1
VORSPIEL
Und dann ist da diese riesige Wand, gelb und schwarz und ungezähmt. Sie kann es kaum erwarten zu explodieren. Sie will dieses Gefühl zurück, diesen Rausch, dieses Glück. Seit Jahren verzehrt sie sich danach. Es hat sich aber nicht zurückholen lassen, sosehr sie es auch wollte. Nun aber, an diesem Abend des 10. November 2018, läuft Paco Alcácer der Wand entgegen. Niemand kann ihm folgen, kein Mats Hummels, kein Jérôme Boateng. Niemand. Er hat alle abgeschüttelt, nur der Ball ist noch bei ihm. Mit jedem seiner Schritte kommt nun auch ein bisschen von jenem Glück zurück zum wilden Herzen der Borussia, zur Südtribüne, zur Wand, zu jedem Gelb und zu jedem Schwarz. Und zur Ehrentribüne kommt es auch. Zu Hans-Joachim Watzke, der den Atem anhält.
Nur noch Manuel Neuer steht zwischen Paco Alcácer und der Explosion; noch vierzig Meter, noch dreißig, noch zwanzig. Jeder seiner Schritte ist für die Wand jetzt wie ein Versprechen. Mit jedem Schritt wogt sie stärker und wilder, wie eine riesige Welle, auf und ab, hin und her. Die Welle verwandelt jeden Schritt Alcácers in ihre eigene riesenhafte Bewegung, und als er in den Strafraum eindringt, türmen sich das Schwarz und das Gelb auf. Wie eine Welle, bevor sie bricht. Manuel Neuer stemmt sich der Naturgewalt mit ausgebreiteten Baumstamm-Armen entgegen, ganz allein.
Watzke wird auf der Tribüne von der Welle erfasst. Sein Oberkörper schnellt nach vorne, näher ans Geländer heran, ans Spielfeld. Als sich Alcácer und der Riese im Tor nun im Strafraum Auge in Auge gegenüberstehen, scheint das gesamte Stadion zu verstummen. Stille, wie im Auge eines Orkans. In diese angespannte Ruhe hinein zuckt Alcácer kurz mit der Hüfte, fast unmerklich. Neuer erliegt diesem kaum sichtbaren Reiz, erst als er fällt, merkt er, dass er in die Falle gegangen ist. Aber da ist es zu spät. Alcácer hat nicht geschossen, er hat den Schuss nur angedeutet, verzögert. Als wollte er den Moment vor der Explosion noch ein wenig hinauszögern, ihn noch ein bisschen länger genießen. Dann schießt er, nicht hart, ein gefühlvoller Lupfer bloß. Es sieht aus wie ein Kinderspiel, so einfach und leicht. Als Neuer zu Boden sinkt und der Ball ganz langsam, fast wie in Zeitlupe, an ihm vorbei seinen Weg in die linke, hintere Torecke findet, erbebt die Wand. Was folgt, ist ein einziger Schrei: kehlig, animalisch. Alles, was sich an ungelebten Gefühlen und enttäuschten Hoffnungen aufgestaut hat in den vergangenen Jahren, entlädt sich nun, bricht ekstatisch hervor. Eigentlich ist es ist nur ein Tor, aber dieser Moment ist für die Wand wie eine Erlösung.
Auf der Tribüne springt Watzke von seinem Sitz auf, in den er sich zuvor das gesamte Spiel gezwungen hatte, als ob er sich selbst daran fesseln müsste, um seine Emotionen zu bändigen. Jetzt steht er mit aufgerissenem Mund an der Brüstung. Ein stummer Schrei in die Nacht, die Faust dem Orkan entgegengestreckt. Ein paar Sekunden, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Watzke schaut zu Matthias Sammer, der direkt neben ihm auf der Tribüne sitzt. Er umarmt ihn nicht in diesem Moment, er sagt auch nichts, muss er auch nicht. Beide spüren, was dieses Tor bedeutet: den Anfang einer neuen Zeit.
Mit dem Treffer von Paco Alcácer, mit diesem 3 : 2 für Borussia Dortmund, enden sechs Jahre Alleinherrschaft des FC Bayern München in der Fußball-Bundesliga. Die Diktatur des deutschen Rekordmeisters löst sich in diesem Augenblick auf. Das scheint ein ganzes Stadion zu ahnen, zu spüren, zu hoffen.
Denn noch ist das Spiel nicht vorbei. Und schon zweimal hat der wankende Gigant in diesem Duell seine enormen Kräfte mobilisieren können, von denen viele glaubten, er habe sie bereits verloren. In der gesamten ersten Halbzeit waren die Bayern stark und unverwundbar gewesen, wie immer in den vergangenen Jahren. Sie spielen von Beginn an besser, schneller und entschlossener als der BVB. Und sie führen bald 1 : 0 durch Robert Lewandowski. Seine Tore versetzen Watzke und allen anderen Borussen im Stadion immer einen Stich. Der tiefer geht, als wenn ein anderer Bayern-Spieler trifft. Ausgerechnet ihr einstiger Held, ihr Liebling. Watzke sinkt beim 0 : 1 von Lewandowski in sich zusammen. Sein Kopf fällt in den Nacken, als wäre die Kraft aus allen Muskeln gewichen, die ihn halten. Seine geschlossenen Augen sind auf einen schwarzen Himmel gerichtet, den er nicht sieht.
Ich bin immer sehr konzentriert während des Spiels. Viele meinen, dass ich dann grimmig gucke, aber das ist nicht der Fall. Ich bin einfach komplett konzentriert. Ich sehe nichts anderes, ich denke nichts anderes. Nur das Spiel, wie es sich entwickelt. Ich versuche immer, ein oder zwei Züge vorauszudenken. Das Tor von Lewandowski habe ich schon in der Entstehung kommen sehen, weil wir Serge Gnabry zu sorglos flanken lassen. Ich habe den Moment des Gegentores schon zwei Sekunden vorher durchlitten, bevor es dann wirklich passiert ist. Und so ein Tor in so einem Spiel, von dem du weißt, wie schwierig es ist, das noch auszugleichen, das ist ein Stich, ein tiefer Stich.
In der Pause wechseln Watzke und Sammer ein paar Worte auf der Tribüne, sie gehen die erste Halbzeit durch. Watzke steht mit eingefrorenen Gesichtszügen da, wie versteinert. Als der Vater eines kleinen Borussen-Fans ihn um ein Selfie mit seinem Jungen bittet, nickt Watzke wie ferngesteuert. Er stellt sich steif dazu und blickt ins Leere.
Watzke und Sammer sind zur Halbzeit froh, dass noch nicht alles verloren ist. Es hätte schlimmer kommen können, auch ein 0 : 2 oder 0 : 3 war möglich, ein aussichtsloser Rückstand. Beide hoffen, dass Trainer Lucien Favre in der Pause umstellt. Das Mittelfeld ist in der ersten Halbzeit das Problem des BVB. Das sieht auch Favre von der Trainerbank so. Er stellt in der Pause um. Mahmoud (»Mo«) Dahoud kommt für Julian Weigl, sofort ändert sich das Spiel, und nach wenigen Minuten ist auch die erste Dortmunder Chance zum Ausgleich da. Marco Reus stürmt in den Strafraum, und Manuel Neuer macht in diesem Moment, was er in all den Jahren zuvor nicht gemacht hat: Er verschätzt sich bei seiner Abwehraktion und bringt Reus zu Fall. Elfmeter.
Watzke kann nicht hinsehen. Reus läuft an. Die gelbe Wand, auf die er zuläuft, zittert vor Erregung. Und dann ein Schrei, zehntausendfach. Watzke schlägt die Augen auf, 1 : 1.
Die alte Macht wankt, aber sie gibt nicht auf. Als sich die jungen Dortmunder noch an ihrem Ausgleichstreffer begeistern und an dem Aufbruch, der in diesem 1 : 1 zu stecken scheint, schlägt das Imperium zurück, keine drei Minuten später. Unbarmherzig, wie es nur die Bayern können.
Es ist wieder Robert Lewandowski, der die Borussen ins Herz trifft. Eiskalt, 2 : 1. Nach seinem zweiten Tor steht der Pole vor dem Bayern-Block, kerzengerade wie ein Soldat, die Arme über der Brust gekreuzt, beide Zeigefinger streben in den Himmel wie Ausrufezeichen, jeder für eines seiner beiden Tore. Das Schwarz und das Gelb erstarren. In der Wand. Und auf der Ehrentribüne.
Eine Reihe über Watzke und seinen Kollegen aus der Chefetage des BVB, quer versetzt, springt Uli Hoeneß auf, sein Gesicht glüht vor Freude. Sein rot-weißer Schal leuchtet im Dortmunder Kosmos, der ihn, den menschgewordenen FC Bayern, auf der Ehrentribüne umgibt wie ein schwarz-gelber Ozean. Wenn es dabei bleibt, bei diesem 2 : 1 für die Bayern, dann beträgt der Rückstand der Münchner auf die Dortmunder nur noch einen einzigen Punkt. Nicht mehr weit, und die Machtverhältnisse wären wieder die alten, sie wären sich schon wieder ganz nah, bevor die Bayern in den nächsten Wochen vorbeizögen. Ewigen Machtverhältnissen gleich, geschaffen und geformt aus Uli Hoeneß’ unbändigem Willen, der auch in diesem Moment stärker zu sein scheint als die zehntausendfachen Sehnsüchte in Dortmund. So wünscht sich Hoeneß das. Und so ist es bisher immer gekommen, fast immer.
An diesem Abend ist es anders. Der zweite Schlag des FC Bayern ist nicht der Knock-out für das junge Dortmund. Der Gegentreffer wirft das Team nicht um, im Gegenteil, er spornt es an. Plötzlich sind so viel Kraft und Wille in der neu formierten Mannschaft, die selbst nicht ahnt, dass sie davon schon so viel besitzt. Watzke glaubt in diesem Moment jedoch nicht mehr an eine Dortmunder Wende, an einen Sieg. In der zweiten Hälfte hält er es kaum aus auf seinem Platz. Als Reus und Alcácer innerhalb von drei Minuten zwei große Chancen zum 2 : 2 vergeben, die man, wie es ein ungeschriebenes Fußballgesetz besagt, eigentlich nicht vergeben darf, wenn man die Bayern schlagen will, fühlt er sich in seinen Zweifeln bestätigt. Die Borussia lässt sich an diesem Abend trotzdem nicht aufhalten. Nicht von den Toren der Bayern, auch nicht von den Toren, die ihr selbst nicht gelingen wollen.
In der 67. Minute ist es Axel Witsel, der einen der ungezählten Dortmunder Angriffe mit großer Ruhe und Klarheit aufbaut. Über Dahoud landet der Ball auf dem rechten Flügel bei Łukasz Piszczek, der eine präzise Flanke in den Strafraum der Bayern schlägt. Dort erwartet sie Marco Reus, er fixiert den Ball, der ist aber extrem schwer zu verarbeiten. Eine echte Chance wird nur daraus, wenn er ihn mit vollem Risiko nimmt, volley. In diesem Spiel hat der Dortmunder Kapitän schon drei Chancen vergeben, alle waren besser als die, die sich ihm jetzt bietet.
Auf der Tribüne ist Watzke, als er den Bewegungsablauf von Marco Reus sieht, felsenfest davon überzeugt, dass Reus diesmal trifft. Denn eine perfekte Direktabnahme aus dieser Position, flach und aus vollem Lauf, ist eine Spezialität von ihm. Watzke hat im Training schon...