New York City
Wo die vereinten Nationen zu Hause sind
»I’m in a New York State of Mind«
Billy Joel
Ein Wochenende, eine Woche, ein Monat – nie reicht die Zeit, um genügend New York aufzusaugen, obwohl man doch in dieser Stadt in ein paar Stunden mehr aufnimmt, als an anderen Orten in Tagen. Ob man sich nun in ein Straßencafé setzt und den Trubel an sich vorbeitreiben lässt, mit dem Taxi die Avenuen entlangfährt oder dieses ziellose Schauen durch gezieltes Sightseeing ersetzt. Manhattans Museen sind spektakulär; einige sind dermaßen reich bestückt, dass schon der Besuch einzelner Flügel einen ganzen Tag beansprucht. Man hastet weiter. Aufs Empire State Building und zur Brooklyn Bridge, in die historischen Viertel von SoHo und Harlem, zu Kaufhäusern und Flohmärkten, Galerien und Shops, zu Diners, Delis und nach downtown – wäre der Kopf eine Computerfestplatte käme bald die Meldung: Speicherkapazität erschöpft.
Manhattan Skyline am 11. September 2013
Es gibt zwei Arten, das auszuhalten und durchzustehen. Man schottet sich dagegen ab. Sucht sich ein heimeliges Nest, ein schönes Hotelzimmer oder eine kuschelige Schlafcouch bei Freunden, und immer, wenn sich der Kopf anfühlt wie der durchgeknallte Lukas-Hammer auf dem Jahrmarkt, zieht man sich zurück, holt tief Luft und entspannt. Die andere Möglichkeit: Man wirft sich hinein und setzt sich dem aus. Nimmt mit allen Sinnen und allen Poren Rhythmus, Tempo und Lautstärke auf. Läuft mehr. Schläft weniger. Liest Zeitung, auch wenn im Coffeeshop Musik morgens schon lauter dröhnt als der Straßenlärm, klappt die Ohren zu, wenn die U-Bahn kreischend einfährt, geht auf die Straße, wenn man zu Hause ins Bett schlüpfen würde.
Architektur-Ikonen in New York City: Chrysler Building und Empire State Building; letzteres war bereits zwei Jahre nach seiner Einweihung (1931) Schauplatz für die Dreharbeiten zu »King Kong und die weiße Frau«
Rainer Werner Fassbinders Satz »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« passt allzu gut zu diesem New York State of Mind, der Besucher befallen kann. Man wird durch die Stadt gepeitscht von dem Gefühl, etwas zu verpassen. Man sollte meinen, dass für New Yorker, also für Leute, die sich in diesem Gewirr und Gewusel täglich bewegen, diese Art zu leben entweder ganz anders oder völlig unmöglich ist.
Natürlich ist New York kein Paradies auf Erden (manche neigen ohnehin dazu, es eher mit der Hölle zu assoziieren). Seit 9/11, dem 11. September 2001, hat New York sein Grundvertrauen eingebüßt. Und die Schattenseiten der Stadt sind offensichtlich. Darwin hätte nicht bis auf die Galapagos-Inseln fahren müssen, um seine Theorien bestätigt zu finden: Survival of the fittest gilt auch in New York. »If I can make it there, I’ll make it everywhere« tönt es im bekanntesten New-York-Song. Doch die Kehrseite dieser Euphorie heißt: Wer es hier nicht schafft, ist ganz unten. Zwischen Chrom und Glas in Midtown sitzen Bettler, am U-Bahn-Eingang reckt sich hastenden Menschen ein Pappbecher entgegen und im pittoresken Chinatown leben Familien noch unter so beengten Bedingungen wie Einwanderer zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der Lower East Side; nur wenig durch den Umstand gemildert, dass in den düsteren Wohnküchen heute Fernseher und DVD-Player immer zu finden sind.
Ein Strom von Lichtern rund ums Flatiron Building: das bügeleisen-förmige Gebäude schrieb 1902 Geschichte als erster Wolkenkratzer Manhattans
Die Kupferne: »Lady Liberty«
Um in New York zugrunde zu gehen, gibt es aber auch subtilere Möglichkeiten. Wie vielleicht nirgendwo sonst auf der Welt kann der Mensch des 21. Jahrhunderts in New York seine Individualität ausleben. Was er auch tut, wie er lebt, es interessiert keine Menschenseele. Damit einher geht eine in anderen Gesellschaftsformen undenkbare Vereinsamung. Wo jeder der Mittelpunkt seines privaten Universums ist, sind alle anderen Lichtjahre entfernt. Die Straßen der Stadt sind eine einzige Bühne, aber: »Jeder spielt Theater, und niemand schaut zu« lautet eine gängige Weisheit. Der typische Bewohner Manhattans ist Single. Und es sieht nicht so aus, als könnte er, auch wenn er wollte, daran etwas ändern.
Die 50 Millionen Besucher, die jährlich nach New York reisen, bekommen davon nichts mit. Für die Stadt sind sie einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren, denn sie lassen 30 Milliarden Dollar am Hudson. »Jeder New Yorker Haushalt«, hat das Fremdenverkehrsamt NYC & Company errechnet, »profitiert im Schnitt mit fast 1000 Dollar am Tourismus.«
Das Jahr 2008 beendete die als »Post-9/11« etikettierte Phase abrupt: Die Finanzkrise, die im Frühsommer 2007 mit der US-Immobilienkrise begann, vernichtete an der Wall Street innerhalb kürzester Zeit über 500 Milliarden Dollar und über 150 000 Jobs. Und im Oktober 2012 traf die Stadt mit Hurrican Sandy eine der größten Naturkatastrophen der amerikanischen Geschichte. 375 000 Bewohner Manhattans und Brooklyns wurden evakuiert, die Südspitze Manhattans stand tagelang unter Wasser, Subway-Tunnel wurden geflutet und der Strom fiel aus. Das legendäre River Café unter der Brooklyn Bridge wurde komplett zerstört. Auch in Coney Island kann man die Folgen von Sandy bis heute sehen.
Als Besucher kann man sich in New York sofort wohlfühlen, denn freundlicherweise ist die Stadt übersichtlich. Auf dem Stadtplan Manhattans findet man sich einfacher zurecht, als in den Speisekarten der Stadt. Hat man sich an dem einen Abend von einer geduldigen Kellnerin den Unterschied zwischen Tacos, Enchilladas und Burritos erklären lassen, und das so halbwegs verdaut, steht man am nächsten Abend vor dem Problem, die amerikanische Variante des Italieners um die Ecke auseinanderdröseln zu wollen. Caesar’s wird man dort immer finden, einen Salat, den in Italien keiner kennt. Auch wird man neue Schreibweisen altvertrauter Getränke kennenlernen. Cappuccino etwa eignet sich offensichtlich besonders gut für alle möglichen Experimente. Von den gastronomischen ganz abgesehen: Es gibt wet cappuccino und dry cappuccino – mit viel Milch oder eben wenig Milch. In Harlem kann es passieren, dass man etwas Unbekanntes bestellt – und sich vor einem Teller dampfender Kutteln wiederfindet. Und das ganze Lokal schaut zu … Aber war das noch eine der leichteren Übungen, so kann man tags darauf nur hoffen, dass es in dem kleinen, neonhell erleuchteten Chinesen-Restaurant – das man eben deshalb ausgesucht hat, weil dort ausschließlich Chinesen sitzen – eine englischsprachige Speisekarte gibt. Hat man sich durch Chop Sueys und Dim Sums durchgefragt, darf man glücklich seine Wahl treffen. Wenn schon asiatisch, dann am nächsten Abend die hohe Schule: Sushi, Sashimi oder Tempura gefällig?
Wolkenkratzersilhouette des südlichen Manhattan mit den Firmensitzen von Merrill Lynch & American Express Company
United Colours of New York: Guardian Angels in der New Yorker U-Bahn
Wie gesagt, der Stadtplan ist dagegen übersichtlich: Rauf und runter führen die Avenuen, hin und her die Streets. Eine Ausnahme bildet der Broadway aber der ist sowieso eine Ausnahme. Allein über diese Straße könnte man ein Buch schreiben – und natürlich gibt es dieses Buch schon: Nik Cohn, »Das Herz der Welt«. Literatur und Reiseführer über New York füllen Regale, die Leser halten hiermit ein weiteres in der Hand. Es ist ein roter Faden durch die Stadt. Doch wer mit der Nase im Buch die vorbeschriebenen Wege nachgeht, wird das Beste verpassen. Kopf hoch … ganz hoch! Auch wenn New Yorker das nicht tun, man muss einfach den Kopf in den Nacken legen und immer mal wieder diese Wände hinaufschauen. Die gläsernen Canyons mit den Augen betasten; wie im Gebirge ragen Gipfel hinter anderen Gipfeln empor. Ein abgeschrägtes Dach wird überragt von einer metallenen Spitze, daneben eine vergoldete Kuppel, dahinter ein Flachdach wie von einem Bungalow. Seit der Jahrtausendwende wurden spektakuläre neue Hochhäuser gebaut.
Hat man das ausgiebig genossen, pendelt sich der Blick auf Augenhöhe ein. Denn auch wenn New Yorks Architektur fantastisch ist, die Menschen dieser Stadt sind es noch mehr. New York ist nicht nur Sitz der UN – die Vereinten Nationen flanieren durch die Straßen der Stadt. Die Vielfalt an Hautfarben ist betörend, vornehm bleiche Iren-Gesichter umrahmt von lockigen roten Mähnen, Asiatinnen mit edel glatter Haut und glattem Haar, Hispanics mit vermutetem Latin-Lover-Blick hinter der verspiegelten Sonnenbrille, skandinavienblonde Wesen, kaffeefar-bene Frauen und Männer, von espressoschwarz über cappuccinobraun bis milchkaffeebeige, die Haare zu unglaublichen Kreationen geflochten, gestriegelt und gezwirbelt. Manchmal wird man den Kopf heben müssen, so viele hochgewachsene wunderschöne Models wandeln hier, und manchmal muss man den Blick senken, um einem Bettler in die Augen schauen zu können, der neben der Tür zu einem Nobelshop zusammengekauert eine Hand bittend emporhält.
Streckt man sich spätnachmittags zwischen Stadtspaziergang und Nachtausflug erschöpft auf dem Hotelbett aus, schaltet den Fernseher ein und zappt sich durch die Programme, stellt sich mitunter ein eigenartiges Gefühl ein. Irgendwann bleibt man bei einem Werbespot, einer Soap-Opera, einer Krimi-Episode oder einem Kinofilm hängen. Man wird Bilder sehen und wiedererkennen, die man eben noch auf der Straße gesehen hat und man weiß: Man muss nur mit dem Lift...