Ökumene in Zeiten des Terrors
Ein Briefwechsel
Berlin, 16. November 2015
Lieber Pater Mertes,
Es ist ein merkwürdiger Zeitpunkt, um unseren Briefwechsel zu beginnen. Erst drei Tage ist es her seit jenem Freitag, dem 13. November, dem Tag der Attentate in Paris, die nicht nur Frankreich und Europa, sondern auch die ganze Welt grundlegend zu verändern drohen. 129 meist sehr junge Menschen sind da wahllos getötet worden, zahllose weitere sind verletzt. Auch die Attentäter sind jung. Sie sind zu allem entschlossen, sie sehen sich als Gotteskrieger. Sie sprengen sich in die Luft mit dem Ruf »Gott ist groß« auf den Lippen, einem ausgestreckten Zeigefinger als symbolischem Zeichen der Einheit ihres Gottes in der einen, die Kalaschnikow in der anderen Hand. »Wir sind im Krieg«, heißt es wieder als Antwort, wie damals nach dem 11. September 2001. Ist das der zutreffende Begriff für die Zustände, in denen wir uns nun wieder befinden? Und sind wir je aus diesem erklärten und offensichtlich akzeptierten Kriegszustand herausgekommen?
Nach einer neuen Statistik sind allein im letzten Jahr über 32000 Menschen solchen Attentaten zum Opfer gefallen. Als ob die Welt in einem suizidalen Zustand wäre! Die meisten starben im Irak, in Syrien, Afghanistan, Nigeria, Pakistan. Haben wir diese Opfer weltweit auch so betrauert wie »unsere Toten« in Europa oder in den USA? Haben wir sie überhaupt zur Kenntnis genommen? Und haben wir nur ahnungsweise etwas verstanden von all dem? Woher kommt dieser Hass? Und warum sucht er eine religiöse Form, Formel, Pathos, Motivation, um sich auszudrücken? Ist das nur Blasphemie oder hat es einen Grund, der uns erschrecken müsste? Und wie verhalten wir, wir Christen, uns dazu? Moralisch? Kriegerisch? Überlegen? Als Opfer oder als Richter? Als Teilnehmer und Propagandisten eines kollektiven abendländischen Kreuzzugs gegen dieses neue Böse? Als Besitzer und Verteidiger von ewigen humanitären Werten, die weltweit Geltung und Beachtung einfordern? Als Realpolitiker oder als Hörer der Bergpredigt, die uns die Feindesliebe als einzige Möglichkeit anbietet, um der Spirale der Gewalt zu entrinnen? Auf welcher Seite stehen wir überhaupt und was bedeutet es, dass man unbedingt auf einer Seite stehen muss?
In diesen Wirrnissen fangen wir also unseren Briefwechsel an, der mit all diesen Herausforderungen zu tun hat, aber vor allem mit der Frage, wie wir uns als Christen – in unserem speziellen Fall wir beide, Sie als Katholik und ich als Protestantin – in dieser unruhigen Welt verstehen, in welcher Verfassung wir selbst sind, um uns überhaupt mit diesem religiösen, politischen, menschlichen Stimmengewirr, das unsere Gegenwart bestimmt, auseinandersetzen zu können.
Das Lutherjahr 2017 wirft seine Schatten voraus, die fünfhundertste Wiederkehr des Jahres, in dem die große Kirchenspaltung begann, die keiner der beteiligten Kaiser, Könige, Kirchenführer und Weisheitslehrer damals zu verhindern imstande war. Dieser tragischen Spaltung der abendländischen Christenheit folgte bald ein Dreißigjähriger Krieg, bei dem Europa gänzlich unregierbar wurde – ein failing state nach dem anderen, ein ganzer Kontinent, der in die Barbarei zurückfiel. Die Hälfte seiner Bevölkerung, Kriegsknechte wie Zivilisten, war tot, die Städte waren verwüstet, Kulturschätze von unendlicher Schönheit zerstört. Die meisten Überlebenden, von zu viel Trauer, Not und Gewalterfahrung abgestumpft und traumatisiert, trieben heimatlos über die verbrannten Landstriche.
Auch damals waren religiöse Fahnen, Symbole und Parolen die Zeichen, mit denen die Soldateska und ihre Feldherren in den Krieg zogen, mit heißen Gebeten und mit Waffen, die von Geistlichen beider Konfessionen gesegnet waren. Das alles hat ihnen nicht geholfen, geholfen hat erst die Vernunft des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück aus dem Jahre 1648. Da waren offensichtlich keine Ideologen und heißblütigen Gotteskämpfer mehr am Werk, sondern vernunft- und ausgleichsbegabte Skeptiker, die genug von den jeweiligen Kriegsparteien und ihren Obsessionen verstanden, um jenen fast unmöglich scheinenden Kompromiss nicht aus den Augen zu verlieren, der es allen Beteiligten am Ende erlaubte, die Waffen aus der Hand zu legen.
Macht es einen Sinn, heute, am Anfang unseres Briefwechsels, diese dunklen Zeiten des Terrors in der Geschichte Europas und unserer beider Kirchen erneut wachzurufen? Ist das der passende Hintergrund für unser Bemühen, selbst in apokalyptischen Szenarien einen Apfelbaum zu pflanzen, so wie es Martin Luther einmal seinen von Sorgen vergrübelten Freunden angeraten hat?
Wir werden es erfahren in den kommenden Wochen, die wir uns für diesen Briefwechsel vorgenommen haben. Fangen wir also an mit unserem Gespräch zwischen Sankt Blasien, wo Sie Ihre Schule leiten, und Berlin, wo mein Schreibtisch steht.
Eigentlich wollte ich dieses Schreiben mit einer ganz anderen, sehr persönlichen Geschichte beginnen: mit einer Geschichte, die an einem besonderen Sommermorgen ihren Anfang nahm.
Es begann am 20. Juli 2013 in der Gedenkstätte Plötzensee. Es war der Morgen eines sehr heißen Tages. (Auch am 20. Juli 1944, als das Attentat auf Adolf Hitler in der stickigen Wolfsschanze in Ostpreußen versucht wurde, soll es ungewöhnlich heiß gewesen sein.) Im Inneren des Plötzenseer Henkerschuppens, wo ein Gedenkgottesdienst stattfinden sollte, fühlte es sich dennoch kühl an, eine Kühle, die mehr von innen kam. Wie jedes Jahr wurde an diesem Ort vor allen offiziellen Gedenkfeiern ein Gottesdienst gefeiert, gemeinsam vorbereitet von dem katholischen Geistlichen und seinem protestantischen Kollegen, angekündigt als »ökumenischer Gottesdienst mit Abendmahl und Eucharistiefeier.« Für viele der Angehörigen der Hingerichteten ist dieses Zusammentreffen an diesem Ort der berührendste und wichtigste Termin des ganzen Tages.
Die Liturgie war offensichtlich gemeinsam erarbeitet, die Texte wurden gemeinsam gelesen, die Predigt wechselte jährlich zwischen dem katholischen und dem protestantischen Geistlichen. Dann kam der Abendmahlsteil und ich fand in dem verteilten Programmzettel zweierlei Versionen, eine katholische und eine protestantische. »Also ist auch das in jährlichem Wechsel«, vermutete ich. Da es mit der protestantischen Variante des Abendmahls begann, nahm ich daran teil und achtete nicht zu sehr darauf, dass ungefähr die Hälfte der Besucher sitzen blieb. Als alles vorbei war: die Einsetzungsworte gesprochen, die Einladung verkündet, Brot und Wein ausgeteilt und jeder mit einem Segenswort entlassen, begriff ich erst meinen Irrtum. Denn danach begann alles noch einmal, nur nach katholischem Ritus: Einsetzungsworte, Wandlung, Einladung, zum Tisch des Herrn zu treten, Verteilung der Hostien …
Ich erinnere mich noch genau, was mir durch den Kopf ging: ein einziges schockiertes Staunen. Wie nach einer gedehnten Schrecksekunde kam dann ein Begreifen: Selbst hier, am Ort des Henkers, der keinerlei Unterschied machte, selbst hier gibt es keine Möglichkeit, das Trennende zwischen den Konfessionen zu überwinden. Selbst hier fällt das geistlich verordnete Fallbeil, das das richtige vom falschen Abendmahl trennt. Selbst diese Tode haben nicht Kraft genug, die Worte »für euch alle ohne Unterschied gegeben« Realität werden zu lassen.
Ich war fassungslos, traurig, wütend, alles zugleich. Einen Moment lang dachte ich daran, einfach noch einmal aufzustehen und das zweite Mal an den Altar zu treten. Ich bin schon oft so mit zur Austeilung gegangen, wenn ich an katholischen Eucharistiefeiern teilgenommen habe, um für mich diese kirchenpolitische Trennung einfach nicht anzuerkennen, ihr keine Macht über meinen Glauben einzuräumen. Aber dieses Mal habe ich es nicht gewagt. Ich wollte in diesem engen Kreis niemanden verletzen, ich wollte den katholischen Priester an diesem besonderen Tag nicht öffentlich in Schwierigkeiten bringen. Ich wollte diesen Ort der Hingerichteten nicht entfernt für etwas nutzen, was man als Demonstration eines Dissenses deuten konnte. Aber ich sah: Ich war definitiv nicht eingeladen, ich war in meine eigene protestantische Abendmahlsform verbannt, die den Makel trug, nicht ganz vollständig und richtig, irgendwie unwürdig zu sein.
Das hat mich ungewöhnlich lange beschäftigt, sowohl der Vorgang selbst als auch der Moment meiner...