Kapitel 1: Das Geheimnis des Lächelns
Im Jahre 1967 suchte ein junger Mann aus San Francisco nach einem Naturvolk, das so weltfern leben sollte wie auf einem anderen Planeten. Würde es auf der Erde wirklich noch Menschen geben, zu denen nie Besucher vorgedrungen waren, die keine Schrift kannten und erst recht keine Fernsehbilder? Alles, was Paul Ekman wusste, war, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Noch ein paar Jahre vielleicht, dann hätten Funksignale, Fahrwege und Flugzeuge auch die letzten Dörfer im Urwald erreicht.
Papua-Neuguinea galt seinerzeit als das Ende der Welt: eine Insel, von der man als dem Land der Kopfjäger und Kannibalen sprach. Doch Furcht kannte der Dreiunddreißigjährige nicht – er brach allein auf in die Steinzeit. Allerdings kümmerten ihn exotische Bräuche wenig; Ekman dachte gar nicht daran, die anthropologischen Bibliotheken um noch ein paar Spielarten der Fremdheit zu bereichern. Er wollte vielmehr das erforschen, was allen Menschen gemeinsam ist: Er suchte nach dem Geheimnis des Lächelns.[14]
Niemand gab viel auf sein Unternehmen. Im Mienenspiel der Gesichter sei nicht viel zu entdecken, hatten ihn Kollegen gewarnt. Eine Mutter lächelt ihr Baby an, der Säugling ahmt sie nach und lächelt zurück: So einfach würden Gefühle entstehen, dachte man damals. Denn vor vierzig Jahren, als Ekman sich aufmachte, wagte niemand zu bestreiten, dass der Mensch als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt. Ein Kind sah man als leeres Gefäß an, in das Eltern und Umgebung ihr Wissen und ihre Umgangsformen einfüllten. Wie alles andere hätten wir deswegen auch das Mienenspiel in der Kindheit gelernt. Nur Ekman wollte das nicht glauben: Könnten, so fragte er sich, die Gefühle bei der Geburt nicht schon angelegt sein? Haben wir vielleicht eine Art fertige Schaltung für das Lächeln im Kopf? In diesem Fall müssten alle Menschen der Welt in vergleichbaren Momenten dasselbe Mienenspiel zeigen. Hatte nicht schon Charles Darwin dergleichen vermutet?
Mienen aus der Steinzeit
Zu Fuß machte sich der junge Forscher auf seinen Weg in das Hochland von Neuguinea. Im Rucksack schleppte er Kameras, Tonbandgeräte und Tafeln mit Porträtfotos. Ein Einheimischer führte ihn; nach ein paar Wochen des Marschierens erreichten sie Gegenden, die noch kein Weißer je betreten hatte. Es war das Gebiet eines Volkes, das sich die Fores nannte und dem es vor acht Jahren verboten worden war, nach deren Tod die Gehirne ihrer Angehörigen zu verspeisen. Die Frauen trugen Grasschürzen, die Männer Tangas aus Rinde. Sie lebten in Hütten, die sie sich aus Gras und Blättern geflochten hatten, und benutzten Werkzeuge aus behauenem Stein. Den Wissenschaftler und seinen Führer empfingen sie freundlich.
Ekman ließ sich auf dem Platz ihres kleinen Dorfs nieder und packte sein Tonbandgerät aus. Noch nie hatten die Menschen hier so einen schimmernden Kasten gesehen, auf dem sich zwei Kreise drehten, scheinbar ganz von alleine. Und plötzlich hörten sie ihre eigenen Stimmen! Ihre Münder begannen sich zu öffnen, die Wangenknöchelchen hoben sich, und die Augen der Fores funkelten – sie lächelten. Offensichtlich waren sie von der Überraschung begeistert. Aus dem Hintergrund hatte Ekmans Führer die Begebenheit gefilmt: der erste Beweis, dass Menschen am anderen Ende der Welt auf dieselbe Weise lächeln wie wir.
Von nun an wichen die Fores Ekman keinen Moment von der Seite. Schon bevor er erwachte, umringten sie seinen Schlafplatz und warteten gespannt, womit er sie heute unterhalten würde. An manchen Tagen ging er mit einem Gummimesser auf Kinder los, damit sein Begleiter erschreckte Gesichter aufnehmen konnte. An anderen Tagen zeigte er ihnen Porträts von fröhlichen und traurigen Amerikanern und ließ den Führer fragen, welcher der abgebildeten Menschen den Tod seines Kindes erwarte. Einmütig deuteten die Fores auf das traurige Gesicht – anscheinend konnten sie die Mimik aus dem fremden Amerika ohne Schwierigkeiten verstehen. Nach ein paar Wochen bat Ekman seinen Begleiter, Überraschungsbesuche zu inszenieren. Ein Dörfler sollte seinem Freund wie zufällig begegnen; die Kamera des Forschers zeichnete das freudige Begrüßungslächeln auf.
Als Ekman nach vier Monaten im Dschungel nach Amerika zurückkehrte und seine Aufnahmen auswertete, hatte er keinen Zweifel mehr: Die Mienen der Fores zeigten genau denselben Ausdruck wie die von Menschen in der westlichen Welt. Sprachen mochten sich von Volk zu Volk unterscheiden. Gefühle aber sind den Fores im Hochland von Neuguinea auf dieselbe Weise ins Gesicht geschrieben wie einem Bürger von San Francisco.
Für die Wissenschaft war das ein aufregender Befund. Andere Forscher brachen auf; um Ekman zu widerlegen. Sie reisten in den Urwald von Borneo, zu Nomaden im Iran, in die entlegensten Teile der Sowjetunion – und kamen mit leeren Händen nach Hause. Überall zeigte sich, dass die Kultur kaum Einfluss hat auf die Klaviatur der menschlichen Emotionen. Zwar mochten manche Völker ihre Empfindungen mehr und andere sie weniger offen zeigen.[15] Freude und Trauer, Angst und Wut aber waren allen Menschen gemein. (Spätere Untersuchungen ergänzten Ekmans Liste um zwei weitere Grundemotionen: Überraschung und Ekel.)
Mit seiner Entdeckung erledigte Ekman gleich zwei Irrtümer auf einmal. Erstens ließ sich von nun an schwerlich behaupten, Kinder lernten Emotionen von den Menschen ihrer Umgebung. Denn dann müsste es bei den Völkern der Welt verschiedene Arten des Lächelns geben, ganz so, wie »Freude« bei den Amerikanern »joy« heißt und in China »gaoxing«. Nachdem die Mimik aber überall dieselbe ist, müssen die elementaren Emotionen und die Art, wie unsere Körper sie ausdrücken, angeboren sein.
Selbst von Geburt an blinde Kinder, die ihr Mienenspiel bei niemandem abgeschaut haben können, lächeln spontan. Eigentlich hätte allein diese Tatsache bei denjenigen Zweifel wecken müssen, die glaubten, Freude sei gelernt. Schließlich hatte bereits Charles Darwin in seinem Buch über die Mimik des Menschen eine Untersuchung in einem Blindenheim angeregt. Doch dieses Werk des großen Evolutionsbiologen war so gut wie vergessen, und der Glaube an gelernte Gefühle war so unerschütterlich, dass kein Forscher auf die Idee kam, einfach Darwins Vorschlag zu folgen und sich mit ein paar Blindenlehrern zu unterhalten. Also musste Paul Ekman bis in die Südsee reisen. Auch die Wissenschaft ist von Vorurteilen nicht frei.[16]
Noch einflussreicher zeigte sich Ekman in einer zweiten Hinsicht. Mit seinen Filmen vom Mienenspiel der Fores hatte er nachgewiesen, dass Gefühle Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein können. Das war keine kleine Erkenntnis, denn wer sich Ende der sechziger Jahre mit Emotionen beschäftigte, galt als ein Schmuddelkind der wissenschaftlichen Psychologie. Wahrnehmen, Denken und Handeln galten als die Themen ernsthafter Forschung. Gefühle zu erörtern überließ man dagegen den Philosophen und Dichtern, spielen sie sich doch im Inneren des Menschen ab, das allen Blicken von außen verschlossen schien. Ekman aber hatte vorgeführt, dass private Erfahrung Experimenten durchaus zugänglich sein kann.
Dieser junge Mann aus dem entlegenen Hochland von Papua-Neuguinea hat nie zuvor Menschen anderer Völker gesehen, trotzdem ist uns sein Freudestrahlen vertraut: Die elementaren Gefühle und die Art, wie wir sie ausdrücken, sind angeboren. Deswegen wird die Sprache des Lächelns weltweit verstanden. Das Foto stammt von der Forschungsexpedition des Psychologen Paul Ekman.
Echtes und nützliches Lächeln
Von seinen Erfolgen ermutigt, erfand der junge Forscher ein ganzes System, Gefühlsäußerungen in Zahlen und Tabellen zu übersetzen. Gewissermaßen zerlegte er das Mienenspiel in seine Atome. 42 Muskeln im menschlichen Gesicht erzeugen die Mimik; Ekman ordnete jeder ihrer Regungen eine Nummer zu. »9« bedeutete zum Beispiel Naserümpfen, »15« das Zusammenpressen der Lippen. Nun konnten die Forscher auch die wildesten Grimassen im Computer erfassen.
So entdeckte er 19 verschiedene Weisen des Lächelns. 18 davon sind nicht echt – und uns trotzdem von großem Nutzen. Sie dienen als Maske, wenn wir andere nicht die ganze Wahrheit über unsere Gefühle wissen lassen wollen. Es gibt ein Lächeln, mit dem wir peinlich berührt nach einem schlechten Witz Höflichkeit zeigen; ein Lächeln, hinter dem wir Angst verbergen; eine gute Miene, die wir zum bösen Spiel machen. Stets tritt dabei der große Jochbeinmuskel (Musculus zygomaticus major) in Aktion, der sich vom Jochbein zur Oberlippe spannt und die Mundwinkel nach oben zieht. Aber jedes Mal orchestrieren andere Muskelgruppen im Gesicht die verschiedenen Typen des falschen Lächelns. Ohne diese Signale würde menschliches Miteinander kaum funktionieren. Mit Freude allerdings haben sie wenig zu tun.
Nur eine Weise des Lächelns ist echt. Wenn nicht nur die Mundwinkel nach oben wandern, sondern sich zudem die Augen etwas zusammenkneifen, Lachfalten in den Augenwinkeln erscheinen und sich die oberen Hälften der Wangen heben, zeigt das Gesicht Glücklichsein an: Der Augenringmuskel hat sich zusammengezogen. Ekman nannte diese Gesichtsregung »Duchenne-Lächeln«, zu Ehren des französischen Physiologen Guillaume-Benjamin Duchenne. Dieser hatte im Jahre 1862 als...