einiger Zeit tatsächlich wieder einen Anstieg bei den Herzinfarktraten.2 Und im Februar des Jahres 2000 stellte Dr. Ruth Strasser an den »Dresdener Herz-Kreislauf-Tagen« erschütternde Daten ihrer Studie aus Deutschland vor: Immer mehr blutjunge Menschen, im Alter zwischen 20 bis 25 Jahren, erleiden einen Herzinfarkt! Wie ist das erklärbar? Was hat sich verändert? Essen wir vielleicht immer mehr Fett? Eindeutig nein! Immer mehr Butter, Eier oder Fleisch? Keineswegs, das Gegenteil ist der Fall. Der Konsum dieser Nahrungsmittel hat sogar abgenommen. Ist der Cholesterinspiegel derartig gestiegen? Sicher nicht! Die üblichen Verdächtigen verfügen über ein unerschütterliches Alibi. So liegt der Verdacht nahe, dass »es« erneut zugeschlagen hat – das »tödliche Quartett«, manchmal auch als »Trio« oder als »Sextett« beschrieben, je nachdem, wie viele Täter da gerade beim Killen mitgemacht haben.
Professor Gerald Reaven von der Stanford-Universität in Kalifornien stellte im Jahr 1988 die These auf, die Insulinresistenz sei das Grundgerüst, auf dem sich Störungen wie Hypertonie, Hyperlipidämie, Hyperglykämie und Hyperinsulinämie ausbilden. Weil die genaueren Zusammenhänge aber damals nicht annähernd bekannt waren, nannte er dieses Phänomen Syndrom X.3 Dieser Begriff ist vor allem im englischen Sprachraum vorherrschend. Im Deutschen verwendete man lange den Begriff Metabolisches Syndrom, was etwa dasselbe bedeutet. International hatte sich zuletzt aber der Begriff Insulinresistenz-Syndrom (IRS) durchgesetzt. Es gibt inzwischen noch drei oder vier weitere Bezeichnungen, die in etwa das Gleiche definieren, aber alle auch in irgendeiner Hinsicht unzulänglich sind. Ich habe mich entschieden, diesen Expertenstreit auszublenden und in diesem Buch wegen der Kürze und der geheimnisvollen Würze den Begriff Syndrom X zu verwenden.
Im Jahr 1998 gelang schließlich der Arbeitsgruppe um Professor Reaven der endgültige Beweis, dass Insulinresistenz bzw. die chronisch erhöhten Insulinwerte tatsächlich der zugrunde liegende Defekt ist, während alle anderen Störungen und Risikofaktoren für Herz und Kreislauf sich erst davon ableiten.4
Insulin ist ein Hormon, das von der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) produziert und von dort in die Blutbahn abgesondert wird. Es dient als Schlüssel, der die Zellwände öffnet, damit Glukose (Traubenzucker) aus dem Blut einströmen und in den Zellen zur Energiegewinnung verwertet werden kann. Insulinresistenz bezeichnet demnach die eingeschränkte Fähigkeit der Körperzellen, Zucker aus dem Blut aufzunehmen. Leider zeigt Insulinresistenz keine Symptome. Man merkt als Betroffener gar nichts davon. Erst mittels einer speziellen ärztlichen Blutuntersuchung lässt sich dieser Defekt feststellen (siehe Kapitel 2).
Wenn die Körperzellen gegenüber den Insulinsignalen stumpf geworden sind, muss entsprechend mehr Insulin von der Bauchspeicheldrüse ins Blut ausgeschüttet werden, um die nötige Signalstärke wieder zu erreichen und den Zucker vom Blut in die Zellen zu schleusen. Die Insulinresistenz der Zellen kann folglich zunächst durch ständig erhöhte Insulinspiegel im Blut kompensiert werden. Wenn der Blutzuckerspiegel dadurch immer im Normbereich bleibt, ist man zwar von einer Hyperinsulinämie betroffen, verfügt aber noch über eine normale Glukose-Toleranz.
Je mehr Körperzellen zu versorgen sind, desto mehr Insulin wird benötigt. Wenn jemand Hunderttausende von Fettzellen im Lauf seiner besten Jahre aufbaut, benötigt er immer mehr Insulin für diesen Körper. Übergewichtige müssen also ständig mehr Insulin produzieren als Schlanke. Da es immer mehr Dicke auf der Welt gibt, ist es auch kein Wunder, wenn bei immer mehr Menschen die Kapazität der Bauchspeicheldrüse zur Insulinproduktion nicht ausreicht für den lebenslangen Bedarf. Weniger Insulin heißt dann geringere Kompensationsmöglichkeiten. Daraus resultieren erhöhte Blutzuckerwerte. Man spricht dann entsprechend von einer Glukose-Intoleranz. Je geringer die Insulinausschüttung, desto höher wird der Blutzuckerspiegel sein. Je nach Höhe spricht man hier noch von Glukose-Intoleranz oder schon von »Zuckerkrankheit«. Wenn die Insulinproduktion ganz versiegt, entwickelt sich der voll ausgeprägte insulinabhängige Diabetes mellitus Typ 2 (siehe Seite 27).
Wie kommt es zu dieser Fehlentwicklung? Da Insulinresistenz »nur« zu etwa 30 Prozent genetisch bedingt ist, müssen Umwelt und Lebensstil den Großteil erklären. Das heißt zwar, dass wir im Dunkeln tappen, aber eine gute Chance haben, der Killerbande auf die Schliche zu kommen, um uns dann von dem Übel befreien zu können. Die heißesten Fährten – das kann ich versprechen – werden wir in diesem Buch verfolgen.
Die bekannteste und am besten erforschte Folge des Syndrom X ist die Zuckerkrankheit. Diabetes mellitus Typ 2, früher einmal die Erkrankung älterer, wohlgenährter Herrschaften, entwickelt sich inzwischen zu einer weltweit grassierenden Epidemie. So viel »Zucker« ist nicht nur eine Folge der höheren Lebenserwartung und der demografischen Entwicklung, der sogenannten Alterspyramide. Nein, es gibt auch eine stetig wachsende Millionenschar von Betroffenen im mittleren Alter. Und selbst immer mehr junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren leiden unter »Alterszucker« bzw. Typ-2-Diabetes.5 Das ist nicht mit dem »jugendlichen Diabetes« bzw. dem Typ-1-Diabetes zu verwechseln, der ausschließlich in jungen Jahren anzutreffen ist (siehe Exkurs 1). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am Ende des Jahrtausends Zahlen erhoben. Sie kam auf weltweit 135 Millionen Zuckerkranke. Dabei dürfte die Dunkelziffer, also die Zahl der Ahnungslosen, immens sein. Jedenfalls rechnet die WHO beim gegenwärtigen Trend bis zum-Jahr 2025 mit rund 300 Millionen Diabetikern auf der Welt.
Was bedeutet »zuckerkrank«?
Eine besonders häufige Folge der Insulinresistenz ist Diabetes mellitus – die Zuckerkrankheit. Bei den Erkrankungsursachen muss man hier aber genau zwischen zwei verschiedenen Typen unterscheiden:
Typ-1-Diabetiker sind Menschen mit einem angeborenen absoluten Insulinmangel. Nach heutigem Wissen müssen sie keine Diät halten, sondern eine dem Kohlenhydratanteil der Nahrung entsprechende Dosis Insulin spritzen. Ohne Insulin entgleist ihr Zuckerhaushalt vollkommen; als Folge davon setzt die gefürchtete Zerstörung der Blutgefäße in Herz, Nieren und Augen bereits in jungen Jahren ein, was meist auch zu einem frühen Tod führt. Fünf bis zehn Prozent aller Diabetiker sind dem Typ 1 zuzuordnen.
Typ-2-Diabetiker haben dagegen nur einen »relativen Insulinmangel«. Diese Menschen können bei einem hohem Zuckerangebot nur etwa halb so viel Glukose in die Zellen aufnehmen wie gesunde. Beim Typ-2-Diabetiker ist die Insulinwirkung an der Zelle herabgesetzt. Der Grund ist ein Defekt an der Andockstelle bzw. bei der Weiterleitung dieses Hormons. Der Körper versucht dieses Manko, diese »Insulinresistenz«, durch vermehrte Insulinausschüttung der Bauchspeicheldrüse zu kompensieren. So kann der Zuckerhaushalt je nach dem Grad der Kompensation wieder »normal« werden oder nur »leicht gestört« sein. Jedenfalls ist man im Zustand des gestörten Zuckerstoffwechsels, der sogenannten Glukose-Intoleranz, noch nicht »zuckerkrank«.
Als...