Einleitung
In den Tagen vor dem 23. Mai 2015 stöhnt San Salvador unter einer drückenden Hitze; sogar die Einheimischen haben zu kämpfen. Die für die Jahreszeit üblichen Regenfälle lassen auf sich warten. Es dauert bis zum Freitag, als gegen fünf am Nachmittag der Himmel seine Schleusen öffnet. Ein tropischer Gewitterregen sorgt für die ersehnte Abkühlung, gerade einen Tag vor dem Ereignis, auf das so viele hier hingefiebert haben: die Seligsprechung von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero. Etwas mehr als zwei Monate zuvor, am 3. Februar 2015, war bekanntgegeben worden, worauf viele fast 35 Jahre gehofft hatten: die kirchenoffizielle Anerkennung von Oscar Romero als Märtyrer um des Glaubens willen.
Als nun also am Freitag der Regen auf San Salvador herunterprasselt, gießt es in solchen Strömen, dass die geplante Lichterprozession und die anschließende Vigil im Wasser versinken. Die Salvadorianer nehmen es jedoch gelassen und als ein Zeichen des Himmels. Der Regen nach der langen Trockenzeit des tropischen Sommers wird immer als Segen empfunden. Doch der Himmel sollte am folgenden Tag noch ein eindrucksvolleres Zeichen geben.
Auf der Plaza Salvador del Mundo, an einem wichtigen Straßenkreuzungspunkt von San Salvador, wurde über Monate eine überdachte Bühne aufgebaut. Neben dem Altar sind hier die Plätze für die Kardinäle, Bischöfe und Regierungsmitglieder, unterhalb dieser Bühne 6.000 Stühle für die Priester und geladenen Gäste. Auf den Straßen außerhalb dieses abgetrennten Geländes drängen sich an diesem Samstag geschätzte 500.000 Teilnehmer. Viele sind mit Bussen vom Land gekommen. Eine Familie aus Guarjila im Norden des Landes hat den Weg in die Hauptstadt sogar in einer viertägigen Fußwanderung zurückgelegt. Einige verbringen die Nacht zum Samstag in Plastikzelten, um möglichst nahe bei dem Ereignis zu sein. Sie lassen mit Viva-Rufen ihren Heiligen hochleben. Viele tragen sein Bild vor sich her – überall herrscht eine Stimmung großer Freude und Dankbarkeit.
Am Samstagmorgen füllt sich gegen acht die Seminarkirche San José de la Montaña mit 1.200 Priestern, über 100 Bischöfen und fünf Kardinälen. Sie tragen weiße Alben und rote Stolen, die eigens für diesen Tag hergestellt worden waren. Rot symbolisiert in der katholischen Liturgie die Farbe des Blutes der Märtyrer. Zum Schutz gegen die Sonne bekommt jeder einen weißen Sonnenhut. Die Teilnehmer kommen aus 57 unterschiedlichen Ländern, sogar aus Australien sind Menschen angereist. Es herrscht eine pfingstliche Stimmung in einer bunten Vielfalt; alle sind verbunden im Geist von Oscar Romero.
Gegen halb zehn setzt sich die Prozession der Priester und Bischöfe in Richtung Festgelände in Bewegung. Dort sind schon Hostienschalen mit insgesamt 200.000 Hostien bereitgestellt. Um Punkt zehn beginnt die Feier mit dem Lied „Vamos todos al banquete“ – „Wir gehen alle zum festlichen Mahl“. Dieses Lied geht auf eine Predigt des Jesuiten Rutilio Grande zurück, dessen Ermordung entscheidend für die Wandlung Romeros hin zum prophetischen Verteidiger der Armen war. Anschließend eröffnet Kardinal Angelo Amato, der im Vatikan Verantwortliche für die Seligsprechungen, den Gottesdienst. Er schlägt eine Brücke zu den unvollendeten Gottesdiensten bei der Ermordung und der Beerdigung Romeros. Der tödliche Schuss hat Romero im Augenblick der Gabenbereitung von Brot und Wein getroffen; bei dem Beerdigungsgottesdienst haben Sicherheitskräfte in die trauernde Menge geschossen. Diese Gottesdienste würden heute sozusagen mit Romeros Seligsprechung beendet.
Nach dem Bußritus richtet sich Erzbischof José Luis Escobar Alas formell an Kardinal Angelo Amato als Vertreter von Papst Franziskus und bittet um die Seligsprechung. Amato verliest daraufhin den Apostolischen Brief des Papstes mit der Seligsprechung Oscar Arnulfo Romeros als „Bischof, Märtyrer, Hirten nach dem Herzen Christi, Evangelisierer und Vater der Armen, heroischer Zeuge des Reiches Gottes, eines Reiches der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit“. Die Versammlung antwortete mit dem Lied „Dein Reich ist Leben, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden“. In diesem Augenblick setzt sich eine Prozession mit einem Reliquienschrein in Bewegung, in dem das blutgetränkte Hemd Romeros ausgestellt ist. Von Monseñor Ricardo Urioste, seinem Generalvikar, und Diakonen mit Psalmzweigen als Symbol des Sieges der Märtyrer begleitet, wird der Schrein neben dem Altar aufgestellt. Dieser Schrein tritt in den folgenden Monaten eine Reise durch alle Pfarreien El Salvadors an; danach wird ein riesiges Portrait Romeros enthüllt.
Plötzlich kommt Unruhe auf. Viele zeigen zum Himmel: Um die leicht hinter einer Wolke verborgene Sonne hat sich kreisrund eine große Regenbogenaureole gebildet – wie ein riesiger Heiligenschein. Für dieses Halo genannte klimatische Phänomen gibt es eine naturwissenschaftliche Erklärung. Doch in dieser Form ist es sehr selten. Sogar einige Bischöfe bewegen sich zum Rand der Tribüne und fotografieren das Naturschauspiel mit ihren Handys. Viele deuten es als ein Zeichen des Himmels – als sollte die Seligsprechung Romeros von oben bekräftigt werden.
In seiner Predigt preist Kardinal Amato den neuen Seligen als einen Mann des Friedens, „dessen Licht weiterhin über den Armen und Ausgegrenzten leuchtet“. Bei der Prozession zur Gabenbereitung wird auch der Bericht der Wahrheitskommission zum Altar getragen, die von den Vereinten Nationen nach den Friedensverträgen im Jahr 1992 eingesetzt wurde. Das Dokument trägt den Titel „Vom Wahnsinn zur Hoffnung“. In ihm wird Roberto D’Aubuisson, der die Todesschwadronen in El Salvador organisierte, als der Auftraggeber des Mordes genannt.
Die Priester verteilen die Kommunion; danach wird der Brief verlesen, den Papst Franziskus an Erzbischof Escobar Alas geschrieben hat. Darin zählt der Papst Romero unter „die besten Söhne der Kirche“. Er vergleicht ihn sogar mit Mose, der sein Volk aus der Unterdrückung befreit hat. Romero sei der gute Hirte gewesen, der sein Leben für seine Schafe gegeben habe: „Als das Zusammenleben schwierig wurde, verstand es Erzbischof Romero, seine Herde zu führen, zu verteidigen und zu schützen … Sein Dienst war von einer besonderen Hinwendung zu den Ärmsten und Ausgegrenzten gekennzeichnet.“ Am Ende des Briefes äußert der Papst die Hoffnung, dass die Seligsprechung auch ein Beitrag zur Versöhnung in El Salvador werde. Tatsächlich leidet das Land immer noch unter großen sozialen Gegensätzen, politischer Polarisierung und der Gewalt von Jugendbanden.
Die Feier endet gegen eins am Mittag mit einem Lied, das der in El Salvador besonders verehrten Muttergottes des Friedens gewidmet ist; sie besaß für Romero immer eine besondere Bedeutung. Das Chaos, das einige befürchtet hatten, bleibt aus. Die Organisation klappt weitgehend reibungslos. El Salvador zeigt sich der Welt an diesem Tag von seiner besten Seite. Sogar die Jugendbanden kündigten eine Art Waffenstillstand an. Für 24 Stunden wird die Mordrate von durchschnittlich 25 pro Tag auf vier zurückgehen. Viele sagen, das wichtigste und notwendigste Wunder Romeros wäre die Überwindung der Gewalt und Polarisierung in El Salvador.
Im Verlauf der vergangenen zwei Jahre hat sich immer klarer gezeigt: Die treibende Kraft hinter der Seligsprechung war Papst Franziskus gewesen. Ein Priester aus El Salvador traf ihn 2007 bei der Bischofsversammlung im brasilianischen Aparecida. Er hörte vom damaligen Erzbischof von Buenos Aires: „Wenn ich Papst wäre, würde ich Romero morgen seligsprechen. Doch ich werde niemals Papst.“ In Letzterem hat er sich getäuscht, und in Ersterem hat er Wort gehalten.
Während meiner Teilnahme an dieser Seligsprechungsfeier ist mir noch einmal deutlich geworden, wie sehr Oscar Romero mein eigenes Leben verändert hat. Zum ersten Mal war ich auf ihn aufmerksam geworden, als in den Nachrichten seine Ermordung am 24. März 1980 gemeldet wurde. Besonders schockierte mich damals, dass er während der Feier der heiligen Messe erschossen worden war. Plötzlich wurde die Erinnerung an den Tod Jesu real: „Mein Leib, der für euch hingegeben wird, mein Blut, das für euch vergossen wird.“ Ich stand damals ganz am Anfang meines Weges im Jesuitenorden. In der Kapelle meditierte ich über dieses Ereignis. Und noch heute ist mir gegenwärtig, wie sich in mir die Bewunderung für das Zeugnis Romeros mit Empörung und Angst mischte. Aber El Salvador war für mich damals weit entfernt.
Neun Jahre später landete ich in El Salvador. Oscar Romero hatte mich nicht mehr losgelassen. Ich wollte mehr über sein Land und seine Kirche erfahren. Ich wollte auch mehr über die Theologie wissen, die seinem Engagement zugrunde lag: die Theologie der Befreiung. Ich hatte inzwischen die beiden Jesuiten Jon Sobrino und Ignacio Ellacuría kennengelernt, zwei wichtige Befreiungstheologen und enge Berater Romeros. Über ihre Theologie schrieb ich meine Dissertation unter dem Titel „Theologie des gekreuzigten Volkes“. Das war der Anfang einer inzwischen über 25-jährigen Geschichte, die mich mit dem kleinen zentralamerikanischen Land verbindet.
Dabei kam ich mit der Geschichte der Märtyrer dieses Landes auf eine existenzielle Weise in Berührung. Am 16. November 1989 wurden sechs Jesuiten in der Zentralamerikanischen Universität wegen ihres Einsatzes für Glaube und Gerechtigkeit von Soldaten der Armee ermordet. Mit ihnen wurden die Köchin Elba Ramos und ihre Tochter Celina umgebracht, weil die Soldaten den Befehl erhalten hatten, keine Zeugen von dem Verbrechen übrig zu lassen. Unter ihnen war Ignacio Ellacuría. Mit Ignacio Martín-Baró hatte ich an den Wochenenden in einer Landgemeinde mit Namen Jayaque zusammengearbeitet. Nach...