Mona und das Meer
von Ulrich Hefner
Sie hieß Mona, war gerade mal dreizehn Jahre alt und war ausgebüxt von zu Hause.
Sie saß an der Kaimauer und schaute hinaus in die endlose Weite der See. Sie liebte das Meer, den Wind und die salzige Luft, der in ihrer Nase kitzelte.
Der Fährmeister hatte uns verständigt. Seit Stunden saß sie beinahe regungslos am Kai und schaute den Möwen zu. Seit die Sonne aufgegangen war, hatte sie ihren Platz nicht mehr verlassen.
»Was machst du hier, so ganz allein?«, fragte ich sie.
»Ich habe die Sonne aufgehen sehen, und zwei Kutter sind heute in aller Frühe schon hinausgefahren.«
»So lange bist du schon hier?«
Sie lachte. »Ich liebe das Meer«, antwortete sie.
Sie hieß Mona, kam aus Hannover und war mit der Bahn bis nach Norddeich gefahren. Einen Fahrschein hatte sie nicht, doch immer wenn der Schaffner kam, versteckte sie sich in der Toilette oder wechselte das Abteil. Ihre Mutter hatte sie am Vortag bei den Kollegen in Hannover vermisst gemeldet.
»Und warum bist du von zu Hause abgehauen?«, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern.
»Du musst mit uns kommen.«
»Aber ich will hier nicht weg, ich will den ganzen Tag lang hier sitzen. Ich liebe das Meer.«
Ich überging ihren Einwand. »Du hast doch bestimmt Hunger?«
Wir nahmen sie mit aufs Revier. Sie folgte uns nur widerwillig. Ich spendierte ihr ein Frühstück. Sie erzählte mir, dass sie früher mit ihren Eltern hier in der Gegend ihre Ferien verbracht hatte, doch seit Papa keine Arbeit mehr habe, hatte sich alles verändert. Sie habe noch einen kleinen Bruder, aber Urlaub können sie sich nicht mehr leisten. Sie wolle nicht mehr nach Hause, weil sich Papa und Mama nur noch stritten.
Geduldig hörte ich ihr zu, während wir auf ihre Abholung warteten. Ein Onkel war auf dem Weg, um sie wieder nach Hause zu bringen. Bevor der Onkel eintraf, musste ich wieder auf Streife. Bei Hage hatte sich ein größerer Unfall ereignet, und die Kollegen forderten Unterstützung.
Ein halbes Jahr war vergangen. Der Frühling und der Sommer waren ins Land gezogen, und langsam ebbte die Flut der Feriengäste an der Küste und auf den Inseln ab. Die Tage wurden kürzer und spürbar kühler. Windböen zogen über die Dünen und bliesen kräftig landeinwärts.
Wir waren nach Norddeich gefahren. Die letzte FrisiaFähre lief ein, und bald würde sich die Dämmerung über das Land legen und es mit einem matt schwarzen Tuch bedecken. Ein paar windhungrige Drachenkünstler ließen ihre bunten Lenkdrachen aufsteigen und im böigen Wind tanzen. Wir hielten an und schauten eine Weile zu, bis es an meiner Seitenscheibe klopfte.
Helge von der Fährgesellschaft grinste freundlich und bedeutete mir, meine Scheibe runterzulassen. Ich kannte ihn gut, denn Tag für Tag machte er die großen Fähren fest und lotste die Wagen von Bord.
»Schaut mal da hinten, die Kleine«, sagte er mit tiefer Stimme, »sie sitzt schon seit Stunden an der Mauer. Hat sich bislang kein Stück bewegt. Ist schon seit Mittag da.«
Ich folgte mit den Augen seinem Fingerzeig und entdeckte ein Mädchen mit langem blondem Haar, das einen hellblauen Windbreaker trug und hinaus auf das Meer schaute.
»Ist sie allein?«
»Schon seit dem Mittag«, entgegnete Helge. »Solltet mal besser nachschauen, ist noch jung, die Kleine.«
Ich nickte kurz, zupfte meine Krawatte zurecht und stieg aus. Mein Kollege rief mir hinterher: »Das schaffst du wohl allein!« Ich schlenderte auf das Mädchen zu, das mir den Rücken zuwandte. Sie saß einfach nur da, ließ die Beine über die Kaimauer baumeln und genoss den Wind, der ihr übers Haar strich.
Knapp einen Meter von ihr entfernt blieb ich stehen. Eine kurze Weile beobachtete ich sie, doch sie rührte sich nicht. Ich glaube, sie merkte nicht einmal, dass ich da war.
»Hallo, junge Frau«, sprach ich sie an.
Ihr Kopf zuckte herum, und ich blickte in ihr Gesicht. Dunkel kam die Erinnerung, doch mittlerweile waren unzählige Gesichter an mir vorbeigezogen. Ich kannte sie, doch ich wusste nicht woher.
»Was machen wir denn hier, so allein?«
Sie lächelte. »Ich bin Mona, und ich liebe das Meer«, antwortete sie.
Es war, als wenn ein Vorhang fällt und den Blick auf die Bühne freigibt. Mona und das Meer, schoss es mir durch den Kopf. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und dein Vater?«
»Der ist weg«, antwortete sie.
»Weg?«
»Er hat sich aus dem Staub gemacht. Mutter hat ihn hinausgeworfen. Er hat nur noch genervt.«
»Du bist Mona aus Hannover, und du bist also wieder ausgebüxt.«
»Diesmal will ich kein Kaba, diesmal will ich eine Cola«, erklärte sie, als sie sich erhob.
Bereitwillig stieg sie in unseren Streifenwagen, und wir fuhren sie zum Revier. Ich rief bei ihrer Mutter an, und sie fiel aus allen Wolken. Hatte sie ihr doch gesagt, dass sie bei einer Freundin übernachten wolle.
Wir unterhielten uns eine Weile, Mona und ich, und sie erzählte mir, dass sich alles geändert habe, seit Papa nun weg war. Mama müsse hart arbeiten, um Geld zu verdienen. Und sie müsse sich jeden Tag um ihren kleinen Bruder kümmern.
»Mama weint oft, und dann bin ich auch ganz traurig«, erzählte sie. »Und wenn ich traurig bin, dann höre ich die Wellen rauschen, und bald schon bin ich wieder glücklich. Ich liebe nämlich das Meer.«
»Glaubst du nicht, dass es deine Mutter auch sehr traurig macht, wenn du von zu Hause wegläufst?«
»Ich laufe nicht weg, ich will doch nur das Meer sehen«, antwortete sie und trank von ihrer Cola. »Und Mama hat sowieso keine Zeit mehr für mich.«
Als sie von ihrer Mutter abgeholt wurde, hatte ich längst schon Schichtende und war zu Hause.
Das alte Jahr hatte sich mit kräftigen Stürmen verabschiedet, und es wurde ein kurzer, heftiger Winter. Als der März Einzug hielt, besserte sich das Wetter, und die ersten Touristen trafen ein. Frisia nahm den Fährbetrieb nach Norderney mit zwei Personenfähren wieder auf.
Ein Notruf verschlug uns nach Norddeich in den Hafen. Einer alten Frau war schlecht geworden, und sie war einfach umgefallen. An sich kein Fall für die Polizei, doch da der Notruf nun mal auf unserer Dienststelle einging und der Rettungswagen noch ein paar Minuten brauchen würde, fuhren wir hin, um Erste Hilfe zu leisten.
Als wir ankamen, saß die alte Dame schon auf einer Bank. Sie war ansprechbar, und mehrere Passanten, unter ihnen auch Helge, kümmerten sich um sie. Sie kaute und lächelte.
»Hatte Unterzucker«, erklärte Helge, nachdem wir ausgestiegen waren. »Hab ihr Traubenzucker gegeben, nun geht das schon wieder. «
Ich atmete auf, hatte ich doch befürchtet, bereits Reanimationsmaßnahmen durchführen zu müssen. Doch die alte Dame war wieder auf dem Damm.
»Manchmal ist es ganz einfach«, murmelte Helge.
»Ja, so ist es«, bestätigte ich. Schon kam der Rettungswagen angefahren und stoppte direkt vor der Bank. Wir erklärten den Sanitätern, was vorgefallen war, und sie nahmen sich der Frau an.
Schon wollte ich wieder einsteigen, da fiel mein Blick auf das Ende der Kaimauer. Dort saß ein Mädchen mit langem blondem
Haar und einer hellblauen Windjacke. Verdutzt verharrte ich.
Helge deutete auf das Mädchen.
»Ist schon seit drei Stunden da«, sagte er.
»Ist es …?«
»Die Kleine vom Herbst«, bestätigte Helge. »Du hast sie doch
mitgenommen, damals?«
»Und warum hast du nicht angerufen?«, fragte ich vorwurfsvoll.
»Warum sollte ich, die tut doch keinem was«, entgegnete
Helge entgeistert. »Sitzt einfach nur da und starrt aufs Wasser.«
»Weil sie von zu Hause ausgebüxt ist«, erklärte ich.
»Kann ich nicht riechen. Dachte, du kennst die Kleine.«
»Klar kenne ich sie. Das ist Mona, und sie liebt das Meer.«
Diesmal musste ich schon mehr Überzeugungskraft aufwenden, damit mir Mona zum Streifenwagen folgte.
»Mutter ist nicht mehr lieb zu uns«, erklärte sie. »Sie trinkt
Alkohol, und dann legt sie sich einfach auf die Couch und schläft
ein.«
»Ich denke, sie arbeitet den ganzen Tag?«
»Nicht mehr«, antwortete Mona. »Ist entlassen worden, so
wie Papa.«
»Und wo ist dein Vater?«
»Der hat jetzt eine Neue und will nichts mehr von mir wissen. Dennis holt er ab und zu nach Hause. Dennis will zu ihm
ziehen.«
»Und du?«
»Seine neue Freundin kann mich nicht leiden.«
»Kannst du sie denn leiden?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sie stinkt aus dem Mund.«
»Wohnt dein Vater weit weg?«
»In Oldenburg, er arbeitet jetzt in einem Krankenhaus.«
»Ist er Arzt?«
»Nein, er macht die Küche. Mein Papa kann den besten Calenberger Pfannenschlag, und sein Butterkuchen ist so gut, dass ich ihn ganz allein aufessen kann.«
»Du hast deinen Papa gern?«
Wiederum zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
Diesmal spendierte ich ihr zwei Hamburger und eine Cola, ehe ich sie aufs Revier brachte.
»Und wie ist das nun mit deiner Mutter?«, fragte ich. »Wenn sie trinkt, dann kann sie sich wohl kaum noch richtig um dich kümmern. Da sollte doch das Jugendamt davon erfahren. Vielleicht kannst du so lange bei deinem Vater wohnen, bis alles geklärt ist. Ich rufe ihn gern an und rede...