Zum besseren Verständnis dieser Arbeit wird im nachfolgenden Kapitel das menschliche Gehirn aus neurowissenschaftlicher Perspektive dargestellt, was meines Erachtens für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Pädagogik erforderlich ist. Zunächst werden einige evolutionstheoretische Aspekte bezüglich des Menschen und seines Gehirns angesprochen.[7]
Eine Schlüsselposition in der Entwicklung der Menschheit nimmt der Homo sapiens im engeren Sinne ein, der als Vorfahre des heutigen Menschen vor 600.000 bis 150.000 Jahren gelebt hat (vgl. Roth 2003, S.79). Laut der Evolutionstheorie gab es neben dem Homo sapiens mehrere Linien des Ordnungskriteriums Primaten[8], die teilweise gleichzeitig lebten und gelegentlichen Kontakt zueinander hatten. Doch seit ungefähr 25.000 Jahren sind auch die letzten Vertreter neben dem Homo sapiens – der Homo neanderthalensis („Neanderthaler“) und der Homo erectus – von der Erde verschwunden. Seitdem ist der Mensch alleiniger Vertreter seiner Art auf Erden, wobei die Ursache des Verschwindens der anderen Primaten nach wie vor rätselhaft bleibt und Anlass für unterschiedlichste Spekulationen bietet (vgl. Ebd., S.77ff.).[9]
Ein bedeutender Einschnitt in die Evolutionsgeschichte des Menschen erfolgte in jener Zeit vor ca. 30.000 Jahren. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „kulturellen Explosion“, die sich u.a. in einzigartigen Höhlenmalereien niederschlug.[10] Zum Ende der letzten Eiszeit, vor ca. 10.000 Jahren, entstanden erste Hochkulturen in China, am Indus[11], in Mesopotamien[12] und am Nil (Ägypten), über die ein fundiertes Wissen vorliegt. Beispielsweise geht die Erfindung der Schriftsprache und der Aufbau einer Verwaltung sowie die Entwicklung von Astronomie, Mathematik, Kunst und Kultur auf diese frühen Hochkulturen zurück (vgl. Ebd., S.80f.).
Im Laufe der Evolutionsgeschichte kam es zu einer starken Zunahme des menschlichen Gehirnvolumens. Innerhalb von 3,5 Millionen Jahren hat sich das menschliche Gehirnvolumen von rund 450 ccm auf rund 1300 bis 1400 ccm verdreifacht. Grundsätzlich lässt sich bei der Evolution der Säugetiere beobachten, dass sich deren Körpervolumina kontinuierlich vergrößert haben. Jedoch bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis von Körper- zu Gehirnvergrößerung nicht proportional, sondern unterproportional erfolgte mit einem durchschnittlichen Exponenten (allometrischer Koeffizient) von rund 0,7. Dies bedeutet, dass bei einer Vergrößerung des Körpers die Größe des Gehirns zwar absolut zunimmt, jedoch in Relation zum Körpervolumen abnimmt. Was den Menschen in dieser Hinsicht auszeichnet, ist die Tatsache, dass sein relatives Gehirngewicht (in Prozent des Körpergewichts) im Verhältnis zur absoluten Körpergröße ungewöhnlich groß ist und im Vergleich zu anderen Säugetieren den Spitzenwert einnimmt (sog. Enzephalisationsquotient). Lediglich Delphine haben einen ähnlich hohen Enzephalisationsquotienten. Es lässt sich konstatieren, dass das menschliche Gehirn vor allem in den jüngsten Evolutionsphasen schneller wuchs als der Körper und dadurch die heutige „Bestmarke“ beim Enzephalisationsquotienten einnimmt. Erstaunlicherweise lässt sich seit der erwähnten „kulturellen Explosion“ keine wesentliche Vergrößerung des menschlichen Gehirns anhand anatomischer Befunde nachweisen. Dieser „große Sprung“ in der Menschheitsgeschichte mit seinen technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften, lässt sich somit bis heute naturwissenschaftlich nicht erklären (vgl. Ebd., S.81ff.).
Als abschließendes Fazit bleibt festzuhalten, dass die Größe allein nicht das entscheidende Kriterium sein kann, wenn es um die Leistungsfähigkeit des Gehirns geht. Obwohl sich im Laufe der jüngeren Menschheitsevolution die Volumenzunahme vor allem der Großhirnrinde als besonderes Merkmal herausgestellt hat, bedarf es nach Meinung führender Hirnforscher der Berücksichtigung zellulärer Vorgänge in der Hirnrinde, von denen noch zu sprechen sein wird (vgl. Singer 2002, S.63).
3.2 Zur Anatomie des Gehirns
Das Gehirn bildet zusammen mit dem Rückenmark das zentrale Nervensystem (ZNS) des Menschen. Im ZNS sind die kognitiven, exekutiven, motorischen und emotionalen Leistungen des Nervensystems verankert. Das Gehirn seinerseits kann in Groß- bzw. Endhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Brücke, Kleinhirn sowie verlängertes Mark eingeteilt werden (vgl. Roth 2003, S.94f.). Die enorme Leistungsfähigkeit des Gehirns spiegelt sich u.a. im hohen Energieverbrauch wider, wobei ca. 20% der Gesamtenergie des menschlichen Organismus vom Gehirn benötigt wird, obwohl es nur ca. 2% des Körpergewichts ausmacht (vgl. Spitzer 2007, S.13f.)
Abb. 2.: Das menschliche Gehirn (nach Kandel/Schwartz/Jessell 1996, S.9)
Das verlängerte Mark (Medulla oblongata) bildet die direkte Verlängerung des Rückenmarks zum eigentlichen Gehirn. Es ist der Ort des Ein- und Austritts mehrerer Hirnnerven, die an der Steuerung lebenswichtiger Körperfunktionen wie Schlafen, Wachen, Blutkreislauf und Atmung beteiligt sind (vgl. Roth 2003, S.94f.).
Das menschliche Kleinhirn (Cerebellum) macht ca. 10 % des Gehirnvolumens aus (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.241). Das Kleinhirn, das über die Brücke (Pons) verbunden unter dem Einfluss der Großhirnrinde steht, ist an der Feinregulierung der Muskeln beteiligt und stellt ein wichtiges Zentrum motorischer Fertigkeiten dar (vgl. Roth 2003, S.97). So ist dieser Hirnteil an der Koordination und Kontrolle zielgerichteter Bewegungen beteiligt (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.242). Außerdem hat das Kleinhirn erheblichen Anteil an kognitiven Leistungen und an der Sprache, ohne jedoch dem Bewusstsein zugänglich zu sein (vgl. Roth 2003, S.97).
Das Mittelhirn (Mesencephalon) kontrolliert verschiedene sensorische und motorische Funktionen wie Augen- und Kopfbewegungen sowie die Koordination visueller und auditorischer Reflexe (vgl. Kandel/Schwartz/Jessell 1996, S.10). Das Zwischenhirn (Diencephalon) liegt tief im Innern des Gehirns zwischen Mittelhirn und Endhirn und umfasst zwei Strukturen: Thalamus und Hypothalamus. Der Thalamus verarbeitet einen Großteil der sensorischen und motorischen Informationen, die vom restlichen ZNS zur Großhirnrinde gelangen (vgl. Ebd., S.83). „Der Hypothalamus ist das wichtigste Regulationszentrum des Gehirns für vegetative [d.h. unbewusst ablaufende, Anmerk. d. Verf.] Funktionen wie Atmung, Kreislauf, Nahrungs- und Flüssigkeitshaushalt, Wärmehaushalt, Biorhythmen und immunologische Reaktionen. Er beeinflusst lebens- und überlebenswichtiges Verhalten wie Flucht, Verteidigung, Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme“ (Roth 2003, S.98).
Das Großhirn bzw. Endhirn (Telencephalon) bildet die bei weitem größte Region des Gehirns, die auch für die enorme Größenzunahme in der menschlichen Evolutionsgeschichte verantwortlich gewesen ist. Das Großhirn umfasst die Hirnrinde sowie subcortikale Anteile (d.h. tiefer liegende Strukturen): Basalganglien, Hippocampus und Amygdala bzw. Mandelkern, die die Steuerung motorischer Aktivitäten, die Speicherung von Informationen (Aufmerksamkeit und Gedächtnis), die emotionale Bewertung und Verhaltenssteuerung beeinflussen (vgl. Roth 2003, S.98f.; vgl. Kandel/ Schwartz/Jessell 1996, S.10). Die Großhirnrinde[13] wird durch die stark gefaltete Oberfläche der beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit ihren Hirnfurchen verkörpert, die sich im Laufe der jüngeren Evolutionsgeschichte ausgeprägt haben (vgl. Ebd., S.83). Die beiden Großhirnhälften werden über den Balken (Corpus callosum) verbunden, der für den Informationsaustausch (Reizübertragung) zwischen den beiden Hemisphären verantwortlich ist (vgl. Hanser/Scholtyssek 2000a, S.146f.).
Die Großhirnrinde kann in den Isocortex und Allocortex eingeteilt werden. Der Isocortex wird wiederum in vier Lappen unterteilt.[14] Aufgrund der Unterschiede des Isocortex hinsichtlich Zelltypen, Zellkörpergröße und Zelldichte wird er in unterschiedliche Hirnrindenareale eingeteilt, die sich an anatomischen oder funktionellen Kriterien orientieren (vgl. Roth 2003, S.98f.; vgl. Hanser/Scholtyssek 2000b, S.105). Beispielsweise gibt es Areale, die sich überwiegend mit der Verarbeitung und Weiterleitung von visuellen, auditorischen, motorischen oder somatosensorischen (d.h. Druck, Berührung und Schmerz betreffenden) Signalen befassen (vgl. Hanser/Scholtyssek 2001, S.264; vgl. Singer 2002, S.64). Die sensorische Verarbeitung von Sprachmaterial wird mit dem nach seinem Entdecker benannten Wernicke-Areal in Verbindung gebracht. Dieses Areal ist...