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E-Book

Orgasmus und Gewalt

Minima islamica

AutorRachid Boutayeb
VerlagAlibri Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783865697165
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
In seinen Texten befasst sich Rachid Boutayeb mit dem Körper im Islam. Es geht darin nicht nur um den 'phallozentrischen Diskurs der Orthodoxie' und die Gewalt gegen die Weiblichkeit, sondern auch um tieferliegende Fragen der Autonomie des Körpers. Dabei bringt Boutayeb vor allem die dissidenten Stimmen des Maghreb gegen die Orthodoxie in Stellung.

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Leseprobe

Statt eines Vorworts. Fragmente einer Reise nach Tripolis

Ich schloss die Tür und hörte die müden Fußtritte auf der rostigen alten Treppe. Ich blieb eine Weile wie festgenagelt an meinem Platz stehen, Angstschweiß auf der Stirn, bevor ich mit zweifelnden Schritten zum hölzernen Bett ging, das die Hälfte des Hotelzimmers einnahm. Ich spürte das trockene Holz unter meinem Körper knacken. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Augenblicke vergangen waren, ich schwebte zwischen Schlaf und dem blassen Geruch der Erinnerungen. Die unerträgliche Hitze und das Summen einer Fliege, die mich hartnäckig angriff, hinderten mich daran, weiterzuschlafen. Ich sprang auf das Bett und erschlug die Fliege. Müdigkeit lähmte meinen Körper. Ich ging die paar Schritte ans Fenster, öffnete es und zündete mir eine Zigarette an. Mein Blick schweifte über die dunklen Gesichter der Menschen, die vorübergingen. Eine Kutsche fuhr mit großer Geschwindigkeit vorbei. Der Fahrer hieb mit der Peitsche unermüdlich auf das Pferd ein, als ob er alte Rechnungen mit ihm offen hätte. Meine Augen hefteten sich an die kleinen Katzen, die den Müll zerfetzten. Abwesend verfolgte ich den Rauch, den meine Lunge ausspuckte, und ich dachte an die dahinschwindenden Jahre, die nichts von dieser Welt hier verändert hatten. Sie beherbergte die gleichen Gesichter, die gleichen Erinnerungen, die gleiche Trägheit. Sie altert nicht, weil sie alt geboren ist, wie die Menschen, die in einem Moment kommen und gehen.

Einen Tag später verließ ich das Hotel für einen Spaziergang durch die alten Gassen der Stadt, die ich seit meiner Kindheit genau kenne. Ich kam ans Meer und lehnte mich an die Hafenmauer, meine Augen verfolgten die Schiffe, die das Meer überquerten. Ich habe als Kind davon geträumt, Kapitän zu werden, auf einem Schiff zu arbeiten oder wie meine Vorfahren das Mittelmeer als Pirat in Flammen zu setzen. Ich liebte das Meer über alles. In zwei Tagen werde ich die Stadt meiner Kindheit und Jugend auf der Suche nach meiner Schwester verlassen. Das erste, was ich nach meiner Ankunft getan hatte, war meinen Onkel zu besuchen. Ich hatte immer ein schwieriges Verhältnis zu ihm. Schlimmer noch: Ich war überzeugt, dass er für all das Unglück, das meiner Familie widerfahren war, verantwortlich sei. Ich klopfte an die Tür. Die Tür öffnete sich, und mein Onkel stand da, mit leichenblassem Gesicht. Einige Zeit regungslos, versuchte er vielleicht zu verstehen, welch böse Überraschung vor ihm stand. „Sie ist gegangen. Es war ihre Entscheidung. Ich habe versucht, sie zu halten, aber vergeblich.“

Ich verließ das Haus meines Onkels, zornig und geschwächt zugleich. Ich wusste nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Obdachlos. Kein Freund. Jeder hat sein Exil, seine eigene Flucht gewählt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie wollten eine Welt verlassen, die sie zu einem langsamen Tod verurteilte. Der Mensch flüchtet nur, jeder sucht seine Flucht nach vorne, sein Vergessen, seine Lebenslüge. Im Hafen hörte ich, dass die Wartezeit für die Einschiffung Stunden dauern sollte. Fast alle Reisenden nach Tripolis waren gezwungen, die Fähre zu nehmen seit der Schließung der Grenze. Der sadistische Herrscher aus dem Nachbarland hatte entschieden, die Grenzen zu schließen, ohne einen Augenblick an das daraus folgende Leid zu denken. Als ob die Schließung der Grenzen Europas nicht genügte. Nichts band mich mehr an diese kranke Welt, auch die Erinnerungen nicht, jede Minute empfand ich als Hölle. Die grausame Sonne, die sprach­losen Gesichter, das Geschrei, das Chaos, alles war mir fremd geworden und unerträglich. Ich erblickte hinter mir eine lange Schlange, die kein Ende nehmen wollte. Ich fühlte mich fremd in meiner eigenen Haut. Ich schleppte mich voran, mit letzter Kraft, mit letztem Atem. Polizisten begannen herumzuschreien und Reisende zu beleidigen, teilweise ohne jeden Anlass. Die Sonne, Fluten von Wut und Hass. Leblos die Gesichter der Reisenden, leblos. Das Meer regungslos. Ich hörte jemanden sagen, das Schiff sei wieder überfüllt, die Hälfte der Reisenden werde in den schmutzigen Gängen schlafen. Saad schien diese Hölle oftmals erlebt zu haben. Er sagte mir, wenn ich zahlte, bekäme ich eine Kabine für mich allein. Ich gab ihm das Geld.

Nur mit großer Mühe konnte ich meine Augen offen halten. Zollbeamte würfelten mein Gepäck durcheinander, sorgfältig notierten sie jeden Gegenstand. Sie fragten mich nach dem Grund meiner Reise, und ohne meine Antwort abzuwarten, wünschte mir einer: „Viel Spaß in der Wüste Gaddafis!“

Gott sei Dank, ich hatte eine Kabine bekommen, zusammen mit Saad. Ich konnte mein Bett den ganzen Tag nicht verlassen. Vier Tage sollte die Reise nach Tripolis dauern. Auch Saad verbrachte fast den ganzen Tag in der Kabine. Er war mit seiner Ware beschäftigt. Er ist keiner der gewöhnlichen Händler, die nach Tripolis fahren, um dort staatlich subventionierte Ware zu kaufen und sie auf den populären Märkten von Casa­blanca wieder zu verkaufen. Saad ist Schmuggler. Ich verstand nun, warum die Zollbeamten ihn hatten gehen lassen, ohne einen Blick auf sein Gepäck zu werfen.

„Bist du noch wach?“, fragte er und fing an, mir seine Geschichte zu erzählen. Ich hatte ihm gesagt, dass ich einige Jahre in Deutschland gelebt hatte. „Ich habe viele Male versucht, nach Italien zu emigrieren, aber ohne Erfolg“, sagte er. „Ich habe fast den Verstand verloren. Es gab Hunderte von Menschen, die vor der italienischen Botschaft warteten, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Auch ich habe monatelang auf ein Visum gewartet, vergeblich. Überall fordern sie Freiheit, und manchmal schicken sie uns Bomber, um sie uns beizubringen, aber sie verbieten uns immer, diese Freiheit zu leben. Ich nahm das Meer, wie Hunderte, Tausende Menschen, das raue Meer, wutentbrannt. Voll Groll und Hass war das Meer, voller Leichen und zerschmetterter Erwartungen. Das Meer ist eine grundlose Wüste, himmellos. Das Meer ist ein Verbündeter der Kapitalisten.

Der Botschaftsbeamte gab mir meine Papiere zurück und sagte, ich hätte in Italien nichts zu suchen. Ich bewegte mich nicht und verlangte nach einer anständigen Antwort. Der Beamte meinte, ich hätte kein Recht auf eine Antwort und solle die Botschaft sofort verlassen! Ich versuchte das Unmögliche, ging zu einem Freund, der die italienische Sprache beherrscht, und ließ ihn einen Brief übersetzen, den ich auf Arabisch verfasst hatte. Es war ein Brief an den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, in dem ich behauptete, der letzte Nachkomme Giuseppe Garibaldis zu sein, der zwischen 1859 und 1860 nach Tanger verbannt worden war.

Mein Brief blieb unbeantwortet. Ich wusste nicht, was ich meiner Mutter sagen sollte, die Tag und Nacht für mich betete. Drei Schwestern, die älteste über dreißig, ohne Mann und ohne Job, und das gleiche Schicksal erwartet vermutlich die beiden anderen. Mein Vater war vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen. Er war für mehr als dreißig Jahre ein einfacher Beamter im Justizministerium gewesen. Seine Rente konnte die Familie nicht versorgen. Ich konnte diese Situation auf Dauer nicht ertragen, und beschloss, die Erde in Richtung Tanger zu durchbohren. Tanger: Anfang vom Ende, Wiege verlorener Träume, Mutter, die ihre Kinder für das Unbekannte verkauft.

Monate verbrachte ich in dieser Stadt, schlief auf dem Sandstrand, in kleinen Fischerbooten. Manchmal gab es keine Boote und keinen Himmel. Eines Tages jedenfalls würde ich die Gelegenheit haben, aus der verfluchten Stadt zu flüchten. Ich arbeitete als Kellner und verlor meinen Job beim ersten Streit, dann als Gemüseverkäufer am Petit Socco, später als illegaler Reiseführer. Manchmal verdiente ich mehr Geld als erwartet und teilte es mit den anderen. Mein Zuhause waren der Strand und seine unfreundliche Kälte. Selig sei die Sonne, sie schenkt uns Wärme. Ist es wahr, dass meine Landsleute so hungrig sind? Ich sah sie in blutigen Kämpfen um ein Stück Brot, um eine halbe Zigarette, um den Rest einer billigen Flasche Wein, um den Arsch einer Frau auf der Flucht.

Mein Gesicht steckte ich in den Sand. Der Fremde hat kein Gesicht. Manchmal zerriss ein Schrei die Stille. Wieder spülte uns das Meer Leichen an den Strand. Diesmal waren sechs Schwarzafrikaner von Haien zerfetzt worden. Mahlzeit für Fische. Ich war bereit, in den Tod zu gehen, anstatt mein Leben im gähnenden Warten zu vergeuden. Ich wollte weg, von diesem Land, von dieser Wüste, von diesen Menschen. Ich sah sie einander fressen wie wilde Tiere, mit müden roten Augen sah ich, wie Kain Abel mit einem riesigen Stein erschlug. Der Stein war größer als der greise Herr über uns.“

Schwaches Licht sickerte durch den schwarzen und staubigen Vorhang. Saad schnarchte noch. Am Tag zuvor hatte er geraucht und getrunken. Die Nacht durch hustete er heftig. Ich zwang mich, mein Bett zu verlassen. Ich war hungrig. Je mehr ich trank, desto hungriger wurde ich, wollte aber trinken, um meine Angst zu vergessen. Ich suchte meine Armbanduhr, wusste aber nicht, wo ich sie gelassen hatte. Schließlich fand ich sie; sie funktionierte nicht mehr. Hier brauchte man keine Uhren. Ich wollte Saad wecken, tat es im letzten Moment dann aber nicht. Ich eilte unter die Dusche. Ich war schmutzig und stank, hatte die ganze Nacht an meinem Körper gekratzt. Aus der Dusche kommend, sah ich, wie Saad darum kämpfte, seine Augen zu öffnen. Ich ging hinaus, ohne dass er mich bemerkte. Einige Minuten später kehrte ich in die Kabine zurück, um meine Brille zu holen, und blickte in die benachbarten Kabinen. Sie waren voll von Zigarettenrauch und Frauen, die laut sprachen und lachten! Es waren vermutlich Prostituierte, die diese Reise oft unternommen...

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