Wandel der Ära
Wir erleben nicht eine Ära des Wandels,
sondern einen Wandel der Ära.
(Papst Franziskus)
Papst Franziskus schreckte die italienischen Bischöfe bei ihrer Jahresversammlung mit seinem radikalen Ausspruch sicherlich auf. Er kündigte einen beunruhigenden Wandel der Ära an. Damit meinte er, dass man sich nicht mehr in einer letztlich beruhigenden Ära des Wandels weiterhin einrichten könne.
Dem entspricht ein Zitat des Atheisten Eugenio Scalfari, Chefredakteur der Mailänder Zeitung La Repubblica. Er hatte mit Papst Franziskus ein längeres Interview geführt und Anfang Oktober 2013 Auszüge daraus in der Zeitung veröffentlicht. Den Bericht beendete er mit der Ansage:
„Das ist Papst Franziskus. Wenn die Kirche so werden wird, wie er sie denkt und will, wird sich eine Epoche ändern.“5
Fachleute werden ihm zustimmen. Nicht nur die Welt ist im Prozess der Globalisierung in ein neues Zeitalter eingetreten. Experten nennen es Anthropozän.6 Enorme, von Menschen verursachte ökologische, ökonomische und soziale Herausforderungen machen der Politik zu schaffen und vielen Menschen Angst. Die Weltgemeinschaft eint sich, zugleich wachsen nationalistische Abschottungsphantasien. Die Kulturen durchmischen sich. Ein „Globaler Marsch“ ist unaufhaltsam in Gang gekommen.7 65 Millionen Menschen sind unfreiwillig auf der Flucht, weil sie in ihrer Heimat wegen Krieg, wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit und hoffnungsloser Armut sowie klimatischer Katastrophen nicht mehr überleben können. Die Bevölkerungen der reichen Weltregionen wie Nordamerika oder Europa, in welche die Menschen flüchten oder drängen, reagieren mit Abschottung. Ein „defensiver Rassismus“8 breitet sich aus. Rechtspopulisten sind im Aufwind. Militär kommt gegen Flüchtende zum Einsatz.
Mit dieser eins werdenden und doch zerrissenen Welt hat es der erfahrene „Global Player“ katholische Weltkirche zu tun. Mögen manche Päpste vor allem Europa im Blick gehabt haben: Papst Franziskus kann gar nicht mehr anders, als eine Art „Weltpfarrer“ zu sein. Provinzialismus widerspricht seinem Amt zutiefst. Katholisch kann nur noch universell bedeuten. Er kann sich dabei auf das Zweite Vatikanische Konzil berufen. Diese Versammlung visioniert die Kirche als Zeichen der tiefen Einung der Menschheit mit Gott und daher der Menschen untereinander (Lumen gentium 1). Auf dem Weg dorthin aber arbeite die Kirche wie ein „Feldlazarett“ für die vielen Verwundeten der Menschheit.9
Ändert sich die Welt, fordert dies auch die Kirchen heraus: allen voran die weltweit agierende katholische. Die neue Ära in der eins werdenden und doch so zerrissenen Weltgemeinschaft modifiziert unweigerlich das Handeln der Kirchen.
Ende der Konstantinischen Ära
Für die Kirchen in Europa hat dieses Ende einer Ära eine spezifische historische Färbung. Europa war jahrhundertelang „konstantinisch“ geprägt. Die Erhebung der blutig verfolgten „Jesusbewegung“ zur Staatsreligion durch Kaiser Konstantin hatte eine Ära eingeläutet. Diese war geprägt von einer tiefen Einung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Kirche, Thron und Altar. Die heftigen Spannungen, die es zwischen beiden Machtzentren gab, spielten sich innerhalb des einen, von keiner Seite infrage gestellten Rahmens ab. Es war der kulturell vom Christentum geprägte, deshalb freilich keinesfalls immer auch christliche, sondern eher „christentümliche“ Kontinent. Das hatte nachhaltige Folgen für die Menschen. Mit unentrinnbarer Selbstverständlichkeit war ihr Leben von dieser christentümlichen Kultur geprägt. In ihr fanden sie Sinn, deuteten sie die Endlichkeit, die Vergeblichkeit und den Tod, meisterten sie das Leid, feierten sie die großen Ereignisse des Lebens wie Geburt, Heirat und Tod. In allen Winkeln des gesellschaftlichen Lebens war das christliche Kulturgut präsent, in den Künsten, der Bildung, in der Musik, im Handwerk, im Krieg.
Diese Verwobenheit von Gesellschaft-Staat-Kirche modifizierte die Reformation vor fünfhundert Jahren und verschärfte sie zugleich. Diese konnte von Haus aus nicht allein eine innerkirchliche Reform sein, obgleich Martin Luther eine solche mit vielen guten Gründen anstrebte, was ihm heute bis hin zu Papst Franziskus sehr viele aus der katholischen Kirche dankbar bescheinigen. Aber Luther, vor allem der durch die Reichsacht bedrängte Reformator, konnte nicht verhindern, dass sein berechtigtes religiös-kirchliches Ziel politisch genutzt wurde. Die Fürsten sahen in der sich entwickelnden Kirchenspaltung eine gute Chance, sich aus der Vorherrschaft des Kaisers zu befreien. Der blutige Dreißigjährige Krieg war wegen der Verflechtung von Thron und Altar daher zugleich ein politisch wie konfessionell motivierter Krieg. Im Text des Friedensvertrages von Münster und Osnabrück (1648) erklären die Vertragsparteien in Artikel V kurz und bündig die Vertreter der Konfessionen zu den Hauptverantwortlichen für den Krieg. Deshalb wird ihnen eine heilige Friedenspflicht auferlegt, „bis man sich durch Gottes Gnade über die Religionsfragen verglichen haben wird“ (§ l).
Die Auswirkungen dieses Krieges, der zusammen mit Pest und Hungersnot weite Teile Europas durch das Morden dezimierte, sind in Europa bis heute greifbar. Voltaire veranlassten die Gräuel, eine Menschheitsreligion ohne Konfessionen, eine Religion ohne Kirchen zu fordern. Der Gedanke, der dann in Frankreich aufkam, die Welt wäre ohne Gott am friedlichsten, ließ nicht lange auf sich warten. Das Christentum mit seinen blutigen Händen hatte Gott statt in Kredit in Misskredit gebracht. Das Christentum führte Krieg gegen das Christentum. Die Glaubwürdigkeit des Christentums war kulturell tief erschüttert. Europa machte diese dunklen kulturellen Erinnerungen zum kontinentalen Sonderfall für die Religionssoziologie10: Während das Christentum in allen Erdteilen wächst, „stirbt es in Europa vor sich hin“11. In keinem Kontinent hat sich ein derart tiefgründiger Atheismus entwickelt wie in Europa.
Vom Schicksal zur Wahl
Diese Entwicklungen wirkten sich auch auf die Lebensgestaltung der Menschen aus. Eine kurze Zeit lang wähnten sich manche frei, sich für die eine oder andere Konfession zu entscheiden. Die Suche nach dem „Landfrieden“ verlangte jedoch nach „politischen Lösungen“ im Konfessionsstreit. Diese wurde in Religionsfriedensschlüssen gesucht, wobei der „Reichsabschiedt“ von Augsburg (1555) und der Westfälische Friede zur Beendigung des Dreißigjährigen Kriegs (1648) die bekannteren sind.12
Die Regel war, dass der Herrscher die Konfession der Untertanen bestimmen konnte (ius reformandi); wer sich nicht fügen wollte, „konnte“ bzw. musste auswandern (ius emigrandi). Eine beachtliche Zahl von Reichsstädten erhielt das Recht, innerhalb ihrer Mauern beide Konfessionen frei wirken zu lassen, was den Bewohnern solcher Städte eine Art „Religions-“, genauer „Konfessionsfreiheit“ brachte: eine Vorläuferin der späteren aufgeklärten Religionsfreiheit. Der Großteil der Bevölkerung hatte aber keine Wahl. Für sie war „Religion“, genauer „Konfession“ Schicksal. Aus staatspolitischen Gründen machten die Herrschenden von ihrem Recht ausgiebig Gebrauch. Es kam zu vielen „konfessionellen Säuberungen“, und das schon nach dem „Reichsabschiedt“ zu Augsburg. Als die Habsburger in der Zeit nach der Reformation Böhmen durch eine aggressive Gegenreformation von den dort verbreiteten Hussiten „befreien“ wollten, kam es 1618 zum Prager Fenstersturz, welcher den blutigen Dreißigjährigen Krieg auslöste.
Im Konfessionellen Zeitalter wurde also die konstantinische Verbindung zwischen Thron und Altar, Konfession und Kaiser/Fürsten aus gemeinsamem Überlebensinteresse noch enger, die Zugehörigkeit zur Konfession für die Menschen schicksalhaft. Austreten aus der konfessionsgebundenen Religion war undenkbar, ein Verlassen der Konfession mit enormen sozialen Nachteilen verbunden. Hartnäckige „Ketzer“ wurden hingerichtet, viele zogen wegen ihrer Treue zum „alten“ oder zum „neuen Glauben“ aus ihrer angestammten Heimat fort.
Die Konstantinische Ära in ihrer nachreformatorischen Gestalt, in der die Zugehörigkeit zur Religion/Konfession unentrinnbares Schicksal war, ist heute definitiv vorbei.
Die Trennung von Kirche und Staat setzte sich europaweit dank der Aufklärung durch. Dabei wurden unterschiedliche Modelle im Verhältnis von Staat und Kirche entwickelt. Das Spektrum reicht von kantiger Trennung (wie in Frankreich) bis zur gesuchten Kooperation (Deutschland, Österreich).13 Für die Menschen in den europäischen Ländern ist Religion nicht mehr Schicksal, sondern Wahl. Diese Formel „from fate to choice“ (vom Schicksal zur Wahl) hat Peter L. Berger geprägt. Sein pointierter Satz: „Man kann heute alles wählen, nur nicht, ob man wählen will“, betrifft inzwischen auch die Religion.14
Dabei führte die Trennung von Staat und Kirche noch nicht gleich zur Auflösung in Jahrhunderten gewachsener „soziokultureller Selbstverständlichkeiten“. Dafür standen Sätze wie „man lässt sein Kind taufen“, „Tote werden kirchlich beerdigt“. Doch zeigt meine Langzeitstudie für Österreich über die vierzig Jahre von 1970 bis 201015, dass soziale Motive für den...