Einzelfall
Eine Bratsche als Warnung, das wäre fair gewesen. Sie hätte sich hinterrücks anschleichen und damit anfangen können, leicht unheilvoll zu sägen. Das wäre dann das Signal für das Klavier gewesen, nervös zu trippeln, ein paar zupfige, hektische Streicher machten auch noch mit, und schnell wäre ihre unheilvolle Botschaft nicht mehr zu überhören gewesen. Wäre mein Leben ein Film oder wenigstens eine Vorabendserie, hätte mich längst die sich immer dringlicher und dränglicher aufblähende Hintergrundmusik gewarnt, kulminierend in einem überpathetischen Orgelakkord, so massiv, als sei der Organist selbst ohnmächtig geworden bei so viel Dramatik und habe seinen Organistenkopf mit vollem Schädelgewicht auf die Tasten sinken lassen: DööööööörÖÖÖMMM! Mein Leben ist aber kein Film, es gibt niemals verräterische Musik und keine Vorwarnung, und so bekomme ich gar nicht richtig mit, was passiert, weil es so schnell geht, als das kleine Tier plötzlich in meinen Armen zusammensackt, während ich ihm gerade sein Halsband anziehen will.
»Wollnwermal«, schnauft dann der Mann vom Tierkrematorium, vielleicht zwei Stunden später, vielleicht drei. Schlägt die weiche, graue Decke mit den kleinen weißen Häschen drauf über Figo zusammen, steckt das flauschige Wollpaket mit meinem toten Hund darin in raschelnde schwarze Plastikfolie, die auch das aufgedruckte, pietätvoll gemeinte silberne Krematoriums-Logo nicht zu etwas anderem macht als zu einem Müllsack. Ich stehe daneben, in meinem Arbeitszimmer, und sehe zu, wie der Mann anschließend versucht, den Figo-Sack in eine ganz offensichtlich zu kleine schwarze Sporttasche zu zwängen, auch durch das unförmige Plastik kann ich sehen, wie die ausgestreckten, steifen Hundebeine, im Tod noch stacksiger als ohnehin schon, aus der Tasche ragen. Der Krematoriumsmann schnauft noch mehr und schiebt und drückt und wird ein bisschen brutal, und dann ist der leichenstarre Hund endlich drin in der Tasche und wird aus meiner Wohnung getragen, mein Figo, eingewickelt in seine Lieblingsdecke mit den Häschen drauf.
Ich stehe in meinem Arbeitszimmer, aus dem der Mann mit der Tasche gerade eine hundeförmige Lücke herausgestanzt hat. Und habe, Ohrwürmer können manchmal taktlose Arschgeigen sein, eine bescheuerte Fanta-Vier-eske Dauerschleife im Kopf: Jetzt ist er weg – weg! Und ich bin wieder allein, allein.
Alleine war ich schon vorher gewesen, vermutlich bereits ziemlich lange, bevor vor ein paar Monaten der Hund einzog, ich hatte es nur nicht gemerkt. Irgendwie bin ich da reingeschliddert, während ich von lästigen Lebenshaltungsdingen abgelenkt wurde. War ich nicht eigentlich mal recht beliebt gewesen, oder hatte es mir zumindest glaubhaft eingebildet, mit Ausgehverabredungen, Geburtstagseinladungen und bimmelnden Facebook-Chat-Aufploppfenstern? Aber es geht ja ganz schnell, merkte ich jetzt im Rückblick, wenn die Freundesversickerung erst einmal angefangen hat. Es gluckert nur noch einmal leise, und von der behaglichen Freude über ein schönes, ungestörtes Netflix-Glotz-Wochenende ist es nicht weit bis zur Erkenntnis: Oh, jetzt habe ich seit vier Tagen kein Wort zu irgendwem gesagt, außer bitte-danke-tschüs zur Frau an der Supermarktkasse, und auch schon lange nichts anderes mehr angehabt als Jogginghosen. Und ja, da hätte ich es merken können: Ich hatte angefangen, in GUTE, extra-komfortable Jogginghosen zu investieren. Gibt es auch in Kaschmir.
Es tat nicht weh, als meine sozialen Kontakte immer überschaubarer wurden. Ich hatte den Job gekündigt und war Freelancer mit Homeoffice geworden, ich vermisste die Kollegen nicht und hatte auch sonst nicht mehr oft Lust auf andere Menschen gehabt. Der einzige Freund, den ich noch regelmäßig sah, war Philipp. Ein hervorragender Komplize gegen die Welt, gegen die anderen. Wir lachten zusammen über ihre Vertrotteltheit und erstellten Blödheitsranglisten, einmal in der Woche saßen wir auf dem Hundeauslaufplatz auf der immerselben Bank Gericht über alle, die uns gerade vor die Flinte kamen, we vs. them, dazu zwei Flaschen Bier für jeden, um uns herum spielten die Hunde, besser ging es nicht für mich. Sonst verließ ich das Haus, außer für Gassigänge, nur noch selten. Es war wohl kein Zufall, dass ich mir eine Wohnung in einem Haus gemietet hatte, das auch ein bisschen Bollwerk ist, früher mal Arbeiterpalast für parteitreue DDR-Bewohner, heute Festung für mich Weltmüde. Umgeben zwar nicht von einer Zugbrücke, aber von einer sechsspurigen Straße, da muss man erstmal drüberkommen.
Als einsam hätte ich mich trotzdem nie bezeichnet. Allein das Wort schon, wer würde sich das wie eine welke Knickblume ans Gemütsrevers kleben wollen? Wie ich bei »Single« immer noch zuerst an kleine Schallplatten denke, kamen mir früher beim Attribut »einsam« Bilder von verhuscht-härmten alten Frauen in den Kopf, verbitterten Taubenfütterern, Alleinüberlebenden, Abgeschobenen. Einsam, das waren doch die anderen, ich bin bestenfalls alleine. Und zwar, weil ich das so möchte, das glaubte ich fest.
Am Anfang war das bestimmt auch so, nach viel Arbeitsstress im letzten Job brauchte ich einfach Zeit für mich, ich dachte nicht darüber nach, ob da vielleicht langsam etwas aus dem Ruder lief. Es lag sicher auch nicht an mir, wenn zwischendurch mal wieder jemand verlorenging, dachte ich mir, wir leben in einer Nomadenwelt. Wen hatte ich alles schon zurückgelassen in den vergangenen zwanzig Jahren, als ich von Würzburg nach Tübingen, von Tübingen nach Stuttgart, von Stuttgart nach Hamburg, von Hamburg nach Berlin gezogen bin: meine Eltern, die ich trotz anderer Vorsätze dann doch immer nur noch an Weihnachten sehe, meine lieben Freunde Lydia und Edgar, die extra eine weiche Decke auf die Rückbank ihres Autos legten, weil sie wussten, dass ich auf der Heimreise von unseren schönen, regelmäßigen Kunstausflügen oft schon einschlummerte, meinen Freund Frank, mit dem ich gerne den aufwendig besorgten, besonderen Champagner trank, den auch der Held in unserem gemeinsamen Lieblingsbuch bevorzugt wegschnäbelte, dazu diverse Ausgehkameraden, die unterwegs unerklärlich verlorengingen wie Socken in der Waschmaschine.
Neue Bekanntschaften kamen kaum mehr dazu. Immer mehr scheute ich die schrecklich langwierige Kennenlernarbeit, die Phase, in der man bei neuen Kontakten erst einmal die Basics klären musste, die grobe Lebensgeschichte, die grundsätzlichen Geschmacksurteile, Hund oder Katze, Strand oder Berge, Larissa Marolt oder Melanie Müller. Wie das dauerte! Man sollte für solche Zwecke ein Booklet über sich erstellen, eine Art Grundwissen oder, wie die Heftchen, die es früher zu den Pflichtlektüren im Deutschunterricht gab: »Materialien und Erläuterungen«. Eine Rützelbroschüre mit reichlich Fußnoten, die ich den neuen Interessenten zum Selbststudium in die Hand drücken könnte. Je nach angepeilter Tiefe der Bekanntschaft könnte das eine laminierte Karteikarte mit dem Allernötigsten oder eine mehrbändige Enzyklopädie sein. Spitzengeschäftsidee.
Es stieß also selten jemand Neues zu meinem stetig abschmelzenden Freundesbestand. Es brauchte dazu ja nicht einmal ein schepperndes Zerwürfnis, oft kam einfach das Leben dazwischen, ab und zu mit furchtbaren Ereignissen, meistens aber mit eher fröhlichen, mit einem neuen Job, einer neuen Liebelei – und weg waren die Bekanntschaften wieder, in ihren neuen Städten und Partnerschaften, das Freundeskarussell drehte sich, flüchtig und oberflächlich wurde es gegenüber den neuen und alten Freunden, es fiel gar nicht mehr schwer, auf Mails nicht mehr zu antworten, Besuche bleiben- und Rituale auslaufen zu lassen.
Das viele Alleinsein fühlte sich ja auch gut an, ein scharfer Distinktionshobel: »Ich bin alleine und ich weiß es, und ich find es sogar cool«, heißt es in dem ganz alten Tocotronic-Lied »Freiburg«, und auch wenn meine kindische Abkapselrebellion der Mittneunzigerjahre, in denen ich diese Zeilen zum ersten Mal hörte, längst abgeschmirgelte Kanten bekommen hat, gelten sie für mich irgendwie immer noch. Alleine sein, einsam sein, das taugte eine gute Weile auch als Lifestyle-Entscheidung, selbst als mir schließlich auffiel, dass meine Soloparts annähernd so ausufernd waren wie in den schlimmsten Jimi-Hendrix-Gitarrengniedel-Orgien. »Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit«, schreibt Schopenhauer, zwischen Ohrensessel und Craftbeer-Pop-up-Festival also, und da fiel mir die Wahl nicht schwer, weil ich viele Menschen nun mal sehr uninteressant und anstrengend finde. Ehrlich, ohne Koketterie, no offence.
Also lieber mal absagen und zu Hause sein, Thomas Bernhard als Schutzheiligen und die Lieder von Casiotone for the Painfully Alone als Hintergrundmusik, so kann man sich ganz gemütlich einrichten, es kam auch meiner generellen Grundfaulheit wunderbar entgegen, nicht mehr dauernd durch die halbe Stadt gondeln müssen, um irgendwen zu treffen. »You mean well, but leave me be / Yes, I’m alone, but I’m alone and free« singt die Eiskönigin im Disney-Film »Frozen«, und genau das hätte ich in dieser Phase der heiteren Abkapselung gerne auf meinen Anrufbeantworter gespielt, aber da hatte ich längst kein Festnetztelefon mehr, weil ich eh nicht mehr ranging, wenn es klingelte, und es klingelte auch nicht mehr sehr oft.
Ich verpasste dann wohl einfach den Punkt, als aus cool plötzlich tiefgekühlt wurde. So fühlte ich mich eines Tages, als sei ich in meinem Leben irgendwie versehentlich auf die Frosttaste gekommen und eingefroren, während das Leben drumherum einfach weiterging. Das Unmerkliche, das ist das Unheimliche. Wenn...