1 Inhalte und Methoden der Neurodidaktik
1.1 Lernziele des Kapitels
Das erste Kapitel dieses Lehrwerkes führt Sie in die Neurodidaktik als Wissenschaftsdisziplin ein, indem wesentliche Grundannahmen, Fragestellungen und Methoden in Abgrenzung zu zentralen wissenschaftlichen Nachbardisziplinen vorgestellt werden.
Dieses Kapitel umfasst die folgenden Themen:
• Historische Wurzeln und Ursprung der Neurodidaktik.
• Entwicklung der Neurodidaktik zu einem interdisziplinären Forschungs- und Handlungsfeld.
• Stellenwert der Neurodidaktik in Abgrenzung zu ihren zentralen Nachbardisziplinen.
• Zentrale Grundannahmen, Fragestellungen und Methoden einer interdisziplinär forschenden Neurodidaktik, die sich als gleichermaßen grundlagen-, anwendungs- und praxisorientierte Wissenschaft versteht.
• Allgemeines Begründungswissen, wie Praxisfelder in Erziehung, Bildung, (lebenslanger) Weiterbildung und Sorge von Erkenntnissen der Neurodidaktik profitieren und durch dieses Wissen ihr Handeln professionalisieren können.
1.2 Historische Wurzeln und Anfänge der Neurodidaktik
Ursprung der Didaktik
Mitte des 17. Jahrhunderts formulierte der Philosoph, Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670) in seiner Didactica magna (»Große Unterrichtslehre«; Comenius, 1657) eine erste systematische Didaktik (von altgriechisch: διδάσκειν, didáskein, ›lehren‹), die er als » Lehrkunst« (als Wissenschaft vom Lehren) bezeichnete und von der Mathetik als » Lernkunst« (als Wissenschaft vom Lernen) abgrenzte (Comenius, 1657, 1954). Seine Didaktik umfasst sehr innovative und weitreichende Überlegungen zur Gestaltung von Bildung und Erziehung. Seine bildungspolitischen Forderungen nach einer das Wesentliche umfassenden Allgemeinbildung sowie einer von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Behinderung unabhängigen Chancengleichheit (Didactica magna, Caput XI, Sp. 49: »omnes omnia omnino excoli« – »Allen alles in Rücksicht auf das Ganze zu lehren«; Comenius, 1657; Übersetzung in Comenius, 1954) haben, ebenso wie seine Forderungen nach einer zwangs- und gewaltfreien Erziehung und Unterrichtung, die auf die Fähigkeiten der Eigenmotivation und Selbststeuerung von Lernenden abzuzielen habe (Titelseite des Orbis sensualium pictus: »Omnia sponte fluant, absit violentia rebus« – »Alles fließe aus eigenem Antrieb, Gewalt sei fern den Dingen«; Comenius, 1658; Übersetzung in Comenius, 1954), bis heute nichts von ihrer gesellschaftlichen Aktualität und Bedeutung eingebüßt.
Anfänge der Neurodidaktik
Der Begriff Neurodidaktik (engl.: Neurodidactics) wurde im Jahr 1988 von Gerhard Preiß, einem an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau tätigen Professor für Didaktik und Mathematik, in die öffentliche Diskussion eingeführt, » um die Wichtigkeit zu betonen, die Ergebnisse der modernen Hirnforschung für die Didaktik zu erschließen und deren pädagogische Anwendbarkeit zu prüfen« (Friedrich, 2005; S. 8). In den 1990er Jahren beschrieb der Erziehungswissenschaftler Gerhard Friedrich (* 1959) die Neurodidaktik als
»Handlungs- und Forschungsgebiet, das insbesondere die Zusammenhänge zwischen neurobiologischen Bedingungen und Lernvorgängen des Menschen zu erkennen und zu beschreiben versucht, um daraus pragmatische Erkenntnisse für die Allgemeine Didaktik abzuleiten.« (Friedrich, 1991, S. 32).
Die Neurodidaktik nimmt alle Lernvorgänge in den Blick, die den Menschen zu zeitlich kurz- oder längerfristigen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial befähigen, was den Erwerb von Wissen sowie jede Form der Veränderung von Denk- und Gedächtnisprozessen, Motiven oder Einstellungen einschließt. Dabei fokussiert die Neurodidaktik in besonderer Weise auf die neurobiologischen Grundlagen des Lernens.
Merke
Die Neurodidaktik untersucht die Zusammenhänge zwischen den neurobiologischen Bedingungen des Menschen und seiner Lernfähigkeit, um daraus Handlungsempfehlungen und Interventionen für das Lehren und Lernen in Praxisfeldern von Erziehung, Bildung, (lebenslanger) Weiterbildung und Sorge (bzw. Pflege) abzuleiten.
Gerhard Preiß konkretisiert diese Schlüsselidee mit den nachfolgenden Worten:
» Die Neurodidaktik geht von der Lernfähigkeit des Menschen aus und sucht nach den Bedingungen, unter denen sich Lernen am besten entfaltet. Die Schlüsselidee ist dabei die Überzeugung, dass Plastizität des Gehirns und Lernfähigkeit in unauflöslicher Beziehung zueinander stehen. Die Ergebnisse der Hirnforschung machen es möglich, diese Beziehung zu erforschen. Aufgabe der Neurodidaktik ist es, die neurobiologischen Erkenntnisse für die Didaktik aufzuarbeiten, um sie auf den Prozess menschlicher Erziehung und Bildung anzuwenden.« (Zahlenland Prof. Preiß; www.neurodidaktik.de/de/leitgedanken/; letzte Prüfung: 17. April 2018)
Neuere Entwicklungen in der Neurodidaktik
Mit seinem Lehrbuch »Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen« lieferte der Pädagoge Ulrich Herrmann (* 1939), emeritierter Professor für Pädagogik an der Universität Ulm, einen sehr umfassenden Überblick über wissenschaftliche Fragestellungen und Inhalte einer modernen Neurodidaktik (Herrmann, 2006). Die Schulpädagogin Margret Arnold (* 1967) begründete in ihrer Dissertation die besondere Relevanz von Emotionen für die Neurodidaktik und das Verständnis von Lehr-/Lernprozessen (Arnold, 2002). Über diese Werke hinausgehend, mangelt es aber bis heute an einer inhaltlich und methodisch weitergehenden Bestimmung bzw. Konkretisierung neurodidaktischer Inhalte und Methoden, insbesondere vor dem Hintergrund von aktuellen Entwicklungslinien in der Erziehungswissenschaft (z. B. zu Themen der Heterogenität und Inklusion), der Psychologie (z. B. zu Themen der Achtsamkeit und der Ressourcenorientierung in der psychologischen Diagnostik und Therapie) sowie den Neurowissenschaften (z. B. zu den neuen Paradigmen und Fragestellungen der Sozialen Neurowissenschaft). Die gegenwärtige Unbestimmtheit von Inhalten und Methoden sollte als Chance verstanden werden, im Dialog der Wissenschaften die inhaltlichen und methodischen Grundpfeiler der Disziplin gemeinsam zu definieren und weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass Marion Grein (* 1966), Linguistin im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Universität Mainz, und Heiner Böttger (* 1961), Professor für die Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die Neurodidaktik unlängst für den speziellen Gegenstandsbereich des (frühen) Sprachenlernens spezifizierten (Grein, 2013; Böttger, 2016).
1.3 Zentrale Nachbardisziplinen
Bereits in den 1990er Jahren betonte Gerhard Friedrich, dass die Neurodidaktik als Brücke zwischen der Erziehungswissenschaft und den Neurowissenschaften zu konzipieren sei, deren Forschungsbemühungen » ein auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angelegtes Unterfangen« (Friedrich, 2003) darzustellen habe (siehe auch Preiß, 1992, 1996; Friedrich, 1995, 2005; Friedrich & Preiß, 2003). Heute zählen, neben den grundlagen- und handlungsorientierten Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft und der Neurowissenschaften, vor allem auch die verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie zu den zentralen Nachbardisziplinen der Neurodidaktik.
Erziehungswissenschaft
Bis in die 1970er Jahre hinein verstand sich die Pädagogik als Wissenschaft von der Erziehung, bis sie sich im 20. Jahrhundert als Erziehungswissenschaft neu definierte (Terhart, 1991; Tenorth, 2000; Lenzen, 2007) und den Fokus ihrer Untersuchungen vom schulisch-unterrichtlichen Lehren und Lernen auf alternative Lehr-/Lern-Kontexte bzw. Lernräume (z. B. frühkindliche Förderung, Bildung an Hochschulen, lebenslange Aus-, Fort- und Weiterbildung in beruflichen Kontexten, Pflege bzw. Sorge in sozialen Einrichtungen), Lernziele bzw. Lerninhalte (z. B. Förderung von...