II.Kneipen, Biker und Toiletten. Ein Jahrhundert des nicht-schwulen Sex
Heterosexuelle Fluidität wird oft als ein neuer Trend beschrieben, dabei wäre es weitaus zutreffender zu sagen, dass Menschen mit heterosexuellem Selbstbild, einschließlich heterosexueller weißer Männer, bereits seit der Erfindung der modernen heterosexuellen Identität homosexuell aktiv waren. In vielerlei Hinsicht war das binäre Paar heterosexuell/homosexuell stets eine mangelhafte Denkfigur, die zum einen darunter litt, dass man sich über die Natur sexueller Orientierung bemerkenswert uneinig war: Handelt es sich um eine Identität? ein Verhaltensmuster? ist sie angeboren oder erlernt? – Ein weiterer Mangel war ihre Unfähigkeit, komplexe erotische Konstellationen oder geschlechtliche und sexuelle Fluidität zu erfassen oder vorherzusagen.58 Trotzdem funktioniert die hetero/homo-Binarität in anderer Hinsicht als sich selbst erfüllende Prophezeiung, eben weil sie in den letzten zwei Jahrhunderten das maßgebliche Denkmuster darstellte, das dem gesellschaftlichen Leben zugrunde liegt und deshalb seine eigene Treffsicherheit erzeugt. Die meisten Menschen verstehen sich selbst entweder als heterosexuell oder homosexuell (oder – was dem Gegensatzpaar immer noch entspräche – als bisexuell).59 Die meisten von uns ignorieren gemeinsam die fluiden, facettenreichen und flüchtigen Begierden, die ein derart grob vereinfachendes Schema nur verkomplizieren würden. Man kann uns allerdings schwerlich Vorwürfe deswegen machen. Uns stehen nur diese Kategorien zur Verfügung, und wir müssen uns darin einordnen, um für die Gesellschaft, die uns umgibt, verständlich zu sein oder um unser Überleben zu sichern; es ist also kaum erstaunlich, dass die meisten es tun.
Besonders wenig sollte uns der Umstand überraschen, dass eine große Mehrheit der Menschen sich mit Heterosexualität identifiziert und zu ihrem Fortbestand beiträgt – unabhängig davon, ob sie manchmal oder sogar oft gleichgeschlechtlichen Sex haben. Für einen großen Teil ihrer relativ kurzen Geschichte basierte die Binarität hetero/homo auf der Ansicht, dass Heterosexualität bedeute, eine normale, natürliche und sittliche sexuelle Orientierung zu besitzen, während Homosexualität abnorm sei, pathologisch und verdorben. Natürlich mochte niemand die grässliche Gewalt erleiden, die an Menschen verübt wurde, die als sexuelle Außenseiter angesehen wurden. Manche Menschen – die wir treffend als ‹heterosexuell› bezeichnen können – distanzierten sich auch empört von allen subkulturellen Vereinigungen des queeren Lebens; sie wollten nichts mit Außenseiter_innen und einer Rebellion gegen die Ordnung von Sexualität und Gender zu tun haben, die später unter dem Begriff Queerness zusammengefasst werden sollte. Für Heterosexuelle war die Suche nach Wegen, am homosexuellen Sex teilzuhaben und zugleich unzweifelhaft in der Normalität verankert zu sein, ein wesentlicher Teil ihrer heterosexuellen Erfahrung.
Die Sache ist die, dass die Binarität hetero/homo uns als sexualwissenschaftliches Instrument, das einen vorhersehbaren Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Sexualverhalten unterstellt, kaum zu helfen vermag, wenn wir erklären wollen, mit welcher Häufigkeit erklärte Heterosexuelle an gleichgeschlechtlichem Sex teilhaben. Als moralischer Imperativ verstanden verrät sie uns jedoch eine ganze Menge darüber, warum erklärte Heterosexuelle – ungeachtet ihrer homosexuellen Erlebnisse – großen Wert darauf legen, heterosexuell zu sein. Mit diesem Spannungsverhältnis im Blick bietet dieses Kapitel einen kurzen geschichtlichen Abriss der homosexuellen Verhaltensweisen heterosexueller (‹normaler›) weißer Männer seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Ich werde aufzeigen, dass die sexuelle Binarität, sofern sie vorgibt, zwei verschiedene Männertypen zu beschreiben – Heterosexuelle und Homosexuelle, die jeweils völlig anderen Sex praktizieren – immer schon eine Art Fiktion war. Und doch hat die weite Verbreitung dieser Fiktion tatsächlich unterschiedliche Kulturformen, erotische Begierden und politisches Handeln hervorgebracht, die auch heute noch sinnvoll als einerseits normativ, andererseits queer verstanden werden können.
Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung begutachtet dieses Kapitel das homosexuelle Handeln ‹normaler› weißer Amerikaner. Ich beginne mit einem sehr kurzen Überblick über das Erscheinen der Persönlichkeit des ‹heterosexuellen weißen Mannes› und ihren Rang als Urbild normaler Sexualität. Hieran schließt sich eine Chronologie nicht-schwuler sexueller Begegnungen weißer Männer im 20. Jahrhundert an – es ist zugleich ein Rundgang durch die Immigrant_innenkneipen New Yorks des frühen 20. Jahrhunderts; über die Highways Kaliforniens, die von den Biker Gangs der Hell’s Angels unsicher gemacht wurden; durch öffentliche Toiletten als Schauplätze ‹schwuler Sexskandale› in den 1980er Jahren. Wir werden die Evolution der sexuellen Binarität im zurückliegenden Jahrhundert verfolgen und ihre Auswirkungen auf das US-amerikanische Verständnis von Homo-Sex unter normalen – männlichen, heterosexuellen und weißen – Männern untersuchen.
Die Erfindung des weißen heterosexuellen Mannes
Ein Großteil des homosexuellen Treibens ‹weißer Hetero-Typen› entging den Stigmatisierungen, mit denen Farbige on the down low ebenso wie queere Personen jeder Art rechnen müssen. Wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, liegt das daran, dass weiße heterosexuelle Männer über einige mächtige kulturelle Hilfsmittel verfügen, die anderen nicht zur Verfügung stehen, vor allem ein Set rhetorischer Narrative, mit denen sie ihren intimen Umgang mit anderen Männerkörpern zum notwendigen und nicht-sexuellen Kitt der ‹Bruderschaft weißer Männer› umdeuten können, als Mittel zur Steigerung ihrer Risikofreudigkeit und zur Initiation in ihre Kreise. Um aber zu verstehen, wie und warum heterosexuelle weiße Männer Nutznießer dieser Narrative wurden, sollten wir die Vorstellungen von der Fluidität oder Festigkeit ihrer Sexualität bis zur Geburt des weißen Hetero-Kumpels zurückverfolgen.
Darum geht es in diesem Kapitel, und man sollte meinen, dass man eine Unzahl von Untersuchungen dazu heranziehen müsste. Jedoch so ergiebig und bedeutsam die Geschichte weißer heterosexueller Männlichkeit auch sein mag – in der Tat ein eindrucksvolles Beispiel für die intersektionale Konstruktion von Sexualitäts-, Geschlechts- und ‹rassischen› Kategorien –, so ist sie ebenfalls überraschend kurz. Das liegt daran – wie von Sexualitätshistoriker_innen inzwischen hinreichend nachgewiesen wurde –, dass die Kategorien heterosexuell und homosexuell selbst relativ jung sind: Sie erschienen zunächst in medizinischen Zeitschriften des späten 19. Jahrhunderts, doch es dauerte noch bis weit in das 20. Jahrhundert, bis sie bekannt und von der US-amerikanischen Öffentlichkeit angenommen wurden. Während Weißsein und Mannsein im 19. Jahrhundert bereits strukturell gut etabliert waren, war eine heterosexuelle Identität, wie wir sie heute kennen, noch nicht bekannt. Es gab ‹normale Männer›, und es gab jene, die ihre Geschlechtlichkeit in einer Weise zum Ausdruck brachten, die als queer oder irgendwie seltsam galt. Doch – wie gleich noch zu zeigen sein wird – waren dies nuancierte Kategorien, die weitaus weniger mit homosexuellem Umgang (oder dessen Abwesenheit) zu tun hatten, als wir es uns heute vorstellen würden. Die Menschen haben sich natürlich immer schon sexuell mit dem anderen oder mit dem eigenen Geschlecht beschäftigt; dass diese Verhaltensweisen allerdings eine Identität oder Persönlichkeit begründen, ist eine recht moderne Idee, die sich in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts in komplexem Zusammenhang mit kulturellen Formationen wie ‹Rasse›, Geschlecht und Klasse entwickelte.60
Wie der Historiker Jonathan Ned Katz in seinem Klassiker The Invention of Heterosexuality erläutert, erschien der Begriff ‹Heterosexualität› zum ersten Mal in der medizinischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts: nicht als Beschreibung eines Naturstandards, sondern einer sexuellen Perversion von Männern wie Frauen, die sich ohne Fortpflanzungsabsicht sexuell begehrten. Schon vor dem viktorianischen Zeitalter glaubte man seit vielen Jahrhunderten, Sex folge direkt und ausschließlich einem Fortpflanzungsinstinkt. In eben dieser Bedeutung gelangte der Begriff ‹heterosexuell› in den medizinischen Sprachgebrauch der Vereinigten Staaten jener Jahre: als Bezeichnung für ein abnormes Verlangen nach sexuellem Umgang mit dem anderen Geschlecht und ohne Fortpflanzungsabsicht. Katz beschreibt, welche Therapie für Heterosexualität von prominenten Ärzten des ausgehenden 19. Jahrhunderts empfohlen wurde:
Als Behandlung für seine abnormen Heteros und Homos schlug Dr. Hughes, ein amerikanischer Arzt, heroische Maßnahmen vor: Hypnose und manchmal operative Eingriffe. Wegen ihrer teils prokreativen, teils nicht-prokreativen Veranlagung stand der Heterosexuelle für ihn – wie auch für Dr. Kiernan im Jahre 1892 – zusammen mit den nicht-prokreativen Homos im Pantheon der sexuellen Perversionen.61
Bei ihrer ersten sexualwissenschaftlichen Thematisierung fehlte nicht viel und Heterosexualität wäre unter Beobachtung gestellt worden; sie war eine von mehreren Sexualpraktiken, die zu widernatürlicher Vergeudung von Sperma führen konnten, und stand damit auf einer Stufe mit Masturbation und Homosexualität. Diese Vorstellung kann bis weit in das 20. Jahrhundert belegt werden: in Dokumenten, die Heterosexualität als eine Perversion darstellen, die sich nicht nur durch Leidenschaft für das...