Geleitwort zur Neuausgabe
Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg, die Witwe des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg, beschäftigte sich intensiv mit der Literatur über die nationalsozialistische Diktatur, »doch irgendwann ließ ihr Interesse nach – sie war ermüdet von den Interpretationen der Historiker, die sich ihrer Meinung nach zu wenig um die Zeitzeugen scherten und lieber eigene Thesen aufstellten. Und sie wollte nicht weiterverfolgen, wie die Tat ihres Mannes in teilweise ideologisch gefärbten Diskussionen zerredet wurde«. Mit solchen Einschätzungen stand Nina von Stauffenberg nicht allein. Während viele Zeitgenossen ihre individuellen Erfahrungen in historischen Darstellungen nicht angemessen oder gar nicht repräsentiert finden, betonen die Historiker die selektive Begrenztheit individueller Erinnerungen, die überdies durch spätere Erfahrungen, Gelesenes und Gehörtes überlagert werden. Charakteristisch für Historiker ist die sachliche und zeitliche Distanz, die es erlaubt, Entwicklungen und Phänomene im Zusammenhang zu überblicken. Für die Zeitgenossen aber zählt die Nähe persönlichen Empfindens – die Perspektiven sind zwangsläufig unterschiedlich. Quellenkritik nicht allein schriftlicher, sondern auch mündlicher Überlieferung gehört daher zum geschichtswissenschaftlichen Handwerkszeug. Und ihre Biografin konstatiert für Nina von Stauffenberg am Ende ihres langen Lebens eine vergleichbare Einsicht: »… es kam der Moment, als sie sich nicht mehr wirklich sicher war, was sie selbst erlebt und was sie gelesen oder gehört hatte.«
Diese Biografie stellt folglich ein eigenes Genre dar: Es ist nicht das Werk eines Historikers, aber auch kein zeitgenössischer Bericht, hat von beidem etwas und gewinnt den Reiz zum einen aus der Persönlichkeit Nina von Stauffenbergs selbst, zum anderen aus der anschaulichen Darstellung auf der Grundlage unterschiedlicher Quellen. Dazu zählen eine in den 1960er-Jahren durch die Gräfin verfasste historisch weit zurückreichende Familienchronik, Briefe, zeitgenössische Berichte und schließlich Gespräche mit der Protagonistin selbst. Diese persönlichen Zeugnisse geben dem Buch Farbe und lassen Nina von Stauffenberg lebendig werden. Die Autorin, Konstanze von Schulthess, ist die jüngste, ein halbes Jahr nach der Hinrichtung ihres Vaters in Gefangenschaft geborene Tochter des Widerstandskämpfers, ihr gelingt ein liebevolles, einfühlsames Porträt ihrer Mutter, ihres Schicksals und ihres familiengeschichtlichen Hintergrunds.
Dieses Porträt hat auch deshalb besonderen Wert, weil tatsächlich in den Darstellungen des deutschen Widerstands gegen Hitler und der NS-Diktatur die Geschichte der Familien der Widerstandskämpfer, vor allem die vom Regime in Sippenhaft genommenen Frauen, selten angemessen gewürdigt werden. Dafür gibt es Gründe: Die Widerstandskämpfer stehen als Handelnde im Mittelpunkt, ihre Motive, Ziele, politische Entwicklung müssen rekonstruiert werden. Ein erfolgreiches Attentat hätte den Lauf der Geschichte beeinflussen können, im Falle des Kriegsendes sogar noch im Juli 1944 den Deutschen und ihren Nachbarvölkern Millionen von Opfern ersparen können. Das Scheitern und die Hinrichtung der Widerstandskämpfer bilden die eigentliche Tragödie.
Oft ist die Quellenlage für das Familienschicksal nicht besonders ergiebig, eher waren es die Enkel, die sich später zu Wort meldeten als die Witwen selbst. Ihr schweres Schicksal aber verdient doppelte historische Aufmerksamkeit, zum einen weil sie aufgrund des Widerstands ihrer Männer selbst zu Opfern wurden, zum anderen, weil sie meist keineswegs passive, willenlose Familienmitglieder waren, sondern oft ethisch und politisch unentbehrliche Stützen des Widerstands wurden. Und insofern gewann ihr mitverantwortliches Handeln nicht allein während der Diktatur zeitgeschichtliche Bedeutung, sondern ebenfalls ihr Bild in der zeitweilig widersprüchlichen gesellschaftlichen Beurteilung des Widerstands in Deutschland vor und nach 1945. Auch nach Kriegsende mussten die nächsten Angehörigen entweder mit dem noch viele Jahre unausrottbaren Odium leben, Ehefrauen von ›Verrätern‹ zu sein, oder sie wurden zu vermeintlich passiven Witwen von Helden. Man kann den Unmut, ja die Verärgerung Nina von Stauffenbergs nachvollziehen, wenn Klischees über die Widerstandskämpfer selbst oder ihre Witwen im Umlauf waren und es sogar auf die Filmleinwand schafften – prägen sich doch Bilder stärker ein als alle historischen Fakten. Sie selbst war, wenn auch nicht in die Einzelheiten, so doch prinzipiell in die Beteiligung ihres Mannes am Widerstand eingeweiht und billigte sein Handeln.
Tatsächlich wandelte sich das in Wissenschaft und Gesellschaft vorherrschende Bild des Widerstands mehrfach: Ursprünglich beurteilten sogar viele Hitler-Gegner den Widerstand als Verrat und missbilligten den Eidbruch der an ihm beteiligten Offiziere. Selbst nachdem die Massenverbrechen des NS-Regimes in den ersten Nachkriegsjahren immer bekannter wurden, verstummte diese Kritik nicht völlig. Einen Wendepunkt markierte die große Rede, die Bundespräsident Theodor Heuss zum zehnjährigen Gedenktag des 20. Juli 1954 hielt: ›Vom Vermächtnis des deutschen Widerstands‹. Heuss würdigte zu Recht die singuläre ethische und politische Bedeutung des Versuchs, die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland selbst zu beseitigen und nicht darauf zu warten, bis sie von außen besiegt wurde. Zutreffend würdigte Heuss die humanitären Motive – Motive, die ohne jeden Zweifel auch für Claus von Stauffenberg ausschlaggebend waren. Seit der Rede von Heuss, der den Widerstand gegen Hitler als »Geschenk an die deutsche Zukunft« rühmte, verstärkte sich das positive Bild des deutschen Widerstands und überwog schließlich bei weitem.
Jüngere Historiker haben später diesem lichten Bild dunklere Farbtöne hinzugefügt und gefragt: Warum so spät? Waren nicht andere Motive ausschlaggebender, beispielsweise die Absicht, angesichts der drohenden Niederlage NS-Deutschlands bessere Friedensbedingungen von den voraussichtlichen alliierten Kriegssiegern zu erreichen? Bestand das Ziel wirklich in einer parlamentarischen Demokratie oder waren nicht die Gesellschaftspläne und politischen Konzeptionen im deutschen Widerstand eher restaurativ-reaktionär, zumindest dezidiert konservativ?
So berechtigt und notwendig für jede geschichtswissenschaftliche Analyse solche kritischen Fragen auch sind, manche führen meines Erachtens in die Irre.
Das Problem beginnt mit der Quellenlage: Da der Widerstand streng geheim organisiert werden musste, war jede schriftliche Information lebensgefährlich, wenn sie von der Gestapo gefunden wurde. Solche Zeugnisse aus Widerstandskreisen sind naturgemäß rar. Auch in Fällen, in denen wir keine Belege dafür haben, wann sich der Einzelne zum aktiven, lebensgefährlichen Widerstand entschlossen hat, besagt das keineswegs, dass er sich erst zum Zeitpunkt der ersten nachweisbaren Aktivitäten entschieden hatte. Auch bei Stauffenberg gibt es dazu unterschiedliche Interpretationen, die Historiker gehen in der Regel von 1941/42 aus. Konstanze von Schulthess stellt dar, warum ihre Mutter, die es schließlich am besten wissen musste, überzeugt davon war, dass ihr Mann schon vorher Hitler und sein Regime kompromisslos ablehnte. Und die von ihrer Mutter berichteten pragmatischen Überlegungen Claus von Stauffenbergs waren realistisch: So wäre es beispielsweise seit der wirtschaftlichen Erholung des Deutschen Reiches in den 1930er-Jahren, seit den außenpolitischen Erfolgen und auf dem Höhepunkt der anfänglichen militärischen Siege des NS-Reiches 1939/40 kaum möglich gewesen, der deutschen Gesellschaft und der überwiegenden Mehrheit der Offiziere und Soldaten ein Attentat auf den zeitweilig ja höchst populären ›Führer‹ plausibel zu machen. Eine neue Dolchstoßlegende wäre die Folge gewesen. Obwohl der Terror des Regimes schon 1933 offenkundig war und das Judenpogrom 1938 sowie andere schwerwiegende Verbrechen vor dem Krieg begangen wurden, begannen die Massenmorde des Regimes erst mit der Besatzung insbesondere Polens 1940 und der Sowjetunion ab Sommer 1941. Und doch gab es längst vorher Widerstandsaktivitäten und Attentate, sie begannen keineswegs erst 1944, als Stauffenberg selbst schon durch schwere Kriegsverletzungen gezeichnet war.
Wenig wahrscheinlich ist allerdings, dass Stauffenberg und andere führende Widerständler den ›Anschluss‹ Österreichs 1938 sowie die Einverleibung des Sudetenlandes ablehnten: Zum einen handelte es sich im Falle Österreichs ursprünglich keineswegs um ein nationalsozialistisches Projekt. Vielmehr hatten sowohl die deutsche als auch die österreichische Nationalversammlung 1919 die Vereinigung beider Staaten gefordert, doch wurde sie von den alliierten Kriegssiegern in den Verträgen von Versailles und Saint Germain untersagt. Zum anderen lebten im Sudetenland in geschlossenen Siedlungsgebieten etwa drei Millionen Deutsche; die tatsächlichen Grenzziehungen widersprachen dann jedoch dem Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts, das der amerikanische Präsident Wilson 1918 postuliert hatte und das als eine Leitlinie für die Friedensschlüsse 1919/20 gelten sollte.
Tatsächlich bedeutete für die damaligen Generationen der Eidbruch eines Offiziers ein schwer überwindliches Tabu. Der Weg in den Widerstand war für die Beteiligten, die allesamt Patrioten waren, ungewöhnlich schwer – nicht allein für die vielen, die mit Stauffenberg 1933 zunächst die Illusion teilten, mit Hitler wäre ein nationaler Wiederaufstieg aus dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Elend zu Beginn der 1930er-Jahre möglich. Abgesehen davon konnten Motive und politische Ziele unterschiedlich sein, der deutsche Widerstand gegen Hitler war heterogen. Mit guten...