Prolog
oder wie das Spiel bei mir begann
Am Anfang war die Stimme. Jeder Mensch hatte genau eine. Mit ihr konnte er Aufmerksamkeit erzeugen, sich mitteilen, andere Menschen zum Zuhören und zum Antworten bringen. Mit ihr konnte er von seiner eigenen Lebenslinie zu der der anderen hinüberrufen und damit eintreten in das große Spiel: das Pingpong mit der Euphorie, am Leben zu sein – und dieses Leben miteinander zu teilen.
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»Warum rennst du so?«, quengelte Martin, mein bester Freund aus Kindergartenzeiten auf dem Nachhauseweg von der Schule. Sein Scout-Ranzen wackelte über seinen schmächtigen Schultern. »Wir kaufen erst morgen wieder Cola-Kracher«, antwortete ich streng. »Ich hab keine Zeit, ich muss schnell nach Hause«, rief ich so wichtig wie ich konnte über meine Schulter und bog in unsere Straße ab, ohne mich zu verabschieden. Die letzten Meter nach Hause rannte ich. Außer Atem stellte ich mich im Treppenhaus auf die Zehenspitzen und tastete mit meinen Händen den Briefkasten ab. Mein Herz klopfte. Mit meiner verrenkten Hand, die vom Tasten am Gelenk schon ganz rot geworden war, zog ich schließlich einen Umschlag durch den Schlitz. In krickeliger Zweitklässlerschrift stand dort mein Name.
»Muss erst meine Post lesen«, verkündete ich ebenso angeberisch, wie ich Martin angeschnauzt hatte, meiner Mutter an der Haustür, statt ihre Begrüßung zu erwidern. Ich rannte durch den Flur und schmiss die Tür meines Kinderzimmers zu. Auf dem Piratenhochbett angekommen, feierlich zwischen meinen Kuscheltieren thronend, öffnete ich langsam und würdevoll den allerersten Brief meines Lebens.
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»Spielst du auch gerne Zelda?«, schrieb Paul, mein Brieffreund, den ich im Ostseeurlaub kennengelernt hatte, eines Tages beiläufig in die obligatorische PS-Zeile ganz unten auf der Rückseite des Briefpapiers, das mit bunten Rollschuhen bedruckt war. »Und wenn ja: In welcher Welt bist du?«, wollte er wissen.
Es war nicht das erste Mal, dass solch kryptische Fragen auftauchten. Bisher hatte ich allerdings angenommen, dass es sich dabei einfach nur um irgendein neues Spiel aus der Micky Maus oder eine weitere, nur vom Titel her abgeänderte Fortsetzung vom »Sagaland« oder dem »Verrückten Labyrinth« handelte, die ich noch nicht mitbekommen hatte.
»Ja, kenn ich, voll kuhl«, antwortete ich ausweichend. In welcher Welt ich war, konnte ich allerdings nicht beantworten. Paul begann daraufhin zusätzlich zu seinen Fragen noch Tabellen in seine Briefe zu malen, in die er ominöse Punktezahlen notierte mit der Aufforderung, ich solle meine einfach daneben eintragen und ihm das Blatt zurücksenden. Wir könnten ja gegeneinander spielen, schlug er vor.
Ich bestach Martin mit Cola-Krachern. Zunächst unwillig, dann aber immer freudiger zeigte er mir, wie sein neues Wundergerät, der Game Boy, den Paul auch hatte, funktionierte. So durfte ich ihm also dabei zusehen, wie man bei Zelda den Rasen mähte, wie man bei Tetris eine gesamte Reihe auf einmal wegballerte, so dass die Musik kurz übertönt wurde, und wo bei Super Mario I und II die Schätze versteckt waren. Großzügig aufrundend trug ich Martins Level- und Punktezahl in Pauls Listen sein.
Doch Paul war ein schlechter Verlierer, die Game-Boy-Themen blieben auf die PS-Zeile beschränkt – bis sie nach einer Weile völlig im Sand verliefen.
In unserer Schule verliefen sie sich nicht. Zwar spielten die Mädchen immer noch Gummitwist, tauschten am allerliebsten die teuren Langhaarmeerschweinchen-Aufkleber von Karstadt und schrieben sich gegenseitig die Poesiealben mit Sinnsprüchen voll. Doch die Technik-Fachsimpelei schwappte sogar bis in unsere Pausenhofwelt. »Kennt ihr bestimmt nicht«, sagten die Jungs besserwisserisch, während sie in ihre Bifis bissen, an ihren Capri-Sonnen nuckelten und über ihre neuesten Spiele fachsimpelten. Frustriert knackten wir, die Hinterwäldler, deren Eltern aus pädagogischen Bedenken keine Game Boys verschenkten unter dem großen Baum am Tor zur Straße ein paar Bucheckern.
Während die anderen Mädchen Radschlag übten, setzte ich mich ein Stück abseits auf den mit Himmel-und-Hölle-Kreidekästchen bekritzelten Pausenhofboden zwischen die kratzenden Bucheckernschalen und begann auf meinem Taschenrechner herumzutippen, den ich eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Wie gebannt glotzte ich auf das kleine Display, genau wie ich es bei Martin gesehen hatte, wenn er vor seinen Spielen saß. Wenn ich nur hektisch genug mit beiden Daumen tippte, könnte man von weitem meinen, ich hätte doch einen Game Boy. Um es noch überzeugender aussehen zu lassen, zuckte ich beim Drücken der kleinen Tasten zusätzlich ab und zu zusammen, um danach meinen Körper nach rechts und links zu beugen wie unter extremer Fliehkraft auf einem Motorrad in der Kurve. Im Gegensatz zu Martin biss ich mir dabei jedoch nicht auch noch besessen auf meine eigene Zunge, die er beim Spielen permanent aus dem Mund streckte, ohne es zu merken. Vielleicht war es ein Jungsding, jedenfalls entschied ich mich, nicht auch noch die letzte behämmerte Geste der spielerischen Versunkenheit imitieren zu müssen.
»Was machst du denn da?«, fragte Martin, der außer Atem von den Kletterstangen angerannt kam.
»Nix«, sagte ich desinteressiert und tippte weiter, als würde ich eine wichtige Aufgabe für die nächste Mathestunde rechnen.
Martin tickte mich an. »Du bist dran ohne Wiedergabe!«, brüllte er und wollte schon wieder wegrennen. Ich schüttelte den Kopf.
»Doch, bist du! Hier ist nicht Klippo!«, schrie Martin und riss mir den Taschenrechner aus der Hand. Das Gerät fiel auf den Boden. Die über dem Kopf stehenden Ziffern ergaben ein Wort. »ESEL« stand dort, in großen Lettern. »Da, für dich«, sagte ich schnippisch und lief zurück zu den anderen Hinterwäldlern.
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»Hast du?«, brüllte mein Vater einige Jahre später aus dem Wohnzimmer den Flur entlang durch unsere Wohnung. »Ja-haaa! Ich haaaaaab«, schrie ich zurück und warf meine Zimmertür zu. Im Wohnzimmer ließ mein Vater den Hörer vom grünen Wählscheibentelefon mit der schwarzen Schweinchenschwanzschnur auf die Gabel fallen. Die Leitung wurde nach hinten, in mein Zimmer umgestellt. Endlich konnten Aileen, meine beste Freundin auf der neuen Schule, und ich in Ruhe sprechen. Endlich, das hieß: Nachdem wir den gesamten Vormittag während des Unterrichts Zettelchen geschrieben, jede Pause, den Nachhauseweg und den gesamten Nachmittag miteinander verbracht hatten. Es war nur logisch, dass, wenn wir uns wie jetzt ausnahmsweise einmal nicht sahen, eben auf anderen Wegen durchfunken mussten, was passierte. Durchfunken, das hieß: telefonieren. Oder, eben ganz neu, auch: faxen.
Zuverlässig wie ein Beschattungsunternehmen unserer selbst tickerten wir uns durch diesen neuen Wunderkasten permanent alle relevanten neuen Information durch: dass Aileen nun den Käfig ihrer Wellensittiche putzen würde, dass sie nebenbei die »Euro Hot Thirty« auf Energy hörte, dass ich immer noch nicht für den Biotest gelernt hatte, dass mein Vater schon wieder die Hansons mit der Kelly Family verwechselt hatte, was wir zu Abend essen würden, worüber sich unsere Eltern stritten, ob der Regen nur bei uns oder auch bei ihr, fünf Straßen weiter, fiel. Einmal schickte Aileen mir sogar einen Zwanzig-Mark-Schein. »Mit diesem Geld gehe gleich die neue Maxi von BSB kaufen« stand auf dem kleinen Zettel, der davor durchs Gerät geknattert kam.
Nur manchmal gab es bei unserer Dauerkommunikation ärgerliche Störfaktoren. »Es piept nur!«, rief Jamie, die kleine Schwester von Aileen, verzweifelt durch die Leitung. Sie lernte gerade Telefonieren. »Das ist ein Fax, nimm das an, schnellschnellschnell!«, hörte ich Aileen im Hintergrund brüllen. Wenn man nämlich zu lange wartete, kam statt eines Fax nur ein kryptischer Problembericht aus dem Gerät. Heulend lief Jamie davon.
Doch nicht nur wenn unsere Geräte zwischen uns standen, mussten wir uns ständig Ausschlussmechanismen für ungebetene kleine Geschwister und deren Freunde einfallen lassen. Wenn gerade wieder einmal Lucy Lectric durch unsere Zimmer jodelte, wir dabei endlich den Caught-in-the-Act-Starschnitt an der Wand vervollständigen und nebenbei noch Bärbel Schäfer oder Andreas Türck lauschen wollten, die über den richtigen Zeitpunkt für das erste Mal diskutierten, kurz: wenn wir alleine sein wollten, brauchten wir eine Geheimsprache.
Da der englisch-deutsche Mischsprech, mit dem alle Fünftklässler angeben, sobald sie ihren ersten Vokabeltest bestanden haben – »Wenn we talk in english she doesn’t versteh us« –, aufgrund unsäglicher Peinlichkeit, die auch wir uns bald eingestanden, ausschied, musste am Ende eine neue Privatsprache her.
Wir entwickelten ein geheimes Zeichensystem. Eine Sprache ohne Namen, die aus einer ausgetüftelten Fingerakrobatik bestand, bei der es für jeden Buchstaben eine Kombination gab, wobei nicht jede so simpel wie das Victory-Zeichen für ein »V« war. Mit quengelnden »Menno!«-Rufen begleiteten Aileens Schwester und ihre nervigen Spielgefährtinnen das Entstehen unserer stummen Sprache und gaben, bald nachdem wir uns die ersten höhnischen »H-A-H-A«’s durch die Luft zugemorst hatten, auf, uns zu belagern. Triumphierend verließen wir das Zimmer. Wir mussten sowieso weg von diesem Kindergarten, zum Fernseher, Interaktiv auf VIVA gucken. Es war schließlich Mola-Adebisi-Woche und Tic Tac Toe sollten zu Gast sein.
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Mit dem Videorekorder kam die Panik auf, etwas zu verpassen....