Teil I Die Vision
1 Netzwerkmedizin als Antwort auf die anstehenden Herausforderungen
1.1 Warum es die Politik nicht schafft
„Krankenhaus-Reform? So nicht!“ So lautet der Slogan einer Kampagne, mit der die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Sommer 2015 ihrer „breiten Kritik und großen Empörung“ gegen die geplante Krankenhausreform 2015 der Bundesregierung Ausdruck verliehen hat. Mal ist auf der mehrteiligen Plakatserie ein Neugeborenes abgebildet, darüber die Aussage „Wir kümmern uns. Sorgfältig und verantwortungsvoll.“ Mal ist das Motiv ein alter Mann im Krankenhausbett im Gespräch mit einer Krankenschwester, darüber steht „Wir geben Menschen Wärme. Mit mehr als 400.000 Pflegekräften.“ Ein drittes Plakat zeigt einen Arzt vor zwei Computerbildschirmen, darüber ist zu lesen „Wir geben Menschen Hoffnung. Mithilfe moderner Technik.“ Drei emotionale Botschaften, denen auf jedem Plakat in riesigen Buchstaben die Aussage gegenübergestellt wird: „Aber die Politik lässt uns im Stich.“ Weil sie nicht die nötigen Mittel für Investitionen bereitstelle. Weil sie am Patienten spare. Weil das Personal in den Kliniken noch mehr belastet werde.1 Die Krankenhausreform sei „absurd“ heißt es in begleitenden Zeitungsanzeigen.2
Die auf den Plakaten gezeigten Menschen sind nicht nur Patienten, Ärzte und Pfleger, sondern auch Wähler, die anderen Wählern und vor allem der Politik hier das Signal senden: „So nicht!“ Das Ziel von politischen Parteien wiederum ist die Maximierung ihrer Wählerstimmen. Politische Maßnahmen wie das Krankenhausstrukturgesetz oder das Rentenpaket aus 2014 werden daher unter dem Aspekt der so genannten „politischen Rendite“ bewertet. Die regierenden politischen Parteien haben die Möglichkeit, gesellschaftliche Ressourcen zum Zweck der Optimierung ihrer politischen Rendite einzusetzen. Ihr Ziel ist der Machterhalt oder Machtausbau. In Bezug auf gesundheitspolitische Maßnahmen muss die Politik dabei darauf achten, dass manche Leistungserbringer im Gesundheitswesen durch ihre Tätigkeit direkt am Patienten einen guten Zugang zu einem Großteil der Wählerschaft haben. So können bei einer Milliarde Arztkontakten jährlich niedergelassene Ärzte die Bevölkerung sehr gut erreichen. Gleiches gilt für Krankenhäuser, in denen jedes Jahr 19 Millionen stationäre und etliche ambulante Fälle gezählt werden, sowie für Apotheken.
Die politische Rendite ist nicht unbedingt deckungsgleich mit der volkswirtschaftlichen Rendite. Die politische Rendite definiert sich über die Zahl der Wählerstimmen, die für die eigene Partei gewonnen werden kann. Es ist dabei zunächst unerheblich, ob die dazu verbrauchten Ressourcen wieder erwirtschaftet werden können oder nicht. Die volkswirtschaftliche Rendite definiert sich über die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt, die durch eine Maßnahme erreicht werden kann. Sie bezieht unter anderem auch die Kosten einer Maßnahme mit ein. Oft verteilen sich die Kosten auf sehr viele Menschen, während der Nutzen einer kleineren Gruppe zu Gute kommt. Gerne werden die Kosten statt auf die heute lebenden Menschen auch auf zukünftige Generationen geschoben, indem man den noch Ungeborenen eine entsprechende Schuldenlast oder künftige Verpflichtungen aus den Sozialversicherungen überträgt. Insbesondere beinhaltet die volkswirtschaftliche Rendite mindestens den Erhalt, idealerweise sogar die Ausweitung der eingesetzten gesellschaftlichen Ressourcen.
Zur Illustration dienen folgende Beispiele. Mit dem Rentenpaket 2014 hat die Große Koalition die Möglichkeit der Frühverrentung für in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte geschaffen. Wer 45 Jahre Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt hat, kann mit 63 Jahren ohne Abzüge in Rente gehen. Damit werden die Anspruchsberechtigten gegenüber anderen Beitragszahlern besser gestellt, die nur unter Abzügen früher in Rente gehen können. Die angesammelten Rentenanwartschaften der Anspruchsberechtigten werden also höher bewertet als die der anderen Versicherten – zu Lasten der Gesamtheit aller Beitragszahler. Die Politik verspricht sich dadurch Wohlwollen bei den Begünstigten und hofft, dass das Gros der Beitragszahler nicht durchschaut, dass sie für diesen Zweck zur Kasse gebeten werden. Im Fall der Frühverrentung kommt sogar ergänzend ein beträchtlicher volkswirtschaftlicher Schaden hinzu, weil dem Arbeitsmarkt nötige Fachkräfte entzogen werden.
Ähnlich verhält es sich mit der zeitgleichen Ausweitung der Mütterrente auf Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben. Sie führt zu einer hohen Belastung der Beitragszahler, ohne dass volkswirtschaftlich positive Effekte zu erwarten wären. Die politische Rendite mancher Maßnahmen kann auch negativ ausfallen. So hatte die Umsetzung der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Schröder zwar sichtbar positive volkswirtschaftliche Effekte gebracht. Allerdings konnte die damalige Koalition ihre Amtszeit nicht mehr regulär beenden. Es wurden vorzeitig Neuwahlen angesetzt, die zu einer Niederlage der bis dahin regierenden Koalition führte. Die politische Rendite der Agenda 2010 war also in der Rückschau negativ.
Allerdings vermag es keine Regierung, dauerhaft gegen ökonomische Realitäten Politik zu machen. Sollten viele ihrer Maßnahmen zwar eine positive politische Rendite, aber negative ökonomische Rendite erzielen, sägt die Politik an dem Ast, auf dem sie selbst sitzt. Ohne eine produktive Volkswirtschaft werden die Ressourcen fehlen, um politische Maßnahmen finanzieren zu können. Auch erkennt ein Teil der Wählerschaft, dass viele politische Versprechungen und Wohltaten volkswirtschaftliche Kosten nach sich ziehen – selbst wenn sie persönlich vielleicht sogar Nutznießer einer politischen Maßnahme sind. Das dürfte aber nur eine Minderheit sein. Für politische Mehrheiten reicht sie in der Regel nicht.
Die Politik steckt also in dem ständigen Dilemma, kurzfristig für den Machterhalt kostenträchtige Maßnahmen beschließen und umsetzen zu wollen und gleichzeitig langfristig die ökonomische Basis damit nicht zu gefährden. Sie wird daher in der Regel ökonomisch notwendige, aber unpopuläre Maßnahmen nur sehr behutsam angehen. Für die Wählerschaft schmerzhafte Veränderungen wird sie nur in geringer Dosis planen, um den Widerstand klein zu halten bzw. über die Zeit zu strecken. Bestehende Besitzstände wird sie möglichst nicht antasten, weil sonst mit massiven Widerständen zu rechnen wäre. Große Schritte, gar revolutionäre Veränderungen wird sie wegen des damit verbundenen hohen politischen Risikos scheuen.
Dies gilt auch und erst recht für das Gesundheitswesen. Auf bahnbrechende Reformen und „große Würfe“ wird man vergeblich warten. Es wird stets in Trippelschritten vorwärts gehen. Zwar kann man ein Ziel auch auf diese Weise ansteuern und irgendwann erreichen. Die Frage ist aber, ob erstens die Zeit dafür reicht und ob zweitens auf dem Weg der kleinen Schritte der eine oder andere effizienzsteigernde Pfad gar überhaupt jemals erreicht werden kann. Man kann zwar in kleinen Schritten „gemütlich“ über eine Wiese laufen und hoffnungsvoll aufs Ziel am anderen Ende blicken. Wenn aber ein breiter Bach durch die Wiese führt und man nicht bereit ist, mit Anlauf in einem Satz über eben diesen Bach zu springen, wird man das andere Ende nicht erreichen. Genau das passiert im Gesundheitswesen: Offiziell verkündet die Politik zwar, im Gesundheitswesen könne jeder alles bekommen, inoffiziell aber müssen die Patienten mangels ausreichender Ressourcen oder Produktivität eine Rationierung der Leistungen befürchten oder teilweise bereits in Kauf nehmen.
1.2 Netzwerkmedizin als unternehmerischer Impuls
Wenn die Politik wie oben gezeigt aus strukturellen Gründen, wegen mangelnder Weitsicht und mangelndem politischen Mut nicht dazu in der Lage ist, das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfähig zu machen, könnte eine unternehmerische Lösung, wie sie Eugen Münch mit seinem Konzept der Netzwerkmedizin in die Diskussion eingebracht hat, die Antwort sein. Münchs Konzept ist keines, das – wie manche mit Blick auf das US-amerikanische Gesundheitssystem vorschnell urteilen – auf eine simple Deregulierung setzt mit der Folge, dass sich eine Zwei- oder Mehr-Klassen-Medizin verfestigt. Im Gegenteil postuliert das Konzept, allen Menschen den Zugang zu bester Gesundheitsversorgung zu bieten und die mehr oder weniger versteckte Rationierung medizinischer Leistungen, die gerade Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen trifft, zu überwinden. Der Grundgedanke des Konzepts ist es, dass Rationierung in Form langer Wartezeiten und ungleicher Zugangsmöglichkeiten zu medizinisch-technischem Fortschritt in einem der vermögendsten Länder der Welt keine Option sein darf. Das Modell setzt auf einen vom Staat regulierten und von den Medien und der Öffentlichkeit kritisch begleiteten Wettbewerb, in dem konsequent die Qualität der medizinischen Leistung belohnt wird und nicht die Menge, wozu das heutige System einen Anreiz setzt. Auch soll der Staat durch kartellrechtliche Vorgaben dafür sorgen, dass ein einzelnes Netzwerk nicht mehr als etwa 15 % des Marktes beherrschen darf und damit der Wettbewerb um Qualität dauerhaft sichergestellt wird.
Die Medizin steht unter einem wachsenden ökonomischen Druck. Zum einen führt der Übergang der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter ab der Mitte der 2020er Jahren zu einer steigenden Zahl an Patienten, die altersbedingt mehr Gesundheitsleistungen nachfragen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Beitragszahler ebenso wie die Zahl qualifizierter Fachkräfte im Gesundheitssystem. Hinzu kommen die...