1 Unterschiede im Kommunikationsverhalten
Interkulturelle Kommunikationsprobleme sind meist darauf zurückzuführen, dass die InteraktionspartnerInnen jeweils von ihren eigenen kulturspezifischen Erwartungsstrukturen ausgehen.
Die folgenden Beschreibungen und Erfahrungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie geben vielmehr die Aussagen der interviewten Frauen aus verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen wieder und liefern uns Hilfestellungen für die Betreuung. Es wird natürlich immer auch Migrantinnen aus dem gleichen Land geben, die die gleiche Situation anders erleben. Die Aussagen sind individuell - so wie es nicht DIE Türkin oder DIE Somalierin gibt. Die Zusammenstellung kann jedoch unser Bewusstsein schärfen und Missverständnisse vermeiden helfen. Einige zusätzliche Informationen stammen aus der Literatur (Alban et al., 1999, Lenthe U., 2011).
Allgemein gilt bei der verbalen Kommunikation, dass viele Klientinnen aus anderen Herkunftsländern wegen Sprachbarrieren auf die informelle Plauderei mit Hebammen und Frauenärzten verzichten müssen. Doch gerade diese ungezwungene Form des Gesprächs vermittelt den Migrantinnen Vertrauen, Sicherheit und Beruhigung.
Wenn Sprachschwierigkeiten bestehen, ist es besonders wichtig, auf die nonverbale Kommunikation zu achten.
1.1 Gestik
Vorsicht ist bei Handzeichen geboten!
Das Heranwinken von Personen, in unserer Kultur üblicherweise mit erhobener Hand und der Handfläche zum Körper, wird in Lateinamerika, in Nordafrika und in arabischen Ländern mit nach unten gekehrter Handfläche ausgeführt, also genau umgekehrt. Winkt man in arabischen Ländern gemäß unserem Deutungsmuster jemanden heran, kommt dies einer groben Beleidigung gleich, da man diese Geste nur für Hunde oder Prostituierte benutzt.
Daumen hoch heißt in den deutschsprachigen Ländern z. B. „toll“, „prima“. In Australien oder Nigeria bedeutet dies jedoch eine vulgäre Beschimpfung, mit der man jemanden loswerden will.
1.2 Mimik
Die Mimik ist eine der wichtigsten Arten nonverbaler Signale, da sie eine sehr starke und differenzierte Ausdruckskraft besitzt. Sie zeigt Gefühlszustände der Interagierenden, Reaktionen auf empfangene Botschaften.
In südostasiatischen Kulturen ist man bemüht, sein Gesicht zu wahren. Dazu gehört das Beherrschen der eigenen Mimik und sich emotionale Regungen jeglicher Art nicht anmerken zu lassen. Daher wird auch Schmerz nur selten öffentlich gezeigt. Die Menschen wollen den Schmerz für sich behalten und niemanden verpflichten, daran teilzuhaben.
Gebärende Frauen, die die Sprache der Betreuenden nicht verstehen, achten besonders sensibel auf deren Mimik und Gestik.
Bereits ein leichtes Stirnrunzeln der Hebamme während der Herztonkontrolle des ungeborenen Kindes verunsichert die Frau.
1.3 Blickkontakt
In der westlichen Kultur gehört der Blickkontakt mit dem Kommunikationspartner zum guten Ton: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
In asiatischen, orientalischen oder afrikanischen Kulturen verbietet es oft der Respekt, mit dem Gesprächspartner Blickkontakt zu haben, vor allem wenn es sich um eine Autoritätsperson handelt.
So kann eine asiatische Klientin den Blickkontakt aus Respekt vor dem höheren Status der Betreuenden vermeiden. Es gilt mitunter als höflich, beim Zuhören die Augen niederzuschlagen, seitlich am Gesprächspartner vorbeizuschauen oder im Raum umherzublicken.
In orientalischen Kulturen ist vor allem der direkte Blickkontakt zwischen Frauen und Männern verpönt (kann als sexuelle Aufforderung ausgelegt werden).
1.4 Berührungen
Für das Berührungsverhalten gelten kulturspezifische oder religiös bedingte Regeln. Körperliche Berührungen sind stets mit einem Eindringen in den intimen Bereich eines Menschen verbunden. Die individuellen Grenzen sind dabei von Kultur zu Kultur höchst unterschiedlich.
In islamischen Kulturen findet in der Öffentlichkeit kein Körperkontakt zwischen den Geschlechtern statt, während der gleichgeschlechtliche Berührungskontakt üblich ist.
Bereits der in unserer Kultur als höflich geltende Händedruck kann in diesen Kulturen als Verletzung der Distanz und als Eindringen in die Privatsphäre aufgefasst werden.
Während der Geburt gehören Berührungen dazu – für uns Hebammen und Ärzte sind diese Berührungen Arbeitsalltag, für die Frauen aus anderen Sprach- und Kulturkreisen sind sie oft mit Scham verbunden. Ein einfaches „Darf ich?“, wie wir das bei Frauen mit deutscher Sprache als Erlaubnis zu Berührungen (Bauch, Brust, vaginale Untersuchung etc.) einholen, gilt für die Frauen aus anderen Sprach- und Kulturkreisen als hohe Wertschätzung.
1.5 Foreigner Talk
Beispiele: „Du haben Schmerzen?“ oder „Müssen Medikamente schlucken“.
Es ist eine falsche Annahme, dass diese Minimalsprache besser verstanden wird als ein einfacher, korrekter Satz. Die Frauen empfinden es in der Regel als abwertend, wenn so mit ihnen gesprochen wird.
Langsam, in kurzen und einfachen Sätzen sprechen, überflüssige Wörter und Redewendungen vermeiden sowie durch geduldiges und höfliches Nachfragen das Verständnis überprüfen, gewährleisten eine verständliche Sprache.
Foreigner Talk wird von der Gesprächspartnerin oft als beleidigende Abwertung ihrer Fähigkeiten empfunden.
1.6 Grammatikalische Unterschiede und Nebenbedeutungen
Beispiel: „Haben Sie heute keine Medikamente eingenommen?“ - Eine Klientin mit deutscher Muttersprache antwortet mit ‚Nein‘, wenn sie die Medikamente nicht genommen hat, mit ‚doch‘, wenn sie sie genommen hat.
Klientinnen aus asiatischen Ländern antworten in vielen Fällen mit ‚Ja‘, wenn sie die Medikamente nicht genommen haben. Die Bescheidenheit und Zurückhaltung der Frauen aus dieser Kultur bedingt oft eine Ablehnung eines von uns gemachten Angebotes (z. B. ein Schmerzmittel) – sie nehmen es jedoch bei der zweiten Nachfrage sehr gerne an.
Bei Frauen aus muslimischen Ländern kann ein ‚Ja‘, begleitet von einem ‚Insch’allah (so Gott will), auch ein ‚Nein‘ bedeuten.
Menschen aus kollektivistischen Kulturen sprechen oft von ‚wir‘, wenn sie ‚ich‘ meinen, da sie sich selbst als Teil ihrer Gruppe begreifen und das Wort ‚ich‘ nur selten benutzen.
Wörter wie Familie oder Bruder bedeuten in kollektivistischen Kulturen etwas anderes als in unserem kulturellen Sprachraum: Mit Familie ist in kollektivistischen Kulturen immer die Großfamilie gemeint. Mit Bruder können auch Cousins, entfernte Verwandte oder gute Freunde bezeichnet werden.
Kollektivistische Kulturen
bedeutet das Gegenteil von Individualismus, das Kollektiv kann eine Klasse, ein Volk, ein Betrieb oder jede andere Art von Gemeinschaft sein. Dies ist vor allem in südlichen Ländern und in Gesellschaften der Fall, in denen der Mensch von Geburt an in eine starke, geschlossene „Wir-Gruppe“ integriert ist, die ihn ein Leben lang schützt und dafür eine bedingungslose Loyalität verlangen kann. Die Personen bleiben ein Leben lang Teil ihrer Familie, sie leben mehr für die Gruppe als für sich selbst (Hofstede, 2009).
1.7 Fachausdrücke
Medizinische...