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Notizen zur Idealistischen Metaphysik VI

Band VI - Der christliche Neuplatonismus

AutorMarco Bormann
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783743169432
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
In diesem Projekt, dessen sechster Band hier vorliegt, hat sich der Autor die Aufgabe gestellt, die Geschichte der Philosophie systematisch als eine Abfolge von Beiträgen zur Idealistischen Metaphysik aufzuarbeiten. Was aber kann die Idealistische Metaphysik, was ein jahrtausendealtes Denken für unser heutiges Weltverständnis noch bedeuten? Inmitten einer ökologischen Krise mag eine Rückbesinnung auf die Geisteshaltung der Antike und des Mittelalters, wo man solche Krisen zu vermeiden wusste, eine passendere Antwort sein als der weitere technische Fortschritt. Will man diese Geisteshaltung aber wirklich verstehen, so muss man ins Detail gehen. Der sechste Band beschäftigt sich vor allem mit einer Reihe von christlichen Denkern aus dem vierten Jahrhundert, die den Neuplatonismus auf eine oftmals sehr kreative Art und Weise für das Christentum fruchtbar gemacht haben. Allen vorweg ist hier natürlich Augustinus zu nennen. Aber auch andere weniger bekannte Denker haben in dieser Zeit dazu beigetragen, dass das christliche Denken neben dem religiösen Mythos auch eine ernstzunehmende Metaphysik entwickelt hat.

Marco Bormann wurde 1972 geboren. Ab 1992 studierte er Philosophie in Aachen und wurde dort 1996 Dozent. 2007 zog er nach Frankreich und seit 2016 lebt er in Andalusien. Sein 2007 erschienenes Buch zu Kierkegaard markiert den definitiven Bruch mit der immer mehr ins Analytische verschwindenden universitären Philosophie. Seine Hauptinteressen gelten der Philosophie der Postmoderne, dem Existentialismus und der antiken und mittelalterlichen Metaphysik.

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Leseprobe

Gaius Marius Victorinus (281-365)


Über das Leben von Victorinus wissen wir sehr wenig. Er soll in der römischen Provinz Africa geboren worden sein, wo er zum Rhetor ausgebildet wurde. Um 340 kam er nach Rom und unterrichtete dort unter anderem einige Senatoren. Noch nach 350 habe er in bereits sehr hohem Alter unterrichtet und 353 errichtete man sogar ihm zu ehren eine Statue in römischen Forum. Victorinus war ein Kenner der neuplatonischen Philosophie und soll dem Bericht des Augustinus zufolge eine Reihe von Büchern ins Lateinische übersetzt haben. Schließlich bekehrte sich Victorinus durch Lektüre christlicher Texte selbst zum Christentum. Als sein neues Bekenntnis bekannt wurde, soll dies ein Schock für das intellektuelle Heidentum gewesen sein. Victorinus machte sich nun ans Verfassen christlicher Texte, von denen uns einige erhalten sind. Sie galten seinen Zeitgenossen als schwer verständlich, erschließen sich aber doch jedem, der mit dem Neuplatonismus seiner Zeit vertraut ist. Denn obschon nunmehr Christ, verband Victorinus doch das Christentum ganz und gar mit der neuplatonischen Metaphysik. Die Verbindung dieser beiden Denkschulen bringt vor allem eine erste dialektische Theorie der Trinität hervor, die Victorinus um 359 verfaßte. Unter Kaiser Julianus, der seinerseits vom Christentum zum Heidentum konvertierte, wurde Victorinus Lehrtätigkeit beendet. Julianus erließ 362 ein Berufsverbot für christliche Lehrer woraufhin Victorinus seine Tätigkeit als Rhetoriklehrer aufgab.

Ideen


i. Das göttliche Wesen im Verhältnis zu Sein und Nichtsein

§ 1 Victorinus Philosophie präsentiert sich uns von Anfang an als eine sehr originelle Synthese aus christlicher Theologie und neuplatonischer Philosophie. Die Idee einer christlichen Metaphysik behält dabei zwar das letzte Wort, aber wir werden sehen, daß die Methode und Herangehensweise doch durchweg in die Tradition der neuplatonischen Philosophie angehört. So können wir Victorinus als den Schöpfer einer weiteren Variante der philosophischen Systeme ansehen, die ins allgemeine Paradigma der neuplatonischen Philosophie gehören. Daß er ein Christ ist, gibt seiner Variante eine besondere Note, die jedoch keineswegs von Nachteil ist. Das zeigt sich vor allem bei der Diskussion des Gottesbegriffes, der mit dem neuplatonischen Begriff des ἕν in eins fällt. Der christliche Gedanke der Trinität bringt Victorinus dazu, das ἕν mit den anderen Wesenheiten des Ideenreiches auf eine Stufe zu stellen. Das ἕν als etwa dem νοῦς gleichrangig anzusehen, wie es eine ins christliche Denken überführte neuplatonische Metaphysik fordert, ist jedoch mit der Rolle des ἕν im platonischen Denken unvereinbar. Victorinus’ Analyse des Gottesbegriffes liefert eine Lösung für dieses Dilemma, welche sehr stark an den Neuplatonismus des Porphyrios erinnert.

Victorinus beginnt jedoch zunächst einmal mit der Herausstellung der Sonderrolle des göttlichen Wesens, das wir hier getrost gleich als das ἕν fassen können:

sunt quaedam eiusmodi, quae sunt natura manifesta, sicut quae sunt et omnia supercoelestia: ut τὸ πνεῦμα, καὶ ὁ νοῦς, ἡ ψυχή, τὸ νόημα, ἡ παιδεία, ἡ ἀρετή, ὁ λόγος, opinio, perfectio, sententia, vita, intelligentia: et adhuc superius, existentialitas, vitalitas, intelligentitas: et super omnia ista, ὄν μόνον: et istud ὄ ἐστι ἕν μόνον ὄν

»Von den Seienden sind einige durch ihre Natur offenbar, so die wahrhaft Seienden und alle überhimmlichen Dinge wie Geist, Nus, Seele, Erkenntnis, Wissenschaft, Tugenden, Logoi, Meinungen, Vollkommenheit, Existenz, Leben, Intelligenz und noch höher Seinspotenz, Lebenspotenz, Denkpotenz, und über diesen allen gibt es nur das Seiende, welches das eine und einzig Seiende ist.«1

Zunächst einmal erhalten wir hier einen ersten Einblick in Victorinus’ Ontologie und Ideenlehre, denn er zählt bereits diejenigen Begriffe auf, die für ihn im Zentrum des Ideenreiches stehen. Doch wir sind im Denken schon zu weit fortgeschritten, um uns bei solchen Listen aufzuhalten. Wir erwarten methodisch angeordnete Ideen und keine bloßen Listen und solches wird uns Victorinus auch liefern. Dieses setzt jedoch einen Ansatzpunkt voraus und der wird hier bestimmt. Inmitten der vielen Ideen, denen alle ein besonderes, überhimmliches (supercoelestia) Sein zukommt gibt es einen Begriff, der herausragt und als dasjenige ὄν bestimmt wird, das über allen steht. Dies ist das Sein als Eines. Bei Victorinus ist also das ἕν hier zwar als ein besonderes Sein herausgestellt, aber es ist zunächst noch als ein Sein bestimmt. Das ist ein erstes Anzeichen dafür, daß bei ihm da ἕν unter den anderen Begriffen zu finden ist und nicht ganz und gar jenseits derselben.

§ 2 Von hieraus geht Victorinus nun dazu über, dieses ἕν näher zu bestimmen und stellt dabei dessen Status als Sein in Frage. Dabei erfahren wir zugleich, worin die Sonderstellung des ἕν besteht und hier bestimmt er dieses ἕν dann doch zunächst als ein Jenseitiges:

quid igitur dicimus deum? τὸ ὄν, ἤ τὸ μή ὄν? sed utique ipsum appellamus ὄν: quoniam corum quae sunt, pater est. sed pater eorum quae sunt, non est τὸ ὄν, si nondum sunt ea quorum pater est. hoc non licet dicere, hoc nefas est intelligere, eorum quae sunt, μή ὄν causam appellare. causa enim prior est ab iis quorum causa est. supremum ὄν igitur deus est; et juxta quod supremum est, μή ὄν deus dicitur: non per privationem universi eius quod sit, sed ut aliud ὄν ipsum, quod est τὸ μή juxta ea quae futura sunt, τὸ μή ὄν: juxta quod causa est ad generationem corum quae sunt, τὸ ὄν.

»Was heißen wir also Gott, das Seiende oder das Nichtseiende? Wir würden ihn gern das Seiende nennen, weil er aller Seienden Vater ist. Aber der Vater aller Seienden ist nicht das Seiende, denn jene, deren Vater er ist, sind noch nicht, und die Ursache der Seienden „Seiendes“ zu heißen, dies auszusprechen ist verboten, sogar es zu denken ist Frevel. Ist doch die Ursache eher als das, dessen Ursache sie ist. Gott ist also jenseits des Seienden, und insofern er jenseits ist, nennt man Gott das Nichtseiende, nicht weil ihm der Reichtum des Seienden fehlt, sondern weil er als das gänzlich andere Seiende selbst das Nichtseiende ist – in bezug auf die zukünftig Seienden ist er das Nichtseiende, in bezug auf die Ursache zur Zeugung der Seienden ist er das Seiende.«2

Gott oder das ἕν wird hier von Victorinus als die Ursache allen Seins bestimmt. Darin besteht seine Sonderstellung innerhalb des Seins. Die Frage ist nun, ob man denn dann diesem ἕν auch ein Sein zuschreiben kann. Man würde es gerne tun – so gesteht uns Victorinus hier – denn man würde ja gerne diese Ursache als etwas Existentes, Wirkliches bestimmen. Aber die Logik scheint das zu verbieten, denn wenn die Ursache allen Sein wiederum eine Form des Seins ist, dann ist dies eine petitio principii; das erklärende Prinzip ist dann selbst Teil des Erklärten. Die Ursache des Seins muß vielmehr dasein, bevor das von ihr verursachte da ist. So bestimmt Victorinus das ἕν dann als Nichtseiendes, was aber der Intuition widerspricht, daß es doch irgendwie sein muß.

§ 3 Zur Lösung dieses Problems findet Victorinus eine Synthese. Das ἕν ist einerseits ein Nichtsein, insofern es in gewisser Weise vor dem Sein dasein muß und so nicht schlechthin zum Sein gerechnet werden kann. Es ist jedoch zugleich ein Sein als Ursache. Ich denke wir verstehen, was er meint, wenn er dem ἕν ein Sein zuschreibt. Schwieriger wird es jedoch beim Nichtsein. Hierzu fügt er als Erklärung hinzu, das ἕν sei nicht ein Nichtsein privationem, sondern es sei ein Nichtsein, indem es eben ganz anders als das Sein sei. Doch diese Erklärung ist so noch wenig befriedigend. Wir müssen uns daher ansehen, wie Victorinus den Begriff des Nichtseins bestimmt. Hier unterscheidet er zwei Formen desselben:

omne enim τὸ ὄν in existentia vel qualitate figuratum et vultatum est. Infiguratum autem, quoddam aliquid est: ideo τὸ μή ὄν aliquid quodammodo est. Sunt ergo τὰ μή ὄντα: et ideo etiam sunt quae vere non sunt.

»Denn jedes Seiende besitzt in Existenz und Qualität Antlitz und Gestalt. Das Nichtseiende ist also gestaltlos. Das Gestaltlose jedoch ist etwas. Das Nichtseiende ist also Etwas. Folglich sind die Nichtseienden, und sie sind aus diesem Grunde die nicht wahrhaft...

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