Einführung und Überblick
Naturethik und Schöpfungsvertrauen bilden die beiden (elliptischen) Pole dieses Buches, um die herum und in die hinein sich die folgenden sechs Kapitel bewegen. Angesichts der anthropogenen Naturkrise, die der Industrialismus der Moderne lange Zeit hervorgerufen und die sich in den letzten Jahrzehnten rapide verschärft und globalisiert hat, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur auf verschiedenen Ebenen gänzlich neu. Denn insbesondere eine rein instrumentelle und zweckrationale Einstellung zur Natur als beliebig belastbarer Schatz von unerschöpflichen Ressourcen, die sich in der westlichen Moderne ausprägte, ist im Zeitalter des Anthropozäns weltweit zur dominanten Mentalität geworden und prägt zutiefst das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen. Zwar ist das Wissen um die anthropogenen Ursachen der Naturkrise seit Ende des 20. Jh.s enorm gewachsen und das allgemeine Krisenbewusstsein ist mittlerweile sehr breit geworden. Auch sind längst geeignete Konzepte erarbeitet und Maßnahmen entwickelt worden, um der Beschleunigung der Naturkrise wirksam zu begegnen und einem nachhaltigen Umgang mit der Natur den Weg zu bereiten, der ihre Reproduktivität und ihre Resilienzen in eine dauerhafte Balance mit den menschlichen Nutzungsbedürfnissen bringt. Hierzu haben die säkulare Naturethik sowie verschiedene Nachhaltigkeitstheorien und Strömungen von „political ecology“ theoretisch und die Umwelt- und Naturschutzbewegungen praktisch beigetragen. Die Gefährdungen haben also auch Gegenkräfte der Rettung mobilisiert.
Zugleich aber wissen und erfahren wir, dass es daran fehlt, diese Maßnahmen und Konzepte energisch umzusetzen. Einen wesentlichen Hinderungsgrund, warum dem fortgesetzten selbstdestruktiven Raubbau an der Natur nicht tatkräftig Einhalt geboten wird, sehen wir u. a. besonders in der zweckrationalen Mentalität der Moderne und den instrumentellen Grundeinstellungen der Menschen in Ansehung der sie umgebenden Natur. Sie zu hinterfragen und sich im Medium einer Kritik der instrumentellen Vernunft neu auf die elementaren Beziehungen zwischen Mensch und Natur zu besinnen, ist deshalb ein Hauptziel unseres Buches. Diese Reflexion ist für eine säkulare Naturethik vor allem deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie auch die mentalen Haltungen und Motivationshintergründe zu bedenken hat, aus denen heraus naturethische Verantwortung wahrgenommen und praktiziert wird (oder eben nicht).
Hinsichtlich dieser Motivationshintergründe wird auch die Frage debattiert, ob und wenn ja welchen Einfluss religiöse Dogmen und Einstellungen auf naturvergessene und naturethisch verantwortungslose Lebensorientierungen und Verhaltensweisen haben. In dieser Debatte, die sich vornehmlich auf den jüdisch-christlichen und abendländisch geprägten Kulturkreis sowie seine säkularen Ausprägungen in der westlichen Moderne beschränkt, spielt der sog. „Herrschaftsauftrag“ im Eröffnungskapitel der alttestamentlichen Bibel schon immer eine herausragende, seit geraumer Zeit jedoch auch eine höchst umstrittene Rolle. Denn aus seiner populären Kurzfassung: „Machet euch die Erde untertan“ wurde über viele Generationen hinweg eine uneingeschränkte Lizenz zur Nutzung und Ausbeutung der Natur abgeleitet. Und der nach Gen 1f. als Ebenbild geschaffene Mensch sah sich fraglos als Mittelpunkt und „Krone der Schöpfung“, auf dessen Willen und Interessen allein die von Gott geschaffene Natur zugeschnitten sei. Lynn White, Carl Amery und viele andere haben dieses wirkmächtige und weithin auch säkularisierte Dogma des Christentums zu Recht für die anthropozentrische Naturvergessenheit der Moderne und die ausbeuterische Naturzerstörung des westlichen Industrialismus wesentlich verantwortlich gemacht.
Insbesondere Lynn White hat seine Kritik mit dem Postulat verbunden, to rethink our own religion. Dieses „rethinking“ bildet den zweiten Schwerpunkt unseres Buches, der jedoch nicht bei dogmen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Strömungen der Christentumsgeschichte ansetzt, sondern bei den maßgeblichen Schöpfungstexten des Alten Testaments und insbesondere bei der Schöpfungserzählung von Gen 1f. In diesen biblischen Texten kommt eine ursprungsutopische Sichtweise auf die Natur als Schöpfung Gottes zur Sprache, aus denen ein Grundvertrauen in die Natur als gute Gabe Gottes und damit ein tiefes Schöpfungsvertrauen spricht. Unser Ziel ist es, die tiefen Missverständnisse der bisherigen Deutung der Schöpfungstexte als Unterwerfungsauftrag aufzuklären und diese Deutung von Grund auf zu revidieren. Im Rahmen einer das gesamte Buch übergreifenden Übersetzungsarbeit wollen wir einerseits in Kapitel IV diese biblisch-theologische Sichtweise der Natur als Schöpfung Gottes und ihre naturethische Relevanz anhand von Gen 1f. im lesehermeneutischen Detail explizieren. Andererseits sollen in Kapitel V moderne Gesichtspunkte einer säkularen Naturethik etsi deus non daretur thematisiert werden. Im Sinne einer Horizontverschränkung werden diese biblisch-religiösen und säkularen Perspektiven im Schlusskapitel VI aufeinander bezogen und zusammengeführt.
Gegenüber dem Achtergewicht der Kapitel IV–VI dienen die ersten drei Kapitel primär der Vorbereitung und Hinführung zu dieser Horizontverschränkung. Kapitel I stellt das Projekt der Übersetzungsarbeit auf der Grundlage und im Rahmen der Diskurstheorie von Jürgen Habermas vor. Insofern möchten wir die Idee der Übersetzungsarbeit an einem paradigmatischen Fall durchführen. Kapitel II beleuchtet forschungsgeschichtlich die Lynn-White-Debatte und ihre Auswirkungen auf die Umweltethik und die neuere Schöpfungstheologie. Diese Kapitel haben wir bewusst kurz gehalten. Die ethischen Hintergründe einer Diskurstheorie praktischer Vernunft können und sollten von Leserinnen anhand der einschlägigen Literatur nachvollzogen werden. Kapitel III erläutert zum einen das Gottesverständnis einer performativen Theologie der Bibel in Auseinandersetzung mit säkularen Kontingenzphilosophien unter religions-, geschichts- und existenzphilosophischen Gesichtspunkten. Zum andern führt das Kapitel in Auseinandersetzung mit Habermas in den rituell-performativen Grundcharakter der biblischen Literaturbildung als textgebundener Sonderform religiöser Symbolpraxis ein und widmet sich zur Vorbereitung auf Kapitel IV dem spezifischen Geltungssinn religiöser Rede in Erzähl-, Gebets- und Bekenntnistexten.
In diesem vierten Kapitel erfolgt unter Rekurs auf neuere bibelwissenschaftliche Erkenntnisse und auf der Basis einer Lesehermeneutik der Behutsamkeit eine Neulektüre der Schöpfungsgeschichte von Gen 1f., die als Sechs-Tage-Werk Gottes erzählt wird und auf den Höhepunkt der Sabbatruhe Gottes am siebten Tag zuläuft. Die Erkenntnisse aus dieser Neulektüre lassen keinen Zweifel daran, dass die Doktrin des sog. Unterwerfungsauftrags nicht nur oberflächlich zu modifizieren, sondern von Grund auf obsolet geworden ist und keinerlei Stütze in Gen 1f. hat. Vielmehr fördert diese Neulektüre eine gegenüber der herkömmlichen Doktrin neue Sichtweise auf Natur als Schöpfung und auf die Aufgabe der Menschen als Mandatare zu Tage, die sich zwanglos mit zentralen Fragestellungen der säkularen Naturethik verbinden lässt. Diesen Verbindungen widmet sich dann das Kapitel V und untersetzt sie teilweise auch mit konkreten naturschutzpolitischen Forderungen.
Vor diesem Hintergrund erfolgt schließlich in Kapitel VI die Verschränkung der biblischen mit der naturethischen Perspektive. Die Übersetzungsarbeit führt zum zentralen Ergebnis, dass für das Gelingen einer nachhaltigen Naturnutzung und Entwicklung der Weltgesellschaft sich – wie schon vielfach betont wurde – auch die Mentalität und unsere Einstellungen zur Natur radikal ändern müssen, und zwar in dreifacher Hinsicht. Zum einen haben wir neu zu lernen, die Natur als unverfügbare (Schöpfungs-)Vorgabe zu sehen und mit ihr respekt- und verantwortungsvoll umzugehen, und deshalb zum anderen, die Erde uneingeschränkt mit nicht-menschlichen Lebewesen bzw. „Geschöpfen“ kohabitativ zu teilen. Drittens ist von Generation zu Generation immer wieder neu zu lernen, uns selbst als kontingente und unverfügbare Lebewesen in unserer „Geschöpflichkeit“ zu verstehen und die mentalen Prekaritäten der conditio humana anzunehmen, um unserer naturethischen Verantwortung gerecht zu werden. Unter dem Gesichtspunkt der Selbstthematisierung des Menschen als ebenbildlich gedachtes Geschöpf Gottes werden diese Prekaritäten in den Schlussabschnitten des sechsten Kapitels sowohl aus säkularer als auch aus biblischer Perspektive reflektiert. Da sie unabweislich der Rolle eines Mandatars eingeschrieben sind, müssen sie aus religiöser Sicht ebenso wie das Schöpfungs- und...