Wem die Stunde schlägt im Gebirg
Auf klobigen Skiern sieht man drei Männer und eine Frau im Schnee, das Schwarzweißfoto ist leicht verschwommen. Als seien sie zum Start angetreten, blicken sie entschlossen in die Kamera. Sie sind in dicke Kleidung eingemummt, tragen Mützen und große Brillen.
Sie haben sich in Pose begeben, zugleich wirken sie sportlich auf dem Sprung. Als ob der starke Bärtige rechts im Bild gerade gemeint hätte, er könne olympisch mitmachen. Schließlich, würden sie sich erinnern, habe ihr Paris kürzlich die Sommerspiele gesehen, und vor kaum zwölf Monaten sei Winterolympia in Chamonix abgehalten worden. In der Metropole an der Seine werde Ende des Jahres die erste »Nationalausstellung des Skilaufs und des Wintersports« eröffnet. Die vier Menschen im Schnee scheinen up to date zu sein.
Es sind John Dos Passos, der Verleger Gerald Murphy, eine Sekretärin und Ernest Hemingway im vorarlbergischen Montafon. Das Jahr 1925 hat erst ein paar Tage gesehen.
Wer im folgenden Jahr am 13. Januar 1926 die dünne Vorarlberger Landes-Zeitung aufschlägt, erfährt auf der letzten der vier Seiten, dass künftig die Weltmeisterschaft im Eishockey mit dem olympischen Turnier ausgetragen werde. Die Goldene bedeute zugleich den WM-Titel.
Auf Seite drei steht die Rubrik »Aus Stadt und Land«. In Schruns im Montafon, ist da zu lesen, hätten »Hans Sachs aus dem Nüremberg des 16. Jahrhunderts und Bernhard Shaw, ein Irländer aus dem London des 20. Jahrhunderts«, um den Vorrang an einem erfolgreichen Theaterabend gestritten. Herr Norman G. Kapp aus London hatte zwei Stücke auf die Bühne gebracht. Mitten in den winterlichen Alpen, betont der Artikel, »zeigte er in seiner Beherrschung der modernen Bühnentechnik, daß er die Entdeckungen des Gordon Craig und des Max Reinhardt assimiliert hatte«.
Ungewöhnlich war derlei nicht. Mit der Mechanisierung, mit der Moderne und ihrem Faible für Beschleunigung kamen mehr Touristen auf die Schneehänge der Bergorte. Vor allem Engländer stürzten sich in die recht neuen Sportarten, ohne zugleich eine kulturelle Betätigung missen zu wollen, schließlich mache die Einheit von Körper und Geist den Gentleman aus.
Unter dem kurzen Artikel der kleinen Landes-Zeitung steht der Name des Berichterstatters. Heute mutet es an, als habe sich damals das vorarlbergische Lokalblatt eine internationale Größe geleistet: Ernest Hemingway.
Ein anderes Foto zeigt den späteren Literaturnobelpreisträger wieder im österreichischen Schnee auf Skiern. Es muss wärmer gewesen sein, die Oberbekleidung ist sichtlich dünn. Hemingway hat eine Pudelhaube auf, seine Frau Hadley eine Kappe, sie trägt das Baby auf dem Arm. »Hadley und ich fanden Skilaufen herrlich, seit wir es zuerst zusammen in der Schweiz versucht hatten und später in Cortina d’Ampezzo in den Dolomiten«, schreibt er.
Paris, Spanien und die Alpen, das waren in dieser Zeit für Hemingway die Orte, an denen er sich »zu Hause« fühlte. »Wir alle kannten die verschiedenen Schneebeschaffenheiten, und jeder wusste, wie man im tiefen Pulverschnee laufen musste.« In Erinnerung blieb ihm, »wie der Schnee auf der Straße zum Dorf knirschte, wenn wir mit unseren Skiern und Skistöcken auf den Schultern in der Kälte nach Hause gingen«.
Der Wintersport erlebte in diesen Jahren seinen Aufschwung, er (und mit ihm Olympia auf Eis und Schnee) wurde zum Tourismusfaktor. Er lockte Begüterte und Kulturbürger aus den Städten in die Berge. Man lernte von den örtlichen Skipionieren, wie Hemingway erzählt: »Herr Walter Lent, einer der ersten Hochgebirgsskiläufer, der eine Zeitlang der Partner von Hannes Schneider, dem großen Arlbergskiläufer, gewesen war und mit diesem Skiwachs fürs Aufsteigen und für alle Arten von Schneebeschaffenheit hergestellt hatte, gründete eine Schule für alpines Skilaufen, in der wir uns beide anmeldeten.«
Dass Hemingway und andere damals im Winter nach Österreich fuhren, hatte durchaus auch praktische Gründe. Wegen der Geldentwertung war der Urlaub hier besonders günstig, für knapp dreißig Dollar ließ sich eine Woche lang gut leben. In seinem ersten Brief aus Schruns schrieb Hemingway am 20. Januar 1925 an Gertrude Stein und Alice B. Toklas: »Wir verbringen eine schöne Zeit und sparen Geld.«
Das hatten zuvor schon andere Skitouristen aus dem Pariser Kunstleben genützt. Die Foto-Szenerie ist die gleiche. Sie zeigt zwei Männer im Schnee, mit weißen Pullovern, dunklen Hosen und Handschuhen; zwischen ihnen steht eine Frau im langen dunklen Rock. Alle drei auf Skiern, hinter ihnen das Gelände im Weiß, der verschneite Wald: Tarrenz bei Imst 1922, Paul Éluard und seine Ehefrau Gala, mit ihnen Max Ernst, der im Sommer nach Tirol gekommen war. Tristan Tzara folgte, später stießen André Breton und Hans Arp dazu. Schließlich traf sich fast die gesamte Dada-Bewegung in der Bergluft. »Dada au grand air«, schrieben sie, erstellten ein Tirol-Manifest, dazu einen Aufruf zu einer letzten Alpenvergletscherung mit den ersten Worten »Brieflicher Alpengruß nebst Brunnenvergiftung durch Jodeln«.
Konsequenterweise betrieben sie das Skifahren weniger ernsthaft als die amerikanischen und englischen Besucher an Silvretta und Arlberg.
Kurz bevor Hemingway 1925 im Montafon weilte, hatte gerade die Phase starker medialer Aufmerksamkeit für Wintersport-Wettkämpfe begonnen. Der Presse war zu entnehmen, dass man Mitte Januar in Innsbruck die österreichischen Meisterschaften im Eiskunstlauf für Paare durchführte, in Hamburg die Europameisterschaften, am Semmering unweit von Wien die Bobmeisterschaft. Im Februar verzeichneten die österreichischen und deutschen Skimeisterschaften in Kitzbühel über dreihundert Teilnehmer; die Zeitungen berichteten weniger davon, sie widmeten sich auf ihren Sportseiten vielmehr dem Eishockey. Und warben für heimische Wintersportplätze, für den Film Berg des Schicksals mit Hannes Schneider und Luis Trenker, er sei »das hohe Lied des ewigen Menschheitstraumes, die Natur zu besiegen«. Zahlreich war die Reklame für das nötige Material, zwei Meter lange Eschenski kosteten in Wien mindestens zweihunderttausend Kronen, Skischuhe über fünfhunderttausend Kronen, Norwegerhosen für Herren 370000, der Preis eines Abonnements des Vorarlberger Tagblatts betrug für den Januar 25000 Kronen. Am 1. März 1925 kam der Schilling, einer für zehntausend Kronen.
Die Bewegung in den Bergen, im winterlichen Gelände war im Ersten Weltkrieg militärisch intensiviert worden. Von alpiner Technik, von der Kenntnis dieser Umwelt hing das Überleben ab. Soldaten mühten sich nicht nur selbst, sondern auch ihr Kriegsgerät in steile Höhen. Mit Skiern mussten sie umgehen können. In Eis und Schnee legten sie Schützengräben an, ganze Berggipfel mit Besatzung wurden in die Luft gesprengt.
Den Schrecken dieser Kämpfe oberhalb der Baumgrenze, wo es monatelang um einige Meter eines Abhangs oder um eine Felsnase blutig hin und her ging, erfuhr Hemingway als Berichterstatter an der Isonzo-Front. Hier waren die Menschen rundum feindlichen Elementen ausgesetzt, diese »Berge in Flammen« radierten die Freuden des Alpinismus gründlich aus.
Im großen Schlachten wurden die Körper von den Auswüchsen der Technik besiegt und vernichtet: Der beste Skifahrer hatte keine Chance gegen einen Gasangriff, der gewandteste Kletterer war einem Geschütz hilflos ausgesetzt. Nach Kriegsende suchte man umso stärker, dem Körper wieder Erfolge zu verschaffen. Der immense Aufschwung des Sports in den zwanziger Jahren beruhte sowohl auf dem sozialen Drang zur Freizeit und der Entwicklung der Massenmedien als auch auf einer Art Revanche der Körperlichkeit.
Nach dem Grauen der Bergfront am Isonzo vermochte Hemingway in Vorarlberg die Freude an der Bewegung im Schnee zu finden. Er ließ sich einen Bart wachsen, da er meinte, dadurch sein Gesicht bei Stürzen schützen zu können. So ging er auch auf längere Skitouren, in drei Tagen über die Berge bis nach Zürs und Lech am Arlberg, und einmal war er in einem Schutzhaus auf zweitausend Metern Höhe eine Woche lang eingeschneit.
Die Eindrücke der beiden Winteraufenthalte 1924/25 und 1925/26 im Montafon verarbeitete er in der Novelle Schnee am Kilimandscharo, während John Dos Passos sich in seinem Buch Die schönen Zeiten erinnerte. Im Gegensatz zu Hemingway fand er sich beim Skifahren »viel zu unbeholfen«: »Schwitzend und schnaufend arbeitete ich mich auf meinen Seehundfellen bergauf und genoss die Aussicht. Es war nicht allzu kalt, und wenn die Sonne schien, sogar ziemlich heiß. Blaue und purpurne Schatten lagen in Wellen auf den schneebedeckten Gipfeln.« Da er es nicht und nicht schaffte, mit seinen Skiern einen Bogen zu fahren, behalf er sich bergab auf eine wenig elegante Art: »Wenn die Hänge zu steil wurden, hockte ich mich auf meine Skier und verwandelte sie in eine Art Schlitten. Ich wurde mächtig aufgezogen, als sich bei der Ankunft herausstellte, dass ich mir ein Loch in den Hosenboden gescheuert hatte.«
In Hemingways Erzählband Men without women findet sich die Short Story An Alpine Idyll (Ein Gebirgsidyll), 1927 unter dem Titel The Fifth Column and the First Forty-Nine...