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E-Book

Neue Fischer Weltgeschichte. Band 10

Zentralasien

AutorJürgen Paul
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheNeue Fischer Weltgeschichte 10
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783104024103
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Steppenkrieger und Seidenstraße: Das innere Asien als Schauplatz der Weltgeschichte Ein historischer Interaktionsraum par excellence steht im Fokus von Band 10 der Neuen Fischer Weltgeschichte: In Zentralasien stießen vom Altertum bis zur Gegenwart Kräfte aus allen Himmelsrichtungen zusammen, strömten Völker und Waren hindurch, entstanden und verfielen Reiche sagenhaften Ausmaßes. Zwischen dem Kaspischen Meer und der Wüste Gobi, zwischen Gebirgen, Wüsten und Steppen spannt der Islamwissenschaftler Jürgen Paul den Bogen seiner spannenden Erzählung. Die »Neue Fischer Weltgeschichte« ist die erste umfassende Universalgeschichte des 21. Jahrhunderts. Ihr stringentes Konzept setzt Maßstäbe, die Lesbarkeit ihrer Darstellungen erfüllt höchste Ansprüche. Die 21-bändige Reihe wird - wie ihre legendäre Vorgängerin - Standardwerk auf Jahre hin sein: in Schule, Studium, Weiterbildung, für alle wissenshungrigen Leserinnen und Leser.

Jürgen Paul ist Professor für Islamwissenschaft am Orientalischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Leseprobe

Einleitung: Die Weltregion Zentralasien


A Voraussetzungen


1. Raum


Zentralasien hat ebenso wie viele andere kulturelle Großregionen keine natürlichen Grenzen. Die vorgeschlagenen Grenzen differieren im Fall Zentralasiens sogar noch stärker als bei anderen Räumen. Die Bezeichnung Zentralasien wird für unterschiedliche Räume verwendet und steht dabei neben anderen Begriffen. Weder der Raum als solcher ist demnach klar abgegrenzt, noch ist der Begriff selbstverständlich.

Zentralasien Südwest

Zentralasien Nordwest

Zentralasien Zentrum

Zentralasien Osten

Im vorliegenden Band wird aus pragmatischen Gründen Zentralasien als derjenige Teil Asiens verstanden, in dem heute die Staaten Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan (die fünf zentralasiatischen GUS-Republiken) liegen. Hinzu kommt Afghanistan im Süden und die Mongolei im Osten. Zu Zentralasien gerechnet werden in diesem Band ferner Gebiete im Süden Sibiriens, die politisch zur Russischen Föderation gehören, sowie die Autonome Region Xinjiang, die politisch ein Teil Chinas ist. Die Geschichte Tibets wird in diesem Band nicht behandelt, obwohl Tibet oft ebenfalls zu Zentralasien gerechnet wird.

Dieser Teil Asiens wird von vielen Autoren weiter untergliedert. Aus der sowjetischen Terminologie herkommend, ist eine Unterteilung in Mittelasien (Srednjaja Azija) und Zentralasien (Central’naja Azija) nicht ungewöhnlich. In diesem Fall wird unter Mittelasien die Region verstanden, welche die vier zentralasiatischen Sowjetrepubliken umfasst (Kasachstan wird nicht zu »Mittelasien« in diesem Sinn gerechnet); Zentralasien bezeichnet dann die nicht zur UdSSR gehörigen Regionen in China und der Mongolei. Afghanistan lag in der sowjetischen Terminologie außerhalb Zentralasiens.

Im heutigen Sprachgebrauch hat sich, wohl auch durch das Englische beeinflusst, Zentralasien (Central Asia) für die Gesamtregion weitgehend durchgesetzt, Mittelasien kommt gelegentlich als Synonym für Zentralasien vor, wird aber nur noch selten als Bezeichnung für eine eigene Region verwendet.

Anstelle von Zentralasien oder Mittelasien findet man auch Innerasien (Inner Asia, noch präziser Inner Eurasia), womit einerseits wohl die Vorstellung der Entfernung von den Meeren, eben im Inneren eines Kontinents, beibehalten, aber diejenige von Zentralität abgeschwächt wird; Inner Eurasia betont außerdem das Kontinuum zwischen Asien und Europa, das gilt natürlich auch für Eurasia oder Eurasien. Besonders für den Steppengürtel kann die Abgrenzung zwischen den beiden Kontinenten auf der Höhe des Urals nur konventionell getroffen werden. Inner Asia wird von Central Asia insofern unterschieden, als es die gesamte Region, Central Asia jedoch den südwestlichen Teil zusammen mit den in Iran und Afghanistan liegenden benachbarten Landschaften meint.

Historische Bezeichnungen für die Region oder Teile davon – meistens die westlichen – gibt es mehrere; einige davon drücken eine westliche Sicht aus. Am prominentesten war Turkestan, gelegentlich unterteilt in Russisch- (oder West-) Turkestan und Chinesisch- (oder Ost-) Turkestan; Afghanisch-Turkestan trifft man nur selten. Turkestan wurde auch für eines der russischen Generalgouvernements in Zentralasien gebraucht. Die Bezeichnung als solche ist alt; sie findet sich schon bei den arabischen Geographen des 9. und 10. Jh. n.Chr., gemeint war die bereits damals von türkischen Nomaden bevölkerte Steppenregion östlich und nördlich des Syr Darja. Der Begriff erfuhr durch die russische Kolonialmacht eine Neubelebung. Er wurde auch von der pan-türkischen Bewegung übernommen. Denn er kam den Vordenkern dieser Bewegung gelegen, weil er die Dominanz des turkophonen Elements in der Region unterstreicht (und so z.B. die persischen Anteile in Geschichte und Gegenwart herunterspielt). Eine türkische Variante (statt Türkistan mit der ursprünglich iranischen Endung -stan) ist türk ili, beides bedeutet »Land der Türken«.

In der Zuordnung der jeweiligen als Turkestan bezeichneten Regionen zu den politischen Einheiten Russland, China bzw. Afghanistan wird der geopolitische Aspekt des Begriffs deutlich. Er transportiert die geopolitische Aufteilung Asiens am Ende des 19. Jahrhunderts, als Turkestan als russisches bzw. chinesisches, Südasien dagegen als britisches Einfluss- und Herrschaftsgebiet gesehen wurde. Insofern hat der Begriff eine geopolitische Komponente.

Der Blickrichtung von Westen her verdankt sich der Begriff »Turan« für die nordöstlich an Iran angrenzenden Gegenden (von unbestimmter Ausdehnung); Turan ist der – nicht wertfreie – Antipode zu Iran, aus iranischer Perspektive das Land der anderen, der Gegenpol zu Iran, dem »Land der Reinen«, was die ursprüngliche Bedeutung von Iran ist. Eine ähnliche Sicht aus Westen verrät die Bezeichnung Transoxanien (aus dem arab. Māwarānnahr, wörtlich »Was hinter dem Fluss [liegt]«) für die Landschaft »jenseits des Oxus«, d.h. des Amu Darja. Heute ist sie eine in der Region gebräuchliche Bezeichnung für das Land zwischen Amu Darja und Syr Darja.

Ein weiterer, manchmal parallel zu Turkestan gebrauchter und heute nicht mehr üblicher Begriff ist Tatarei oder Tartarei. Damit war die Oasenzone des westlichen Zentralasiens gemeint, und man konnte so die Große und die Kleine Tatarei unterscheiden – Letztere bezeichnete Xinjiang, das daneben auch als Kleinbucharien auftauchte. Hier handelt es sich um eine nicht ganz unschuldige Fehlbezeichnung. Die Tataren sind ein turkophones Volk, das in vielen Regionen der Russischen Föderation und Zentralasiens verbreitet ist, mit Zentren in der Wolgaregion und auf der Krim und in Diaspora-Situationen in Sibirien und Zentralasien, dabei ist Tatar durchaus auch eine Selbstbezeichnung (ursprünglich eines mongolischen Volkes). Gleichzeitig wurde der Begriff Tataren in Europa vor allem für die Mongolen (als Eroberer und Feinde der europäischen Zivilisation) benutzt; die lautliche Nähe zum – ursprünglich griechischen – Wort tartaros für die Unterwelt oder Hölle legte die »Verwechslung« nahe. Es handelt sich nicht um eine sprachliche Ungenauigkeit, sondern um eine mehr oder weniger bewusste Zuordnung der Mongolen zu den Bewohnern der Unterwelt bzw. der Hölle; und diejenigen turkophonen Gruppen, die das Ethnonym der einstigen mongolischen Gruppe tatar übernahmen, sind auf diese Weise, auch als pars pro toto, Namensgeber einer Vielzahl weiterer turkophoner Gruppen geworden, mit denen die Russen und allgemein die Europäer in Berührung kamen.

2. Bild


Wie das Beispiel Tatarei – Tartarei zeigt, ist Zentralasien als Region, sind seine Bewohner Projektionsfläche für Ideen, Vorstellungen, Utopien und Schreckensvisionen der Europäer gewesen. Zwei Bilder sind es hauptsächlich, welche die Wahrnehmung Zentralasiens nicht selten prägten und prägen: Einmal die wilden Steppenkrieger, Inkarnation der Barbarei (eben die Tartaren aus dem tartaros), und zum anderen die mit der Seidenstraße verbundene Ideenwelt. Das erste Bild ist dabei sehr alt: Alexander, dem Makedonen, wird die Zähmung der wilden Völker von Gog und Magog zugeschrieben, die er dann hinter einer Mauer (oder einem eisernen Wall) eingesperrt hat (diese Vorstellung ist im Übrigen auch im islamisch-arabischen Schrifttum gut bekannt). Die von Alexander erreichten Gebiete in Zentralasien können überdies in gewisser Weise als die Grenze der (aus europäischer Sicht) bekannten Welt gelten; noch die englischen Entdecker und Eroberer benutzten in Asien, wohin sie auch kamen, die ihnen aus den griechischen Autoren, vor allem Herodot, bekannten Ortsnamen (darunter auch die Namen »Oxus« für den Amu Darja und »Iaxartes« für den Syr Darja, die sich bis heute gehalten haben, daneben viele Namen für Regionen und Provinzen, etwa »Baktrien« für die Landschaften zwischen Amu Darja und Hindukusch). Jenseits dieser Grenze liegt Innermost Asia – die Bezeichnung soll die außerordentliche Abgelegenheit und Fremdheit dieser Landschaften markieren.

Der zweite Komplex, unter dem Stichwort »Seidenstraße« versuchsweise fassbar, bezieht sich auf romantisierende und exotisierende Vorstellungen von Zentralasien und seinen Bewohnern; sie beruhen auf den gleichen Grundlagen wie die »orientalisierenden« Bilder vom Nahen Osten und teilweise Nordafrika, aber auch Indien. Der »Orient« wird als träg, passiv, feminin, aber auch poetisch, religiös kontemplativ, ja weise gesehen.

Die Literatur folgt dem allgemeinen Muster: Die erste Kontaktaufnahme sieht die Fremden noch als gleichberechtigt; erst in einem späteren Stadium, auch beeinflusst durch die westeuropäische Aufklärung, prägen sich die »typischen« Bilder aus. Dabei fallen die Urteile über die einzelnen Gruppen in Zentralasien durchaus differenziert aus. Während besonders die Turkmenen als räuberisch, verschlagen und unzuverlässig gelten, hat man für Kasachen und Kirgisen auch positive...

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