PROLOG
DAVOS 2009
Jeden Januar trifft sich die politische Elite der ganzen Welt in einem Schweizer Tal. Auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos legen die versammelten Politiker ihre Differenzen beiseite und sprechen eine gemeinsame Sprache. Zusammengepfercht in einem Skiressort bekräftigen sie ihre Unterstützung für die eine, globale Wirtschaftsordnung. Vergnügt mischen sie sich unter die immergleichen multinationalen Unternehmenschefs und Investmentbanker. Sie werben um ausländische Investitionen und Handel. Fünf Tage lang scheint die globale politische Elite einig darüber, wie die Welt funktioniert. In Davos werden selbst die unlösbarsten politischen Probleme zeitweise vom Globalisierungskonsens übertüncht.
Doch beim Davoser Forum von 2009 wurde deutlich, dass etwas ziemlich schiefgegangen war. Das Treffen fand nur vier Monate nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers statt, der die Welt in die tiefste Finanzkrise seit 1929 gestürzt hatte. Die internationalen Banker, die normalerweise durch die diversen Cocktailempfänge stolzierten, hielten sich versteckt, während ihre Geldhäuser taumelten und die öffentliche Empörung wuchs. Die Regierung von US-Präsident Barack Obama — daheim in verzweifelte ökonomische Entscheidungen verstrickt — stach durch ihre Abwesenheit hervor. Da die Amerikaner das Feld geräumt hatten, wurde der chinesische Premierminister Wen Jiabao zum Star der Davos-Show.
Führende Unternehmer der Welt drängten sich einen Spätnachmittag in einen kleinen Seminarraum, um den Ansichten Wens über den aufziehenden wirtschaftlichen Sturm zu lauschen. China war der größte Exporteur der Welt und der größte Aufkäufer amerikanischer Staatsanleihen — das Publikum hatte allen Grund, genau zuzuhören. An Wen war nichts offensichtlich Charismatisches. Klein von Statur, in Anzug und mit Brille, war sein Vortragsstil der eines Managers, der dem Vorstand Bericht erstattet. Gegen Ende seiner Rede aber gab der chinesische Premierminister seinen bürokratischen Stil auf und wurde philosophisch. Um die Krise besser zu verstehen, sagte er, habe er «Adam Smith noch einmal gelesen». Vielleicht, um ein bisschen anzugeben, betonte Wen, er habe dabei auf das Buch The Theory of Moral Sentiment (Theorie der ethischen Gefühle) des Ökonomen aus dem 18. Jahrhundert zurückgegriffen, statt auf das weit bekanntere The Wealth of Nations (Reichtum der Völker). Für jeden mit etwas Geschichtssinn war das ein bizarrer Augenblick: Der Führer der Chinesischen Kommunistischen Partei schlug beim Vater der freien Marktwirtschaft nach.
Während sich also kommunistische Führer in Davos als Unterstützer des Kapitalismus entpuppten, schienen die Staatsmänner einiger führender kapitalistischer Länder plötzlich mit dem Kommunismus zu flirten. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ließ sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy bei der Lektüre von Marx’ Das Kapital fotografieren, und Peer Steinbrück, Deutschlands Finanzminister, merkte an, dass «gewisse Teile von Marx’ Denken gar nicht so schlecht» seien.1
Diese politische und ideologische Konfusion war verständlich. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch den Wall-Street-Crash im September 2008 losgetreten wurde, bedrohte den Globalisierungskonsens, den die Staatsmänner und -frauen alle unterschrieben hatten. In den Staatskanzleien und Präsidentenpalästen rund um den Globus löste sie Gefühle aus, die der Panik sehr nahe kamen.
Mit der schwersten ökonomischen Krise seit den 1930er Jahren konfrontiert, schauten Politiker ängstlich auf die Politik der Zwischenkriegszeit zurück. Ed Balls, britisches Kabinettsmitglied und engster Verbündeter von Gordon Brown, zu dem Zeitpunkt britischer Premierminister, bemerkte kurz nach dem Davoser Treffen von 2009 düster, dass die aktuelle Finanzkrise sogar noch schwerwiegender sei als die der 1930er Jahre, und fügte hinzu: «Und wir alle erinnern uns, wie die Politik jener Jahre von der Wirtschaftslage geprägt wurde.»2
In den folgenden zwölf Monaten erlebte die Welt ihre schwerste Rezession seit den Dreißigern. Dennoch: Die Albträume von Suppenküchen, politischem Extremismus und Faschistenaufmärschen wurden nicht wahr.
War also alles ein böser Traum? Eine Schauergeschichte? Konnte man nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, wie sie vor dem Crash von 2008 bestanden hatte?
Es wäre ein Fehler, das zu glauben. Die Prämisse dieses Buches ist, dass für das internationale System seitdem tatsächlich eine neue Periode begonnen hat, die von gefährlicher Instabilität und grundlegendem Wandel geprägt ist.
In den vergangenen 30 Jahren haben sich die großen Weltmächte allesamt der «Globalisierung» verschrieben — einem Wirtschaftssystem, das steigende Lebensstandards rund um die Welt versprach und gemeinsame Interessen zwischen den mächtigsten Nationen schuf. Nach dem Ende des Kalten Krieges war Amerika offensichtlich die vorherrschende globale Macht, was zur Stabilität des internationalen Systems beitrug, da andere Nationen von Herausforderungen abgehalten wurden.
Aber die Krise, die die Welt 2008 heimsuchte, hat die Logik internationaler Politik verändert. Es ist nicht länger offensichtlich, dass die Globalisierung allen großen Mächten der Welt zugutekommt. Und es ist nicht länger klar, dass die Vereinigten Staaten nicht mit ernst zu nehmenden internationalen Rivalen rechnen müssen. Zugleich wird immer deutlicher, dass die Welt mit einer Reihe wahrhaft globaler Probleme konfrontiert ist — wie dem Klimawandel oder der nuklearen Weiterverbreitung —, die zu Rivalitäten und Streitigkeiten zwischen den Nationen führen. Nach einer langen Periode internationaler Kooperation kehren Wettbewerb und Konkurrenz in die internationale Politik zurück. Eine Win-win-Welt verwandelt sich in eine Nullsummenwelt.
Sowohl als Individuen als auch als Nation haben die Amerikaner zu fragen begonnen, ob die «neue Weltordnung», die nach dem Kalten Krieg entstand, noch zugunsten der Vereinigten Staaten funktioniert. Der Aufstieg Asiens wird immer stärker mit Arbeitsplatzverlusten einfacher Amerikaner und mit der Herausforderung amerikanischer Macht durch China in Verbindung gebracht. Der Crash hat das Bewusstsein für Amerikas wirtschaftliche Anfälligkeit und die Abhängigkeit von anhaltenden Krediten aus China und dem Mittleren Osten geschärft. Natürlich bleiben selbst nach dem Zusammenbruch die Vereinigten Staaten das mächtigste Land der Welt — mit der größten Wirtschaft, dem mächtigsten Militär und den führenden Universitäten. Doch werden die Vereinigten Staaten die unangefochtene Überlegenheit des «unipolaren Moments», der mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 begann, nicht noch einmal erleben.
Unterdessen erlebt die Europäische Union (EU), der andere Hauptpfeiler der westlichen Welt, die schwerste Krise seit ihrer Gründung 1957. Der stete Fortschritt in den vergangenen 50 Jahren hin zu einer «immer engeren Union» war auf einer Win-win-Logik aufgebaut. Europas Nationen waren der Ansicht, dass sie stärker und wohlhabender würden, wenn sie ihre Schicksale miteinander verbanden. Die Einführung einer gemeinsamen Währung und die beinahe Verdopplung der Zahl ihrer Mitglieder zwischen 2000 und 2007 passte sich nahtlos in die Logik der Globalisierung ein. Wirtschaftliche und politische Barrieren zwischen den Staaten wurden eingerissen. Aber die Gefahr einer ansteckenden Schuldenkrise, die quer durch Europa verlief, führte zu bitteren, gegenseitigen Anschuldigungen innerhalb der EU, da Länder wie Deutschland fürchten, von ihren Nachbarn mit in den Abgrund gerissen zu werden. Der Prozess der europäischen Integration droht sich aufzulösen.
Nullsummenlogik, wonach der Gewinn eines Landes den Verlust für ein anderes bedeutet, hat zu verschärften Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten geführt. Nullsummenlogik gefährdet die Zukunft der Europäischen Union, wo sich die Staaten über die Verteilung der Kosten für den Erhalt der Gemeinschaftswährung zankten. Nullsummenlogik hat die Welt daran gehindert, bedeutende Einigungen zur Bekämpfung der Erderwärmung zu erzielen. Die Vereinigten Staaten, China, die EU und die großen Schwellenländer zögern alle, den ersten Schritt zu tun — aus Furcht, ihre heimischen Wirtschaften zu beschneiden und damit die relative Macht und den relativen Wohlstand von Rivalen zu steigern. Eine ähnliche Rivalität blockiert die Möglichkeit kooperativer Lösungen in der Frage nuklearer Weiterverbreitung, denn die großen Mächte lavieren, um sich in eine gute Position zu bringen, statt entschieden gemeinsam zu handeln, um diese gemeinsame Bedrohung zu bekämpfen. Nullsummenlogik ist auch bei anderen großen internationalen Herausforderungen im Spiel — sei es Energie-, Lebensmittel- oder Wasserknappheit —, da die Weltmächte darum ringen, sich Ressourcen zu...