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Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion

Gestalt und Logik des Imperialkrieges

AutorDierk Walter
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl414 Seiten
ISBN9783868546293
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Die aktuellen Interventionen westlicher Mächte in Drittweltländern haben vieles gemeinsam mit den unzähligen Gewaltkonflikten an der Peripherie seit der Eroberung Amerikas im 16. Jahrhundert. Wie ihre Vorgänger sind die modernen Imperialkriege vor allem von den Gegebenheiten des Raums und der ausgeprägten Asymmetrie von Militärorganisation, Ressourcen, Kriegführungsstilen und Gewaltkulturen der Konfliktparteien geprägt. Sie sind im Kern lokale Bürgerkriege, in denen die westlichen Mächte nur ein dominanter Machtfaktor unter vielen sind. Sie haben keine klaren Fronten, keinen Anfang und kein Ende. Regeln zur Gewalteinhegung spielen nur eine geringe Rolle. Die westliche Militärmaschinerie erweist sich auch heute noch als unfähig, einen politischen Konflikt militärisch zu entscheiden, einen Gegner zur Schlacht zu stellen, der keinen Grund hat, sie anzunehmen, und sich auf Guerillakrieg und Terrorismus verlässt. Den Preis zahlt letztlich, früher wie heute, die Bevölkerung vor Ort. Dierk Walter unternimmt erstmals den Versuch, die Logik der Gewaltkonflikte im Rahmen der europäischen Expansion schlüssig zu erklären. Er untersucht Konfliktmuster, die Bedingungen der Gewaltentgrenzung und die Dynamik des Zusammenstoßes gegensätzlicher Gewaltkulturen. Dabei werden Parallelen zwischen verschiedenen Imperien und Kontinuitäten über die Epochengrenzen hinweg deutlich, die eines ganz klarmachen: Die jüngsten Militäreinsätze westlicher Streitkräfte in Drittweltländern wie Afghanistan, Irak oder Mali sind keine 'neuen Kriege'. Vielmehr stehen sie in einer 500-jährigen Tradition transkultureller Gewaltkonflikte unter den spezifischen Bedingungen der 'kolonialen Situation'.

Dierk Walter, PD Dr. phil., Historiker; seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit 2005 Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg; im Wintersemester 2012/2013 Vertretung der Professur für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. 1995 bis 2001 war er Assistent für Neueste allgemeine Geschichte am Historischen Institut der Universität Bern, wo er 2001 promoviert und 2008 habilitiert wurde und seitdem als Privatdozent lehrt.

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Leseprobe

1. Krieg an der Peripherie


»Der Krieg in Afrika hatte einen ganz anderen Charakter. Er war durchaus ein Krieg, ein echter Krieg, sehr hart, sehr mühsam, sehr schwierig, aber sui generis1 Was eine populäre Memoirengeschichte des französischen Algerienkrieges hier schon in der Einleitung postuliert, ist signifikant. Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion – der Imperialkrieg, Kolonialkrieg, kleine Krieg – funktioniert anerkanntermaßen anders als der konventionelle Großkrieg zwischen westlichen Mächten, ist geradezu als sein strukturelles Gegenteil beschreibbar.2 Die Definition ex negativo ist seit Langem der charakteristische Einstieg für jede Analyse des Imperialkrieges, wie einige einschlägige Stellungnahmen aus den letzten gut hundert Jahren illustrieren:

»Das vergleichende Studium von Kolonialkriegen erfordert zwei Prämissen. Die erste ist, dass Kolonialkriege eine separate Kategorie bilden. Das bedeutet, dass sie etwas gemeinsam haben, was sie von anderen Kriegen unterscheidet – kurz: dass sie sui generis sind.« (Hendrik Wesseling)3

»Kolonialkrieg ist ganz anders als das, was gemeinhin als konventioneller Krieg bekannt ist.« (Jean Gottmann)4

»Der Kolonialkrieg unterscheidet sich vom gewöhnlich in Europa praktizierten Krieg durch eine Anzahl besonderer Bedingungen seiner Ausführung […].« (Albert Ditte)5

»Kleiner Krieg ist ein Begriff, der in den letzten Jahren sehr in Gebrauch gekommen ist und der zugegebenermaßen etwas schwierig zu definieren ist. Praktischerweise kann man sagen, dass er alle Feldzüge einschließt außer denen, in denen beide gegnerische Seiten aus regulären Truppen bestehen. […] Die Lehren der großen Meister der Kriegskunst und die Erfahrungen, die aus jüngsten Feldzügen in Amerika und auf dem europäischen Kontinent gewonnen worden sind, haben bestimmte Prinzipien und Präzedenzfälle etabliert, die das Fundament des gegenwärtigen Systems regulärer Kriegführung bilden. […] Aber die Bedingungen der kleinen Kriege sind so unterschiedlich, die Kampfweise des Feindes oft so eigentümlich und die Kriegsschauplätze weisen so einmalige Eigenschaften auf, dass irreguläre Kriegführung allgemein nach einer vom formelhaften System völlig abweichenden Methode betrieben werden muss.« (Charles Callwell)6

Worin bestehen diese »besonderen Bedingungen«, durch die der Krieg im Rahmen der europäischen Expansion zum diametralen Gegenteil des Großkriegs der abendländischen Moderne wird? Gottmann verwies diesbezüglich recht klassisch auf ferne Länder, große, unbekannte Räume, numerisch überlegene, landeskundige Feinde, ein großes Zivilisationsgefälle zwischen den Gegnern sowie auf gänzlich anders geartete Kriegsziele,7 und die anderen drei zitierten Autoritäten führten im Prinzip Ähnliches aus. Neuere Definitionen des Phänomens Kolonialkrieg lehnen sich daran an.8 Allen gemeinsam ist allerdings, dass sie sich zumindest vorrangig auf die klassische Epoche der jüngeren europäischen Kolonialreiche und ihrer Expansionskriege in Übersee beziehen, also auf den Zeitraum vom mittleren 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Tatsächlich aber sind viele der »besonderen Bedingungen« verallgemeinerbar für die Gesamtgeschichte der gewaltsamen Etablierung und Aufrechterhaltung der Vorherrschaft der westlichen Imperien in der übrigen Welt.

Wie also gestalteten sich diese »besonderen Bedingungen« in fünf Jahrhunderten europäischer Expansion? Die physische Geografie des Kriegsschauplatzes bestimmte den Charakter der Kriegführung und erschwerte insbesondere die imperiale Logistik. Die Gegnerkonstellation war hoch asymmetrisch: Fragmentierte indigene Gesellschaften mit extensiver Gewaltkultur trafen auf globale Imperien mit potenziell nahezu unbegrenzten Ressourcen und dem Willen zum intensiven Gewalteinsatz im Stil der abendländischen entscheidungssuchenden Kriegführung. Faktisch aber begrenzten die Logik des imperialen Systems und die Schwierigkeiten peripherer Machtprojektion den Mitteleinsatz an der Peripherie. Eine schnelle militärische Entscheidung wurde dadurch häufig unmöglich; typisch für die Ränder der Imperien waren vielmehr dauerhafte extensive Gewaltzustände. Von diesen Umständen, und den Lösungsversuchen der Imperien, handelt dieses Kapitel.

Raum


Um sich zunächst die Dimensionen des geografischen Raumes zu vergegenwärtigen, in dem sich Imperialkriege oft abspielten, muss man nicht gleich die über 13 Millionen Quadratkilometer des von einigen wenigen Russen eroberten Sibiriens als Maßstab nehmen oder die 8000 Kilometer vom Ural bis zur Beringstraße.9 Schon die Ausdehnung des Kongobeckens, dessen größter Teil dann belgische Kolonie wurde, entsprach der Europas von London bis zur Wolga.10 Das aufständische Algerien der 1950er Jahre war fünfmal so groß wie das französische Mutterland, seinerseits damals das größte Land Europas westlich der UdSSR.11

Den Räumen entsprachen die Distanzen. Francisco Pizarros kleine Truppe legte 1533 während der Eroberung Perus von Cajamarca bis zur Inkahauptstadt Cuzco 1200 Kilometer den Andenhauptkamm entlang zurück.12 Die Goldfelder von Cuiabá an der brasilianischen Frontier, über die Ende des 17. Jahrhunderts erbitterte Kämpfe mit den dortigen Indianern ausbrachen, waren von der nächstgelegenen größeren Ansiedlung, São Paulo, 3500 gewundene Flusskilometer entfernt, und der Weg führte durch tiefe Schluchten und durch den Pantanal, eines der größten Feuchtgebiete der Erde.13 Die französische Foureau-Lamy-Expedition von 1898 marschierte von Algerien bis zum Tschadsee fast die gleiche Entfernung, allerdings zu Fuß durch die Sahara.14 Noch 1870 – im Zeitalter der Eisenbahnen – führte der Feldzug gegen die separatistische Métis-Republik am Red River in Kanada eine britische Kolonne unter dem späteren Feldmarschall Sir Garnet Wolseley 1000 Kilometer durch weglose Wildnis mit moskitoverseuchten Sümpfen und Wäldern.15

Auch wenn nicht alle Kriegsschauplätze riesig waren,16 so waren viele Hunderte von Kilometern lange Nachschublinien durch feindliches Gebiet im Krieg an der Peripherie eher die Regel als die Ausnahme.17 Und »feindliches Gebiet« darf man dabei in vielen Fällen durchaus wörtlich nehmen und nicht etwa nur als metaphorisches Kürzel für »vom Feind beherrschtes Gebiet«. Wie der britische Oberst Charles Callwell festhielt, dessen um 1900 mehrfach aufgelegtes Handbuch »Small Wars« für Jahrzehnte die Bibel des Imperialkrieges blieb, waren Kriege an der Peripherie »vor allem Feldzüge gegen die Natur«.18 Natürlich fanden manche Konflikte unter gemäßigten Naturbedingungen statt, aber viel häufiger waren unwirtliches Gelände, extreme klimatische Bedingungen und eine feindselige Fauna und Flora. In der Sahara etwa wechselten weit über 50 Grad Hitze bei Tag mit Nachtfrösten ab, und kurz nach Sonnenuntergang koexistierten mitunter beide Extreme: Der von der Sonne erhitzte Sand verbrannte die Füße, während die Ohren bereits in der eisigen Nachtluft abzufrieren drohten. Dazu kamen tagelange Sandstürme, Taranteln, Sandflöhe, Läuse, Skorpione, Giftschlangen, Schakale und Hyänen sowie Durchfall, Cholera und Malaria.19

Klimatische Ausnahmebedingungen zeichneten auch viele Feldzüge im Westen der USA aus. Die Apachenkriege fanden in den verbrannten Malariagefilden Arizonas statt, wo es bei Temperaturen zwischen 40 und 50 Grad kaum Wasser gab, dafür aber Dornengestrüpp, Schlangen, Skorpione, Tausendfüßler, Taranteln und die giftige Gila-Krustenechse,20 und die Gewehre so heiß wurden, dass man sie nicht mehr anfassen konnte.21 Dafür boten die Feldzüge gegen die Sioux im Norden oft Umstände wie im Winter 1876/1877, als Blizzards mit Temperaturen von 40 bis 45 Grad unter null die Luft mit schneidenden Eiskristallen erfüllten und die Soldaten dicke Eisklumpen im Bart, die Pferde Eiszapfen an den Nüstern hatten.22 In den Seminolenkriegen Floridas in den 1840er Jahren waren es Hitze, Seuchen, das stinkende stehende Wasser in den Everglades und die dort heimische Schneide (Cladium jamaicense), ein gezahntes Grasgewächs, das entzündliche Verletzungen verursacht, die den amerikanischen Truppen den Einsatz zur Hölle machten.23

Auch die Karibik bot neben feuchttropischer Hitze eine ungewöhnliche und feindselige Flora und Fauna: Kakteen und andere Dornensträucher, Moskitos, Skorpione, Riesenkrabbenspinnen und Tausendfüßler, allesamt giftig.24 In Südamerika, Afrika und Südostasien dominierte vielerorts der lichtlose Dschungel den Kriegsschauplatz, wo...

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