von Daniel-Pascal Zorn
Viel wird derzeit über die Diskurskultur geklagt: Sie sei aus dem Ruder gelaufen, sagt man. Die Leute würden nicht mehr miteinander sprechen, sondern höchstens übereinander, Hate Speech würde die sozialen Netzwerke im Internet fluten und für eine vernünftige Auseinandersetzung werde der Raum immer kleiner.
Diese Beobachtung ist nicht falsch. Aber sie begeht einen entscheidenden Denkfehler: Sie tut so, als handle es sich dabei um eine neue Entwicklung. Dabei gab es noch nie so viel zivilisierte Diskurskultur wie heute. Noch nie hatten so viele Menschen weltweit die Möglichkeit, sich in unzähligen Gesprächen auszutauschen. Und noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Lust so groß, alles Mögliche und Unmögliche in einer nicht enden wollenden Anzahl von Kommentaren auf allen möglichen Plattformen zu diskutieren.
Dabei fallen solche Teilnehmer*innen immer wieder auf, die die dort geführten Gespräche absichtlich stören. Früher gab es solche Leute natürlich auch, aber sie waren auf Halbstarke auf dem Schulhof oder Pöbler auf der Straße beschränkt. Man konnte ihnen meistens gut aus dem Weg gehen, denn in der analogen Welt sprach sich so etwas schnell herum.
ESKALATION LEICHT GEMACHT
Die Mittel, um zu stören, wurden nicht erst mit dem Internet erfunden. Sie sind sehr alt und basieren auf Formen der Kommunikation, die es schon immer gab: üble Nachrede, Beleidigung, Gerüchte oder das Anprangern anderer in der Öffentlichkeit. Hinzu kommen ein paar ebenfalls sehr alte rhetorische Tricks, mit denen man die eigene Überlegenheit vorgaukelt, sowie die Sprücheklopferei eines Schulhofschubsers.
Im Grunde ist das Rezept, das eine Diskussion entgleisen lässt, sehr einfach zu verstehen. Neu sind nur das Ausmaß und die relative Freiheit, mit der Hunderte „Trolle“ sich auf ein Opfer stürzen oder ganze Diskussionsfäden mit unsachlichen und provokanten Beiträgen aus dem Ruder laufen lassen können. Welche Taktiken stehen dafür zur Verfügung? Und wie begegnet man ihnen sinnvoll?
Bullshit-Taktik 1
DIE ABLENKUNG
Die einfachste Art und Weise, ein Gespräch scheitern zu lassen, besteht darin, ständig vom Thema abzulenken. Am besten geht das durch Fragen oder mit steilen Thesen, die nur lose mit dem bisherigen Thema zu tun haben.
Wie reagieren? Oft will man jemandem aus Freundlichkeit die Möglichkeit geben, an einer Diskussion teilzunehmen. Diese Freundlichkeit kann aber ausgenutzt werden. Sobald man merkt, dass jemand absichtlich das Thema wechselt, kann man ihn auf das eigentliche Thema hinweisen und ansonsten seine Ablenkungen ignorieren.
Bullshit-Taktik 2
DAS FRAGE- UND ANTWORTDIKTAT
Wer ein Gespräch empfindlich stören will, muss die Teilnehmer*innen dazu bringen, nach der eigenen Pfeife zu tanzen. Eine oft genutzte Möglichkeit, das zu erreichen, ist das Frage- oder Antwortdiktat. Dabei stellt man den Teilnehmer*innen immer wieder neue Fragen, die sie zu beantworten haben. Man simuliert sozusagen eine Prüfungssituation – und sich selbst als Prüfer*in. Wird die Antwort auf die Frage verweigert, spottet man über die Unfähigkeit und das Unwissen der Teilnehmer*innen und bringt sie so gegen sich auf: „Du kannst ja nicht einmal eine einfache Frage beantworten.“ Dieser Spott verschleiert, dass niemand einfach so in der Pflicht steht, die Fragen anderer beantworten zu müssen. Und er verschleiert außerdem, dass die Fragen, die im Fragediktat gestellt werden, selbst sehr voraussetzungsreich sein können – und eigentlich der Fragende erst einmal Fragen zu seinen Fragen beantworten müsste.
Eine Variante davon ist das Antwortdiktat: „Ist der Sachverhalt gegeben, ja oder nein?“, „Siehst du das so, ja oder nein?“ In einem Antwortdiktat gibt man selbst bestimmte Antworten vor, aus denen der oder die andere dann auswählen soll. So diktiert man anderen die Richtung ihrer Antworten und zwingt sie dazu, Differenzierungen wegzulassen.
Wie reagieren? Wer Fragen stellt, muss sich auch mit den Antworten auseinandersetzen. Das Fragediktat funktioniert aber nur, wenn man eine Frage nach der anderen stellen kann. Doch warum sollte man Fragen beantworten, wenn den anderen die Antworten nicht interessieren? Antwortdiktate, die einem Antworten vorgeben, kann man einfach hinterfragen. Sie machen nämlich bestimmte Annahmen, die begründungspflichtig sind. So kann man beispielsweise fragen: „Warum genau gibt es nur diese beiden Möglichkeiten?“ Verweigert der andere darauf die Antwort oder eine Begründung, kann man ihn darauf hinweisen, dass man nicht antworten muss, wenn er die Antwort selbst verweigert – gleiches Recht für alle.
Bullshit-Taktik 3
DAS VERSCHIEBEN DES TORPFOSTENS
Wer den Torpfosten verschiebt, lenkt nicht von einem Thema auf das andere ab, sondern versucht, das bestehende Thema ständig weiter oder enger auszulegen, als es bisher besprochen wurde. Das ist so, als würde man Torschießen üben – und jedes Mal den Pfosten des Tores genau so weit verschieben, dass der Ball immer im Tor landet. Zuerst wird beispielsweise behauptet: „Es ist vollkommen klar, dass deren Kultur von unserer Kultur vollkommen verschieden ist.“ Auf die Nachfrage, woran man das denn sehen könne, lautet die Antwort: „So genau kann man das nicht sagen“. Der Torpfosten wurde verschoben. Fragt man, woran man das für alle Angehörigen einer Kultur festmachen kann, wird die Antwort gegeben: „Ich meine damit ja auch nur bestimmte Leute.“
Wie reagieren? Man weist einfach darauf hin, dass der Torpfosten ständig verschoben wird. Macht derjenige oder diejenige es wieder, hat man einen Nachweis, den man den anderen Teilnehmer*innen aufzeigen kann.
Bullshit-Taktik 4
DIE AUTORITÄTSSIMULATION
Ähnlich wie das Frage- bzw. Antwortdiktat versucht man in einer Autoritätssimulation den anderen vorzugaukeln, man habe das Recht, etwas für alle anderen festzulegen. Eine solche Simulation setzt auf einen einfachen Effekt: Tritt mit Autorität auf, dann erkennen alle anderen deine Autorität auch an! Fake it till you make it – wer stur darauf beharrt, dass es so ist, wie man sagt, setzt sich irgendwann durch. Autoritätssimulationen können verschiedene Formen annehmen: Man tut beispielsweise so, als sei man bereits im Besitz des richtigen Wissens zu einem Sachverhalt und der andere sei einfach noch nicht so weit. Oder man setzt die eigene angebliche Erfahrung als Maßstab für alle anderen ein. „Du musst erst mal da hinkommen, wo ich schon bin, erst dann nehme ich dich ernst“, mit dieser Haltung begegnen einem Leute, die Autorität simulieren.
Wie reagieren? Simulierte Autorität ist keine Autorität. Und in einem Gespräch hat sowieso niemand für irgendwen irgendwas festzulegen. Das kann man dann auch genau so sagen: „Das hast du nicht festzulegen.“ Etwas weniger konfrontativ ist die Nachfrage, was jemanden denn berechtigt, seine Meinung derart autoritär zu vertreten. Meistens kommt dann irgendeine Literaturangabe, manchmal auch nur ein Wikipedia-Artikel. In diesem Moment zeigt der Simulant, dass seine Autorität nur geliehen ist.
Bullshit-Taktik 5
DIE IRONISIERUNG
Ironie ist etwas Schönes. Sie hilft dabei, die Welt oder sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. Aber man kann es auch mit ihr übertreiben. Wer ständig alles ironisieren muss, macht damit deutlich, dass er Ironie nur nutzt, um sich selbst gegen Kritik zu immunisieren.
Wie reagieren? Die ständige Ironisierung von allem und jedem kontert man am besten dadurch, dass man sie ernst nimmt. Der Ironisierende wird einem dann, meistens etwas überheblich, erklären, dass das nur ironisch gemeint war. Dann kann man ihn fragen, was er denn wirklich dazu meint. Sehr oft kann man das nicht wiederholen, denn irgendwann ist klar, dass der Ironisierende sich um eine klare Antwort drückt.
Bullshit-Taktik 6
DER PERSÖNLICHE ANGRIFF
Eine sehr einfache Weise, um jemanden aus der Fassung zu bringen, besteht darin, ihn persönlich anzugreifen. Diese Taktik erinnert am meisten an eine Schubserei auf dem Schulhof.
Persönliche Angriffe können leicht mit Autoritätssimulationen kombiniert werden. Meistens handelt es sich dabei um den Versuch, den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin in ein Machtverhältnis zu zwingen. Die Pathologisierung erklärt das Gegenüber z.B. für...