Lieben für Anfänger
Du bist mein Problem
denn bei dir ist alles anders
Dein Bild fügt sich in keinen Rahmen ein
und nun stehe ich da
Mit dem Reichtum an Erfahrung
um ratlos wie mit 17 zu sein.
Liedtext Daliah Lavi
Schon bei kleinsten Kindern kann man beobachten, wie sie Vorbilder nachahmen. So zeigte sich, dass Babys, die erst wenige Tage alt waren, ihre Bewegungen mit dem Sprachrhythmus von Erwachsenen koordinieren konnten, und zwar auch dann, wenn es sich um eine andere Sprache als die ihrer vertrauten Bezugspersonen handelte und sogar dann, wenn ihnen nur ein Tonband vorgespielt wurde. Viele wissen auch, dass man einem Baby gegenüber nur den Mund aufzumachen braucht (ein alter Trick beim Füttern!) oder die Zunge herauszustrecken, und der Winzling macht es einem nach. Der Würzburger Gestalttherapeut Frank Staemmler nennt diese »körperbezogene Imitation und Synchronisierung« daher auch die aus entwicklungspsychologischer Sicht »basale und primäre Form der Einfühlung«. Ebenso kann man bei Erwachsenen beobachten, wie diejenigen, die sich aufeinander »eingestellt« haben, über kurz oder lang die gleiche Körperhaltung einnehmen – und manche gut geschulten Verkäufer tun dies mit voller Absicht, um sich bei ihren Kunden beliebt zu machen – und da steckt bereits das Wort Liebe drin!
Ursprung des Liebens
Aber nicht erst nach der Geburt 147 »lernen« Neugeborene im Austausch mit Menschen, die sich ihnen liebevoll zuwenden, die Fähigkeit, liebevolle Gefühle zu produzieren. Bereits im Mutterleib bilden sich die neuronalen Verschaltungen, die das Verhalten im späteren Leben wesentlich prägen – außer sie werden bewusst »verlernt« und durch andere ersetzt. »Wir brauchen Erinnerungsfähigkeit […] nicht auf das Gehirn beschränken«, weiß der Körperpsychotherapeut David Boadella. »Organismen ohne Hirngewebe oder Nervensysteme haben Erfahrungen. Sie sind empfindungsfähig, reagieren auf ihre Umgebung und handeln danach. Es scheint, dass sogar einzelne Zellen ein bestimmtes System primitiver Erinnerungsfähigkeit an vergangene organische Zustände besitzen.«
Ob sich jemand später geliebt, angenommen und selbstsicher fühlt oder unerwünscht, abgelehnt und in seiner Sicherheit gefährdet, kann als Erfahrung oft bis in die Zeit der Schwangerschaft zurückverfolgt werden. Dabei sind es nicht nur mütterliche Stresshormonausschüttungen, die direkt auf das Ungeborene übergehen – wenn beispielsweise die Schwangere in ihrer Selbstachtung oder Selbstsicherheit bedroht wird, und wenn es nur »böse Worte« des Partners, der Eltern oder unwirscher Nachbarn sind, die wie ein Stich ins Herz erlebt werden (was das blitzartige Zusammenziehen der Herzkranzgefäße im Schock auf diese Attacke andeutet).
Die französische Kinderpsychoanalytikerin Caroline Eliacheff 147 hat aufgezeigt, wie auch unbedachte abwertende Worte, die in unmittelbarer Nähe eines Neugeborenen ausgesprochen wurden, Auslöser für Krankheitssymptome sein können – denn auch wenn das Baby den Sprachinhalt noch nicht semantisch entschlüsseln kann, spürt es die Negativenergie und versteht den verletzenden Sinn und reagiert darauf. Dann verändern sich der Gesichtsausdruck, die Atmung, oft auch die Körperhaltung. Um das zu registrieren, braucht es wiederum eine »qualifizierte«, sprich achtsame Wahrnehmung, und auch diese muss erst »erlernt« – vorgemacht und abgeschaut – werden. Dann gilt es aber, so einer Negativäußerung eine positive entgegenzusetzen – entweder gleich, aber man kann »Giftworte« auch noch mit Zeitverzögerung entschärfen.
Sehr schön symbolisiert ist dieses Geschehen im Märchen vom »Dornröschen«, wenn die verärgerte dreizehnte Fee, die nicht zur Feier der Geburt der Königstochter eingeladen worden ist (weil es nur zwölf Gedecke für die Festtafel gibt), die kleine Prinzessin verflucht, sie solle sich in ihrem 15. Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen, und die zwölfte, die ja ihren Segenswunsch noch nicht ausgesprochen hat, sofort auf »nicht tot«, sondern nur »hundert Jahre Schlaf« korrigiert. Ähnliches berichtet Eliacheff, wenn sie die gedankenlose Kritik der Nahestehenden mit den fehlenden wohlwollenden Sichtweisen ergänzt und umformuliert und damit die eine oder andere Gesundheitsstörung zum Verschwinden bringen kann.
Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir »wahr«: Wir »bilden« uns unser »Bild« der Welt, und wir »bilden uns etwas ein«. 148 Tatsächlich. Nur vergessen wir zumeist, dass »die Landkarte nicht die Landschaft ist«, sondern nur ein Symbol dafür – wie etwa auch ein Relief oder ein Modell aus Pappmaché oder Plastilin etc. Denn ebenso symbolisieren wir auch »die Dinge« in Sprache und damit in Worten, aber diese »sind« nicht, was sie bezeichnen, sondern eben nur Lautbildungen, damit wir uns verständigen können. Allerdings passt oft die Bezeichnung überhaupt nicht 148 zu dem Gefühlten – man hat bloß nicht nachgeprüft, sondern das »erstbeste« Wort ausgesprochen, das sich rapid aufdrängte.
Mitte der 1990er Jahre entdeckten italienische Gehirnforscher 149 »das Geheimnis der Spiegelneurone«, dass nämlich »prämotorische« – also dem Beginn einer Handlung unmittelbar vorgelagerte – Nervenzellen nicht nur aktiv werden, wenn man selbst eine Handlung startet, sondern auch dann, wenn man solch ein Tun bei anderen beobachtet. Sie nannten diese Neurone Spiegelnervenzellen, weil sie wie ein Spiegel das Beobachtete reflektieren. Das erklärt auch, weswegen viele Menschen ärgerlich reagieren, wenn sie beobachten, wie andere Zärtlichkeiten austauschen: In ihrem Inneren entsteht genau solch ein Impuls – vielleicht auch geschlechtliche Erregung –, aber das durch die jeweilige Erziehung antrainierte Verhaltensprogramm verbietet, dass dieser Impuls dorthin »aufsteigt«, wo er hinwill – ins Herz oder in die gierig oder sehnsüchtig umschlingungsbereiten Arme.
Sobald kleine Kinder ihre Körpermuskulatur soweit einsetzen können, um sich auf andere zu- und auch hinaufbewegen zu können, werden sie versuchen, ihre Bedürfnisse nach Körperkontakt 149, nach Anschmiegen und Gehaltenwerden auszuleben – doch werden sie dann oft wortlos, mit einer widerwilligen Grimasse oder sogar mit Geschimpfe oder Drohungen abgewehrt. Auf diese Weise »erlernen« sie das Bewusstsein, nicht liebenswert (genug) zu sein (im Vergleich mit anderen, denn Vergleiche sind unvermeidlich, solange man sich noch nicht bewusst entschieden hat, mit voller Absicht darauf zu verzichten; gerade kleine Kinder beobachten aber noch mit dem Herzen und nicht unter Einsatz von Verstandeskräften – denn auch das muss man ja erst lernen).
Wir alle lernen lieben, indem wir geliebt werden. Oft ist es ein Großelternteil, der genug Zeit und Muße besitzt (und auch unerschütterte Beziehungsstabilität, weil er oder sie sich beispielsweise als »Single« vielerlei Beziehungsstress erspart und daher seinem »Fleisch und Blut in zweiter Generation« mehr Liebe »zuspiegeln« kann als die durch Erwerbspflichten und Paardynamik gestressten Eltern). Möglicherweise erklären sich damit auch optische und gestische Ähnlichkeiten – wer unbewusst das Mienenspiel anderer übernimmt, gleicht sich an 150.
Außerdem regenerieren sich viele Menschen im Kontakt mit kleinsten Kindern (deswegen sah ja der österreichische Medizinnobelpreisträger Konrad Lorenz in dem von ihm »Kindchenschema« 150 genannten Aussehen von Jungtieren, aber auch Menschenkindern, den psychologischen Auslöser für den »Brutpflegetrieb«): Sie partizipieren 150 an deren meist noch nicht belasteten »reinen« Ausstrahlung. Allerdings kann auch hier eine Fehlreaktion »erlernt« worden sein, nämlich wenn die Herzlichkeitsreaktion, die dieser Anblick auslöst, bei manchen Männern zu sexuellen Phantasien oder Erregungswellen führt und sie glauben, diese sofort in konkreten sexuellen Handlungen abreagieren zu müssen.
Lieben geschieht langsam und dauerhaft. Schnell »abgehandelt« – da steckt das Wort »handeln« drin...