Einleitung
Meine Großtante mütterlicherseits, Anna Amalie Andresen (27. Juli 1890 – 15. Okt. 1975), erzählte mir als Kind immer wieder in eindrucksvoller Weise von dem Leben der Familie Andresen und dem Schicksal ihres ältesten Bruders Nikolaus. Sie weckte gleichsam schon früh den Wunsch in mir, die Familientradition fortzuführen und, wie mein Großonkel, Geschichte für das gymnasiale Lehramt zu studieren. So wie Nikolaus Andresen vor dem Ersten Weltkrieg das Studium der Philologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen begann, sollten auch mich meine Schritte aus der norddeutschen Heimat in den Süden lenken, um an der Universität Konstanz das Studium der Geschichtswissenschaften und Biologie zu ergreifen.
Diese historische Biographie zeichnet das Leben von Nikolaus Franz Christian Andresen (28. Jan. 1884 – 18. Sept. 1915) nach und ordnet es in einen geschichtlichen Zusammenhang ein. Als Grundlage dient vor allem das für die Hinterbliebenen und Nachfahren bestimmte Werk seines jüngsten Bruders Theodor Franz Andresen (25. Apr. 1894 – 27. Jan. 1949) aus dem Familienarchiv Andresen. Dieses 1932 erschienene, 147 Seiten umfassende Typoskript mit dem Titel „Dem Gedächtnis meines Bruders Nikolaus Andresen“ umfasst im ersten Teil die Kapitel „Kindheit und Heimat“, „Der Schüler“, „Der Student“, „Der Soldat“, „Der Lehrer“, „Krieg und Tod“, gibt im zweiten Teil Auszüge aus den hinterlassenen Briefen der Schüler-, Studenten- und Soldatenzeit von Nikolaus
Andresen wieder und zitiert im dritten Teil aus seinen im Nachlass gefundenen Gedichten.1 Theodor Andresen verfasste ebenfalls eine dreibändige Chronik seiner Familie, in der er ebenfalls auf das Leben seines ältesten Bruders eingeht und einige seiner Briefe auszugsweise übernommen hat.2 Mein Großvater übertrug ferner 1936 viele Kriegsbriefe von Nikolaus Andresen in gotischer Frakturschrift in ein eigenes Werk.3 Mein Bruder, der Archäologe Dirk Meier, hat zwar jüngst bereits die meisten von Theodor Andresen edierten Kriegsbriefe und Feldpostkarten in einem kurzen Zeitschriftenartikel veröffentlicht, diese jedoch nur sehr grob in einen allgemeinen historischen Zusammenhang eingeordnet und vor allem nicht mit Erinnerungen anderer Soldaten des Regiments verglichen, wie es in dieser Monographie geschieht.4
Die in Auszügen herangezogenen persönlichen Erinnerungen meines Großvaters Theodor Andresen sollen den Zugang zur Persönlichkeit seines gefallenen Bruders erleichtern und diese familiären Egodokumente erstmalig in einen konkreten historischen Zusammenhang eingebettet werden. Dabei wird der Schwerpunkt der historischen Analyse auf der Kriegszeit bis zum Tod von Nikolaus Andresen am 18. Sept. 1915 liegen.
Kriegsbriefen und Regimentserinnerungen kommt deswegen eine große Bedeutung zu, weil die Originaldokumente der preußischen Armee – im Ersten Weltkrieg bestand das Heer aus den Armeen der deutschen Länder – beim amerikanischen Luftangriff auf Potsdam im Frühjahr 1945 verbrannt sind. Immerhin stehen uns die gedruckten Bände des Reichsarchivs zur Verfügung. Dieses amtliche deutsche Werk über den Landkrieg wurde zwischen 1924 und 1935 (Bd. 1 - 9) vom Reichsarchiv, zwischen 1935 und 1938 (Bd. 10 - 11) vom Oberkommando des Heeres und ab 1939 (Bd. 12 - 14) von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres herausgegeben.5 Als weitere wichtige Reihe erschien im Auftrag des Reichsarchivs zwischen Anfang 1921 und Oktober 1933 die Reihe „Schlachten des Weltkrieges“.6 Weitaus wichtiger für eine historische Verortung der Kriegsbriefe von Nikolaus Andresen sind jedoch die von Oberstleutnant a. D. Hülsemann in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts herausgegebenen Erinnerungen des Infanterie-Regiments von Manstein (Schleswigsches) Nr. 84 (1914 - 1918).7 Darin wird der Unteroffizier d. R. und spätere Leutnant d. R. Nikolaus Andresen mehrfach erwähnt, was in meiner Familie bislang unbekannt war.8 Oberstleutnant a. D. Hülsemann betont die historische Bedeutung seiner Arbeit für die ersten beiden Monate des Krieges im Westen, die auch Nikolaus Andresen erlebte:
Die Berichterstattung über die Ereignisse während der Offensive durch Belgien und Frankreich im August und September 1914 stößt auf die größten Schwierigkeiten. Die Kriegstagebücher enthalten nur in kurzen Stichworten die notwendigsten Tatsachen. Ausführlichere Angaben sind kaum noch zu erhalten. Alle diejenigen, die jene Zeit beim Regiment miterlebt haben, werden daher dringend gebeten, mir Beiträge zu liefern oder ihre Tagebücher und sonstigen Aufzeichnungen, wie Feldzugsbriefe und dergl. zur Verfügung zu stellen. Rückgabe wird zugesichert.9
Leider erreichte dieser Aufruf meinen Großvater, Franz Theodor Andresen, den Chronisten und Archivar der Familie Andresen, nicht. So kann ich nur das zusammenführen, was zusammen gehört, die Erinnerungsblätter der ehemaligen Mansteiner und die Kriegsbriefe von Nikolaus Andresen.
Diese Biographie zerfällt in drei Teile und folgt im Wesentlichen der Gliederung meines Großvaters. Nach einigen Bemerkungen zu Kindheit und Jugend, Schul- und Studentenzeit werden die Kriegsbriefe des Nikolaus Andresen im Zusammenhang mit Kriegserinnerungen von Kameraden seines Regiments vor dem historischen Hintergrund interpretiert, womit eine historische Biographie entsteht, die über die bloße Aneinanderreihung persönlicher Dokumente hinausgeht. Denn nur durch die Heranziehung der Erinnerungen anderer Kriegsteilnehmer ist es möglich, Lücken in der Biographie von Nikolaus Andresen zu schließen und über die Vorarbeit meines Großvaters Theodor Andresen hinauszugelangen. Dieser Abschnitt nimmt daher auch den größten Raum ein. Zum Schluss sollen einige Gedichte von Nikolaus zum Abdruck kommen. Auf diese Weise entsteht eine historische Biographie, die persönliche Zugänge mit wissenschaftlicher Geschichtsschreibung vereint, wobei der biographische Zuschnitt der Darstellung nicht verloren gehen soll.
Die Orthographie der zitierten Quellen wurde in der Regel beibehalten. Daher steht etwa die alte Schreibweise „Kompagnie“ neben der neuen Form „Kompanie“. Egodokumente erscheinen zur besseren Sichtbarkeit in einer kursiven Schrifttype.
1 Theodor Andresen, Dem Gedächtnis meines Bruders Nikolaus Andresen, geb. 28.1.1884, gest. 18.9.1915, Flensburg 1932, unveröffentlichtes Typoskript (Familienarchiv Andresen).
2 Theodor Andresen, Die Familie Andresen, drei Bände, mit Nachträgen bis 1942, Flensburg 1935/36 (Abschrift von Dirk Meier 1999).
3 Theodor Andresen, Die Kriegsbriefe meines gefallenen Bruders, Flensburg 1936 (unveröffentlichtes Manuskript in gotischer Kunstschrift, Familienarchiv Andresen).
4 Theodor Andresen (†)/Dirk Meier, Die Kriegsbriefe des Leutnants Nikolaus Andresen, in: Natur- und Landeskunde. Zeitschrift für Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg. hrsg. vom Verein DIE HEIMAT, gegründet 1890, Nr.7-8, 122. Jahrgang, Husum, Juli-Aug. 2015, S. 129-149.
5 Der Weltkrieg 1914 bis 1918, bearb. im Reichsarchiv. Im Auftrag des Oberkommandos des Heeres bearb. und hrsg. von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, Bd. 1: Die Grenzschlachten im Westen (12 Karten), Bd. 2: Die Befreiung Ostpreußens (14 Karten), Bd. 3: Der Marnefeldzug. Von der Sambre zur Marne (7 Karten), Bd. 4: Der Marnefeldzug. Die Schlacht (10 Karten), Bd. 5: Der Herbst-Feldzug 1914. Im Westen bis zum Stellungskrieg. Im Osten bis zum Rückzug (18 Karten), Bd. 6: Der Herbst-Feldzug 1914. Der Abschluß der Operationen im Westen und Osten (21 Karten), Bd. 7: Die Operationen des Jahres 1915. Die Ereignisse im Winter und Frühjahr (40 Karten), Bd. 8: Die Operationen des Jahres 1915. Die Ereignisse im Westen im Frühjahr und Sommer, im Osten vom Frühjahr bis zum Jahresschluß (39 Karten), Bd. 9: Die Operationen des Jahres 1915. Die Ereignisse im Westen und auf dem Balkan vom Sommer bis zum Jahresschluß (34 Karten), Berlin 1925.
6 Schlachten des Weltkrieges, hrsg. vom Reichsarchiv, 36 Bände, Berlin 1921 bis 1933. Für den hier betrachteten Zeitraum bis zum 18. Sept. 1915 kommen folgende Bände in Frage: Bd. 22: Major a. D. Thilo v. Bose, Das Marnedrama, Teil I.; 1928; Bd. 23: Major a. D. Thilo v. Bose, Das Marnedrama, Teil II., 1928, Bd. 24: Major a. D. Thilo v. Bose, Das Marnedrama, Teil III. 1. Abschnitt, 1928, Bd. 25: Major a. D. Thilo v. Bose, Das Marnedrama, Teil III. 2. Abschnitt, 1928, Bd. 26; Hauptmann a. D. R. Dahlmann, Das Marnedrama, Teil IV., 1928.
7 Hülsemann, Geschichte des Infanterie-Regiments von Manstein (Schleswigsches) Nr. 84 (1914 - 1918), in: Einzeldarstellungen von Frontkämpfern. Erinnerungsblätter der ehemaligen Mansteiner, Hamburg 1929 [fortan zit. Hülsemann, Erinnerungsblätter].
8 Hülsemann, Erinnerungsblätter, 1. Folge, Nr. 19, Hamburg 1927, S. 184 und 2. Folge, Nr. 1, Hamburg 1921; Nr. 4, Hamburg 1922, S. 6, 28, 29; Nr. 5, Hamburg 1923, S. 35; Nr. 18, Hamburg 1927, S. 177;...