1. PROBLEME DER ÖKUMENE AUS
PROTESTANTISCHER PERSPEKTIVE
Zunächst ist der Frage nachzugehen, was eigentlich einen Zwischenruf in Sachen Ökumene aus protestantischer Perspektive veranlasst. Wo und wie können Probleme gegenwärtiger ökumenischer Praxis festgestellt werden, die solch einen Zwischenruf erforderlich machen? Wie lässt sich in grundsätzlicher Weise die gegenwärtige kirchliche Praxis in unserer Gesellschaft beschreiben, und wie wird diese Praxis in der Ökumene aufgenommen und weitergeführt? Antworten auf diese Fragen lassen sich in unterschiedlichen Zusammenhängen ausmachen. Beginnen wir mit der aktuellen Stellung der konfessionellen Großkirchen in unserer Gesellschaft.
Die Kirchen und die Öffentlichkeit: Anspruch und Wirklichkeit
Debatten über die Aufgaben der großen Konfessionskirchen finden in unserer Gesellschaft eher am Rande statt. „Kirche“ – da hält sich das öffentliche Interesse in Grenzen. Wenn es darum geht, ob unser Kind einen Kindergartenplatz bekommt, dann erscheinen solche Fragen von allerdings fast veritablem Interesse. Menschen, die sich nicht als kirchennah verstehen, stehen den konfessionellen Großkirchen in manchen Fällen durchaus wohlwollend, in der Regel aber wohl eher gleichgültig bis ablehnend gegenüber. Die Tendenz dürfte in Richtung Ablehnung gehen.
Schon die Frage danach, wie und vor allem von wem gesamtgesellschaftliche Anliegen auf den Begriff zu bringen sind, wird höchst unterschiedlich beantwortet. Während die Großkirchen selbst zu der Einschätzung neigen, dass ihr Votum hier selbstredend gefragt sei, hält die Mehrheit der Bevölkerung solche Generalstatements eher für verzichtbar. Die gegenwärtige ökumenische Praxis ist auch immer wieder ein Aufbegehren gegen dieses Desinteresse nach dem Motto „Erinnern wir das öffentliche Bewusstsein mit unseren Äußerungen zur gesellschaftlichen Lage daran, dass es uns auch noch gibt!“
Doch die vorzugsweise zu den kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten oder Ostern zu Protokoll gegebenen Verlautbarungen sind oft nachgerade peinlich. Wenn der Ratsvorsitzende der EKD meint, dass Weihnachten die beste Medizin in der Zuwanderungsfrage sei, dann wird man mit einigem Recht konstatieren können, dass diese Meinung außer von ihm nur noch von einigen wenigen innerkirchlichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geteilt wird. Die meisten jedenfalls interessieren solche Deutungsofferten kaum oder gar nicht, zumal sie sich oftmals auch noch einer kirchlichen Binnensprache bedienen, die unverständlich bleibt – Weihnachten als Medizin?
In dieser Knappheit nicht verständlich, so allgemein wie richtig, an Floskelhaftem nicht mehr überbietbar … Die Liste ließe sich fortschreiben. Die zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verlautbarten ökumenischen Stellungnahmen befördern offensichtlich den gesamtgesellschaftlichen Diskurs wenig bis überhaupt nicht. Das lässt sich für alle ökumenischen Akteure sagen, eben auch über Leitsätze des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, ja selbst über die Weihnachts- oder Osterbotschaften des Heiligen Vaters.
Aus dem Alten Testament wissen die Kirchenrepräsentanten über das Prophetentum im alten Israel. Eine der Aufgaben dieses Berufstandes bestand darin, das Wort Jahwes an sein Volk weiterzugeben. Und dieses Wort enthielt nicht selten klare Direktiven, wie nämlich in dieser und jener Angelegenheit im Sinne Jahwes zu verfahren sei. Schon damals stand hinter dieser Botschaft allerdings keineswegs eins zu eins die Meinung der Gottheit. Zu Recht wird man daher schon für die damalige Zeit argwöhnen dürfen, ob die Absicht Jahwes in diesen Kontexten überhaupt so eindeutig vorlag, wie von den Protagonisten behauptet. Bestimmte politische Interessen, Überzeugungen von Meinungsführern und manches mehr hatte Eingang gefunden in das Wort des Propheten, dessen Amt als Wächteramt gebraucht und auch missbraucht wurde.
Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit ist gegenüber der Zeit der Propheten um ein Vielfaches komplexer geworden. So gibt es heute so gut wie keine Situation, in der mit eindeutiger Klarheit in knappster Form Wegweisendes gesagt werden könnte. Die Dinge liegen in der Regel vielschichtiger, sind komplexer. Stammtischparolen – als welche man solche groben Vereinfachungen ja auch bezeichnen könnte – helfen da nicht weiter, auch wenn sie im Gewand einer in Anspruch genommenen höheren Weihe feilgeboten werden.
Verbale Kraftmeiereien sind sowohl von kirchlicher Seite als auch von politischen, ökonomischen, gewerkschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Playern wenig hilfreich. Sie bedienen einen die Sachdiskussion beschädigenden Populismus. Begegnet solcher Populismus etwa von politischer Seite, so entzündet sich – wie man sagen muss auch zu Recht – Kritik, die vor allem darauf hinweist, dass Differenzierung gegenüber unsachlicher Vereinfachung Not tue. Gerade die Kirchen tun sich bei solcher Kritik gerne besonders hervor. Umso unverständlicher ist der leider auch bei ihnen immer wieder zu beobachtende Hang zur Simplifizierung, oftmals dann noch dazu in der Sprache Kanaans, die – wie gesagt – ohnehin keiner versteht.
Hinzu kommt, dass sich die Moderne, in der wir nach der Aufklärung leben, auch dadurch auszeichnet, dass die einzelnen Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit eigenständig geworden sind. Sie funktionieren sozusagen nach ihrer jeweils eigenen Logik. So darf für den Teilbereich der Wirtschaft etwa vermutet werden, dass Vorstände von Banken sich über die Allmachtsphantasien nur wundern konnten, die so manche kirchliche Verlautbarung etwa zur Diskussion um den Grexit deutlich werden ließ. Hier muss die Devise lauten: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“
Auch sind Geschichten aus der Religion jedenfalls nicht geeignet, Probleme etwa der nordamerikanischen Steuerpolitik zu lösen. Aber ausgerechnet dort können Fundamentalisten ausgemacht werden, die in besonderer Weise in der Gefahr stehen, hier Grenzen zu verwischen. Gerade sie sind häufig der Meinung, die Bibel enthalte direkte Handlungsanweisungen, die unmittelbar in politische Münze übersetzt werden können. Von solchen Fundamentalismen sind die konfessionellen Großkirchen – Gott sei Dank! – (in der Regel jedenfalls) weit entfernt.
Zu Recht gilt jenen Fundamentalismen unsere Kritik. Fruchtbringend bleibt demgegenüber nach wie vor die häufig mühsame Auseinandersetzung mit den in der Regel komplexen Problemlagen und den daraus generierten Diskussionsbeiträgen, die sich weniger in Direktiven ausdrücken, als sich mit der Entfaltung von Alternativen an die Diskussionspartner wenden. Leider – und auch das gehört zu den Ausgangsproblemen gegenwärtiger ökumenischer Praxis – beteiligen sich die Großkirchen selten an solcher Ausdifferenzierungsarbeit. Eine Ausleuchtung von Tiefenbezügen bestimmter Debattenlagen kann jedenfalls sachdienlicher und hilfreicher sein als simplifizierte Direktiven.
Die großen Konfessionskirchen haben also kein Wächteramt in unserer Gesellschaft, so gerne sie dies hier wie dort in Anspruch nehmen mögen, und zwar nicht nur, um bei jeder passenden und eben auch unpassenden Gelegenheit ihren ungefragten Kommentar abzugeben. Solche Kritik am leider immer wieder missbräuchlich ausgeübten, falsch verstandenen Wächteramt muss selbst allerdings auch Maß halten. Denn es darf natürlich nicht übersehen werden, dass sich die Konfessionskirchen in diesen Zusammenhängen in einem Dilemma befinden, das sie mit anderen gesellschaftlichen Akteuren teilen. Die Medialisierung unserer Gesellschaft fordert regelrecht eine Unkultur der kraftmeierischen Ansage. Sie fordert das eindeutige, richtungsweisende Votum.
Gewerkschaften, Parteien, Kirchen und Sozialverbände sind deshalb geradezu dazu gezwungen, „klare Ansagen“ zu machen. Wer sich an solchen Direktiven nicht beteiligt, wie redundant und damit wie wenig sachlich und hilfreich diese auch immer sein mögen, begibt sich in die Gefahr, sich aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verabschieden und so unkenntlich zu werden. Trotz dieses Mechanismus kann mit einiger Mühe Maß, Ausgewogenheit und vor allem Angemessenheit sichergestellt werden. Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ausgewogenheit wird darauf zu achten sein, dass ein gebotenes Maß an Differenzierung eingehalten wird.
Kirche der Pluralität, Kirche der Meinungsvielfalt
Dass Kurzbeiträge zu den jeweiligen gesellschaftlichen Debatten durchaus hilfreich sein können, zeigen etwa die Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten oder das Wort der Bundeskanzlerin zum Neuen Jahr. Beiden gelingt es weit überwiegend über Partei- und Personengrenzen hinaus die Gefahren von Komplexitätsreduzierung und Populismus zu umgehen. Was in diesen Beiträgen zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs anderen Akteuren zum Vorbild gereichen könnte, ist, dass sie es vermögen, gewissermaßen „mehrheitsfähig“ zu formulieren. Wohltuend ist hier die Vermeidung simplifizierender Direktiven und populistischer Vereinfachungen.
Gerade für die evangelische Kirche – in welcher der über das Modell des Priestertums aller Gläubigen gewonnene religiöse Gleichheitsgedanke gilt – ist eine Positionierung, die keine Einzelmeinung repräsentieren soll, natürlich besonders schwierig. Kein Bischof, kein Oberkirchenrat oder wer auch immer hat das Recht, „protestantische Positionen“ aufgrund seiner Stellung qua Amt zu legitimieren. Aufgrund des religiösen Gleichheitsgedankens gilt zudem, dass eine Position immer nur eine Position neben anderen – ebenso legitimen – Positionen...