Einleitung
Die Cafeteria
Stellen Sie sich vor, eine Ihrer Bekannten, nennen wir sie Carolyn, wäre Leiterin des für Schulverpflegung zuständigen Dezernats einer großen Stadt. Das heißt, sie ist verantwortlich für Hunderte von Schulen, und Hunderttausende von Kindern essen jeden Tag in ihren Kantinen und Cafeterias. Carolyn ist ausgebildete Ernährungswissenschaftlerin mit Hochschulabschluss. Sie ist ein kreativer Typ und legt gerne schon mal eine unkonventionelle Weise an den Tag. Carolyns Freund Adam ist Managementberater und Statistikexperte; er berät hauptsächlich Supermarktketten.
Eines Abends brüten die beiden bei einer guten Flasche Wein eine interessante Idee aus. Sie wollen untersuchen, ob die Art und Weise, wie die Speisen in der Schulcafeteria angeordnet und arrangiert sind, einen Einfluss darauf hat, für welches Essen sich die Kinder entscheiden – ohne das Angebot zu verändern. Carolyn gibt anschließend Dutzenden von Schulkantinen genaue Instruktionen, wie sie die Gerichte anbieten sollen. Die Plazierung ist von Schule zu Schule unterschiedlich. In einigen Schulen ist der Nachtisch nun am Anfang der Theke erhältlich, in anderen am Ende, oder die Kinder müssen sich dafür an einer gesonderten Ausgabe anstellen. In manchen stehen die Pommes frites auf Augenhöhe, in anderen die Karottenstäbchen.
Adam hat bereits Grundrisse von Supermärkten konzipiert, deshalb ist er überzeugt, dass die Ergebnisse sehr aussagekräftig sein werden – und er behält recht. Nur aufgrund ihrer Positionierung kann Carolyn den Kauf vieler Speisen um bis zu 25 Prozent steigern oder senken. Sie hat viel daraus gelernt: Schulkinder lassen sich – ebenso wie Erwachsene – schon durch kleine Veränderungen der Rahmenbedingungen stark beeinflussen. So kann man sowohl Gutes als auch Schlechtes bewirken. Carolyn kann beispielsweise auf diese Art und Weise den Konsum von gesundem Essen fördern und gleichzeitig den Genuss ungesunder Lebensmittel reduzieren.
Nachdem sie ihren Versuch an Hunderten von Schulen durchgeführt und mit der Hilfe studentischer Freiwilliger die Ergebnisse gesammelt und analysiert hat, ist sie davon überzeugt, beeinflussen zu können, wie die Kinder sich ernähren. Carolyn überlegt, wie sie ihre neuentdeckte Macht einsetzen soll. Hier einige teils ernst, teils ironisch gemeinte Vorschläge ihrer Freunde und Kollegen:
- Arrangiere die Speisen so, dass es den Schülern unterm Strich den größten Nutzen bringt.
- Ordne die Speisen nach dem Zufallsprinzip an.
- Versuche das Angebot so zu gestalten, dass die Kinder sich für die Speisen entscheiden, die sie auch von sich aus gewählt hätten.
- Erhöhe den Umsatz von Produkten, deren Lieferanten die höchsten Schmiergelder zahlen.
- Maximiere den Gewinn und fertig.
Die Vorzüge der ersten Empfehlung liegen auf der Hand. Allerdings würde man die Kinder quasi bevormunden – man könnte auch von Paternalismus sprechen. Die Alternativen sind jedoch schlimmer!
Variante 2, die zufällige Anordnung, könnte man als fair, prinzipientreu und in gewissem Sinne neutral bezeichnen. Doch wenn alles dem Zufall überlassen bleibt, dann werden sich die Kinder in einigen Schulen weniger gesund ernähren als in anderen. Ist das wünschenswert? Soll Carolyn sich neutral verhalten, wenn es ihr ein Leichtes ist, den meisten »ihrer« Schüler etwas Gutes zu tun? Wenn sie doch sogar dazu beitragen kann, ihre Gesundheit zu verbessern?
Ratschlag 3 wirkt wie der ehrenwerte Versuch, jegliche Einmischung zu vermeiden und sich an den Wünschen der Kinder zu orientieren. Doch bei genauem Hinsehen wird einem bewusst, dass das gar nicht zu bewerkstelligen ist. Das Experiment hat ja gerade gezeigt, dass die Wahl der Schüler davon abhängt, wie die Speisen dargeboten werden. Was sind also ihre echten Vorlieben? Welche Lebensmittel würden die Kinder »von sich aus« wählen? Es ist ja schließlich unmöglich, in einer Cafeteria das Essensangebot nicht in irgendeiner Weise zu sortieren.
Möglichkeit 4 gefiele Carolyn vielleicht dann, wenn sie korrupt und darauf aus wäre, ihre Macht zu missbrauchen. Doch unsere Carolyn ist ehrlich und denkt über diese Option nicht ernsthaft nach. Wie die Varianten 2 und 3 hat auch Nummer 5 etwas für sich, besonders, wenn Carolyn diejenige Cafeteria für die beste hält, die am meisten Geld verdient. Doch sollte Carolyn wirklich versuchen, den Gewinn zu maximieren, wenn das bedeutet, dass sich die Kinder weniger gesund ernähren? Schließlich ist ihr Arbeitgeber der Schulbezirk.
Carolyn kann in ihrer Position also das Umfeld organisieren, in dem Menschen Entscheidungen treffen – wir bezeichnen sie deshalb als Entscheidungsarchitektin. Zwar haben wir uns Carolyn nur ausgedacht, doch viele Menschen erweisen sich genau gesehen als ebensolche Entscheidungsarchitekten – oft, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind. Wenn Sie beispielsweise die Stimmzettel gestalten, mit denen Kandidaten für ein Amt gewählt werden, dann sind Sie ein Entscheidungsarchitekt. Wenn Sie Arzt sind und einem Patienten die verschiedenen Therapiemöglichkeiten für seine Krankheit erklären müssen, sind Sie ebenfalls einer. Das Gleiche gilt, wenn Sie das Formular entwerfen, mit dem sich neueingestellte Mitarbeiter bei der Krankenversicherung ihres Arbeitgebers anmelden, oder wenn Sie als Mutter oder Vater Ihrem Kind erklären, welche Bildungsoptionen ihm offenstehen. Und wenn Sie Verkäufer sind, dann sind Sie ebenfalls ein Entscheidungsarchitekt – aber das haben Sie sich bestimmt schon gedacht.
Dabei gibt es zahlreiche Parallelen zur traditionellen Architektur. Eine davon ist, dass es so etwas wie neutrale Gestaltung oder Bauart nicht gibt. Stellen Sie sich vor, ein Architekt müsste ein neues Universitätsgebäude entwerfen. Dafür bekommt er eine Reihe von Vorgaben. Es muss Platz sein für 120 Büros, 8 Seminarräume, 12 Gemeinschaftsräume für Studenten und so weiter. Das Gebäude soll auf einem bestimmten Grundstück errichtet werden. Daneben wird es Hunderte von weiteren Vorgaben geben, die juristischer, ästhetischer und praktischer Art sind. Am Ende muss der Architekt ein konkretes Gebäude planen, mit Türen, Treppen, Fenstern und Fluren. Jeder gute Bauherr weiß, dass scheinbar willkürliche Entscheidungen – wo sich beispielsweise die Toiletten befinden – subtile Auswirkungen auf die Menschen in diesem Gebäude haben. Der Gang zur Toilette kann etwa die Chance oder das Risiko (je nachdem) in sich bergen, Kollegen über den Weg zu laufen. Ein gutes Gebäude ist so gesehen nicht nur schön, es »funktioniert« auch.
Kleine und scheinbar unwichtige Details können großen Einfluss darauf haben, wie Menschen sich verhalten. Eine gute Faustregel ist, davon auszugehen, dass alles wichtig ist. Einzelne Faktoren können die Aufmerksamkeit der Benutzer in eine bestimmte Richtung lenken und sehr wirkungsmächtig sein. Ein wundervolles Beispiel findet sich – ausgerechnet – auf der Herrentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Dort hat die Flughafengesellschaft in jedem Urinal das Bild einer schwarzen Stubenfliege anbringen lassen. Offenbar achten Männer nämlich meist nicht so genau darauf, wo sie hinzielen, was recht unschöne Folgen haben kann. Sobald sie allerdings ein Ziel erblicken, werden Aufmerksamkeit und damit auch Zielgenauigkeit deutlich gesteigert. Nach Aussage des Mannes, der diese Idee hatte, wirkt der Trick Wunder. »Es wird besser gezielt«, erklärt Aad Kieboom. »Wenn ein Mann eine Fliege sieht, dann versucht er, sie zu treffen.« Kieboom ist Ökonom und leitet die Erweiterung der Flughafengebäude. Sein Team hat Untersuchungen über die Wirkung der Fliege im Urinal angestellt und herausgefunden, dass nun 80 Prozent weniger »danebengeht«.1
Die Erkenntnis, dass alles wichtig ist, kann sowohl lähmend als auch inspirierend sein. Ein guter Architekt weiß, dass es zwar unmöglich ist, das perfekte Gebäude zu bauen, dass seine baulichen Entscheidungen aber trotzdem positive Auswirkungen haben können. Offene Treppenhäuser zum Beispiel sorgen für mehr Interaktion am Arbeitsplatz und dafür, dass mehr gelaufen wird. Beides ist zu begrüßen.
Genauso wie ein Architekt also ein konkretes Gebäude baut, muss sich ein Entscheidungsarchitekt wie Carolyn schließlich auf eine bestimmte Anordnung der Speisen in der Cafeteria festlegen. Dadurch kann sie andere beeinflussen und ihnen bei ihrer Entscheidung einen kleinen Schubs geben – einen Nudge*.
Libertärer Paternalismus
Wenn Sie alles in allem der Meinung sind, dass Carolyn ihre Einflussmöglichkeit nutzen und die Kinder ein wenig in Richtung einer besseren Ernährung schubsen sollte (also Variante 1), dann möchten wir Sie in Ihrer neuen Bewegung willkommen heißen: dem libertären Paternalismus. Uns ist vollkommen klar, dass diese Bezeichnung auf den ersten Blick nicht unbedingt einladend aussieht. In der Tat schrecken beide Worte eher ab und sind zuweilen mit Klischees aus populärer Kultur und Politik behaftet. Hinzu kommt noch, dass die dahinterstehenden Ideen einander zu widersprechen scheinen.
Warum sollte man also zwei weithin abgelehnte und widersprüchliche Konzepte verbinden? Wir...