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Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse

AutorSigmund Freud
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
ReiheGesammelte Werke in 18 Bänden mit einem Nachtragsband 15
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783104001654
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band XV: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: Revision der Traumlehre Traum und Okkultismus Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit Angst und Triebleben Die Weiblichkeit Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen Über eine Weltanschauung

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

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Leseprobe

XXX. VORLESUNG TRAUM UND OKKULTISMUS


Meine Damen und Herren! Wir werden heute einen schmalen Weg gehen, aber der kann uns zu einer weiten Aussicht führen.

Die Ankündigung, daß ich über die Beziehung des Traums zum Okkultismus sprechen werde, kann Sie kaum überraschen. Der Traum ist ja oft als die Pforte zur Welt der Mystik betrachtet worden, gilt heute noch vielen selbst als ein okkultes Phänomen. Auch wir, die ihn zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung gemacht haben, bestreiten nicht, daß ihn ein oder mehrere Fäden mit jenen dunklen Dingen verknüpfen. Mystik, Okkultismus, was ist mit diesen Namen gemeint? Erwarten Sie keinen Versuch von mir, diese schlecht umgrenzten Gebiete durch Definitionen zu umfassen. In einer allgemeinen und unbestimmten Weise wissen wir alle, woran wir dabei zu denken haben. Es ist eine Art von Jenseits der hellen, von unerbittlichen Gesetzen beherrschten Welt, welche die Wissenschaft für uns aufgebaut hat.

Der Okkultismus behauptet die reale Existenz jener “Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt”. Nun, wir wollen nicht an der Engherzigkeit der Schule festhalten; wir sind bereit zu glauben, was man uns glaubwürdig macht.

Wir gedenken mit diesen Dingen zu verfahren wie mit allem anderen Material der Wissenschaft, zunächst festzustellen, ob solche {033}Vorgänge wirklich nachweisbar sind, und dann, aber erst dann, wenn sich ihre Tatsächlichkeit nicht bezweifeln läßt, uns um ihre Erklärung zu bemühen. Aber es ist nicht zu leugnen, daß schon dieser Entschluß uns schwer gemacht wird durch intellektuelle, psychologische und historische Momente. Es ist nicht derselbe Fall, wie wenn wir an andere Untersuchungen herangehen.

Die intellektuelle Schwierigkeit zuerst! Gestatten Sie mir grobe, handgreifliche Verdeutlichungen. Nehmen wir an, es handle sich um die Frage nach der Beschaffenheit des Erdinnern. Bekanntlich wissen wir nichts Sicheres darüber. Wir vermuten, daß es aus schweren Metallen im glühenden Zustand besteht. Nun stelle einer die Behauptung auf, das Erdinnere sei mit Kohlensäure gesättigtes Wasser, also eine Art Sodawasser. Wir werden gewiß sagen, das ist sehr unwahrscheinlich, widerspricht allen unseren Erwartungen, nimmt keine Rücksicht auf jene Anhaltspunkte unseres Wissens, die uns zur Aufstellung der Metallhypothese geführt haben. Aber undenkbar ist es immerhin nicht; wenn uns jemand einen Weg zur Prüfung der Sodawasserhypothese zeigt, werden wir ihn ohne Widerstand gehen. Aber nun kommt ein anderer mit der ernsthaften Behauptung, der Erdkern bestehe aus Marmelade! Dagegen werden wir uns ganz anders verhalten. Wir werden uns sagen, Marmelade kommt in der Natur nicht vor, es ist ein Produkt der menschlichen Küche, die Existenz dieses Stoffes setzt außerdem das Vorhandensein von Obstbäumen und von deren Früchten voraus, und wir wüßten nicht, wie wir Vegetation und menschliche Kochkunst ins Erdinnere verlegen könnten; das Ergebnis dieser intellektuellen Einwendungen wird eine Schwenkung unseres Interesses sein, anstatt auf die Untersuchung einzugehen, ob wirklich der Erdkern aus Marmelade besteht, werden wir uns fragen, was es für ein Mensch sein muß, der auf eine solche Idee kommen kann, und höchstens noch ihn fragen, woher er das weiß. Der unglückliche Urheber der Marmeladetheorie wird schwer gekränkt sein und uns anklagen, daß wir ihm aus angeblich wissenschaft{034}lichem Vorurteil die objektive Würdigung seiner Behauptung versagen. Aber es wird ihm nichts nützen. Wir verspüren, daß Vorurteile nicht immer verwerflich sind, daß sie manchmal berechtigt sind, zweckmäßig, um uns unnützen Aufwand zu ersparen. Sie sind ja nichts anderes als Analogieschlüsse nach anderen, gut begründeten Urteilen.

Eine ganze Anzahl der okkultistischen Behauptungen wirkt auf uns ähnlich wie die Marmeladehypothese, so daß wir uns berechtigt glauben, sie ohne Nachprüfung von vornherein abzuweisen. Aber es ist doch nicht so einfach. Ein Vergleich wie der von mir gewählte beweist nichts, beweist so wenig wie überhaupt Vergleiche. Es bleibt ja fraglich, ob er paßt, und man versteht, daß die Einstellung der verächtlichen Verwerfung bereits seine Auswahl bestimmt hat. Vorurteile sind manchmal zweckmäßig und berechtigt, andere Male aber irrtümlich und schädlich, und man weiß nie, wann sie das eine, wann sie das andere sind. Die Geschichte der Wissenschaften selbst ist überreich an Vorfällen, die vor einer voreiligen Verdammung warnen können. Lange Zeit galt es auch als eine unsinnige Annahme, daß die Steine, die wir heute Meteoriten heißen, aus dem Himmelsraum auf die Erde gelangt sein sollten, oder daß das Gestein der Berge, das Muschelreste einschließt, einst den Meeresgrund gebildet hätte. Übrigens ist es auch unserer Psychoanalyse nicht viel anders ergangen, als sie mit der Erschließung des Unbewußten hervortrat. Also haben wir Analytiker besonderen Grund, mit der Verwendung des intellektuellen Motivs zur Ablehnung neuer Aufstellungen vorsichtig zu sein, und müssen zugestehen, daß es uns nicht über Abneigung, Zweifel und Unsicherheit hinaus fördert.

Das zweite Moment habe ich das psychologische genannt. Ich meine damit die allgemeine Neigung der Menschen zur Leichtgläubigkeit und Wundergläubigkeit. Von allem Anfang an, wenn das Leben uns in seine strenge Zucht nimmt, regt sich in uns ein Widerstand gegen die Unerbittlichkeit und Monotonie der {035}Denkgesetze und gegen die Anforderungen der Realitätsprüfung. Die Vernunft wird zur Feindin, die uns soviel Lustmöglichkeit vorenthält. Man entdeckt, welche Lust es bereitet, sich ihr wenigstens zeitweilig zu entziehen und sich den Verlockungen des Unsinns hinzugeben. Der Schulknabe ergötzt sich an Wortverdrehungen, der Fachgelehrte verulkt seine Tätigkeit nach einem wissenschaftlichen Kongreß, selbst der ernsthafte Mann genießt die Spiele des Witzes. Ernsthaftere Feindseligkeit gegen “Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerbeste Kraft” wartet ihre Gelegenheit ab, sie beeilt sich, dem Wunderdoktor oder Naturheilkünstler den Vorzug zu geben vor dem “studierten” Arzt, sie kommt den Behauptungen des Okkultismus entgegen, solange dessen angebliche Tatsachen als Durchbrechungen von Gesetz und Regel genommen werden, sie schläfert die Kritik ein, verfälscht die Wahrnehmungen, erzwingt Bestätigungen und Zustimmungen, die nicht zu rechtfertigen sind. Wer diese Neigung der Menschen in Betracht zieht, hat allen Grund, viele Mitteilungen der okkultistischen Literatur zu entwerten.

Das dritte Bedenken nannte ich das historische und will damit aufmerksam machen, daß in der Welt des Okkultismus eigentlich nichts Neues vorgeht, daß aber in ihr alle die Zeichen, Wunder, Prophezeiungen und Geistererscheinungen neuerdings auftreten, die uns aus alten Zeiten und in alten Büchern berichtet werden und die wir längst als Ausgeburten ungezügelter Phantasie oder tendenziösen Trugs erledigt zu haben glaubten, als Produkte einer Zeit, in der die Unwissenheit der Menschheit sehr groß war und der wissenschaftliche Geist noch in seinen Kinderschuhen stak. Wenn wir als wahr annehmen, was sich nach den Mitteilungen der Okkultisten noch heute ereignet, so müssen wir auch jene Nachrichten aus dem Altertum als glaubwürdig anerkennen. Und nun besinnen wir uns, daß die Traditionen und heiligen Bücher der Völker von solchen Wundergeschichten übervoll sind und daß die Religionen ihren Anspruch auf Glaubwürdigkeit gerade auf solche {036}außerordentliche und wunderbare Begebenheiten stützen und in ihnen die Beweise für das Wirken übermenschlicher Mächte finden. Dann wird es uns schwer, den Verdacht zu vermeiden, daß das okkultistische Interesse eigentlich ein religiöses ist, daß es zu den geheimen Motiven der okkultistischen Bewegung gehört, der durch den Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens bedrohten Religion zu Hilfe zu kommen. Und mit der Erkenntnis eines solchen Motivs muß unser Mißtrauen wachsen und unsere Abneigung, uns in die Untersuchung der angeblichen okkulten Phänomene einzulassen.

Aber endlich muß diese Abneigung doch überwunden werden. Es handelt sich um eine Frage der Tatsächlichkeit, ob das, was die Okkultisten erzählen, wahr ist oder nicht. Das muß doch durch Beobachtung entschieden werden können. Im Grunde müssen wir den Okkultisten dankbar sein. Die Wunderberichte aus alten Zeiten sind unserer Nachprüfung entzogen. Wenn wir meinen, sie sind nicht zu beweisen, so müssen wir doch zugeben, sie sind nicht mit aller Strenge zu widerlegen. Aber was in der Gegenwart vor sich geht, wobei wir zugegen sein können, darüber müssen wir doch ein sicheres Urteil gewinnen können. Kommen wir zur Überzeugung, daß solche Wunder heute nicht vorkommen, so fürchten wir den Einwand nicht, sie könnten sich doch in alten Zeiten ereignet haben. Andere Erklärungen liegen dann viel näher. Wir haben also unsere Bedenken abgelegt und sind bereit, an der Beobachtung der okkulten Phänomene teilzunehmen.

Zum Unglück treffen wir dann auf Verhältnisse, die unserer redlichen Absicht äußerst ungünstig sind. Die Beobachtungen, von denen unser Urteil abhängen soll, werden unter Bedingungen angestellt, die unsere Sinneswahrnehmungen unsicher machen, unsere Aufmerksamkeit abstumpfen, in der Dunkelheit oder in spärlichem rotem Licht, nach langen Zeiten leerer Erwartung. Es wird uns gesagt, daß schon unsere ungläubige, also kritische Einstellung das Zustandekommen der erwarteten Phänomene zu {037}hindern vermag. Die so hergestellte Situation ist ein wahres Zerrbild der Umstände, unter denen wir sonst wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen pflegen. Die Beobachtungen werden an sogenannten Medien gemacht,...

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