Der Pfarrerssohn:
Freiheit schmecken
Memmingen, am Südwestrand Bayerns im Regierungsbezirk Schwaben, liegt verkehrsgünstig und ist eine der aufstrebenden Städte Bayerns. Die Einwohnerzahl wächst. Seit 2008 landen die Fluggesellschaften Ryanair und Wizzair auf dem früheren Fliegerhorst der Bundeswehr, dem höchstgelegenen Verkehrsflughafen Deutschlands und dem kleinsten der drei im Freistaat.
Alle vier Jahre vergibt die Stadt einen Freiheitspreis. Denn zur Zeit der Bauernkriege, 1525, formulierten die Anführer der aufständischen Bauern hier in Memmingen zum ersten Mal ihre Forderungen nach Freiheit und Gleichheit, gegründet auf das Evangelium. Ihre zwölf Artikel sind so etwas wie eine frühe Erklärung von Menschenrechten. Heinrich Bedford-Strohm sitzt in der Jury des Freiheitspreises. 1960 wurde er in Memmingen geboren, genau gesagt im Dorf Buxach, das 1972 eingemeindet wurde. Hier ist er zuhause, regional und auch geistig. Zuletzt verlieh die Jury den Preis 2013 an die junge Pakistanerin Malala Yousafzai. Sie kämpfte im pakistanischen Swat-Tal, das von Taliban beherrscht war, dafür, dass Mädchen zur Schule gehen können. Dafür wurde sie bei einem Attentat schwer verletzt.
In der Jury des Freiheitspreises sitzt auch der frühere Landtagsabgeordnete Herbert Müller. 1960 war er in der evangelischen Jugendarbeit engagiert. Er erinnert sich an den damaligen Pfarrer Albert Strohm, Heinrich Bedford-Strohms Vater. »Pfarrer Strohm hat uns Gruppenleiter als Bezirksjugendpfarrer geistlich begleitet und gefördert. Er war ein ganz engagierter Mann«, sagt Müller.
1960 wird Barbara und Albert Strohms viertes Kind geboren. Sie nennen den Sohn Hans-Heinrich. Vor ihm sind Dietrich, Frederike und Christoph geboren. Fünf Jahre lang ist Heinrich der Jüngste. Dann kommt die Tochter Renate nach. Es gibt ein Bild des vierjährigen Heinrich: Er steht im Dachstuhl eines Bauernhauses, das zum Gemeindezentrum umgebaut werden soll. Mit dem Vater und den Geschwistern deckt er die alten Dachziegel ab.
Das Bild erzählt viel über Heinrichs Kindheit, denn Kirche und Theologie prägen das Leben der Familie. Schon Albert Strohm ist Pfarrerssohn. Er stammt aus Bayreuth. Sein Bruder Theodor Strohm promoviert gerade; er wird später Theologieprofessor in Berlin und Zürich und lehrt in Heidelberg Theologie und Diakoniewissenschaften. Damit gehört er zu den Vordenkern der Diakonie, des evangelischen Wohlfahrtsverbandes. Der ist heute mit fast einer halben Million Beschäftigten und ebenso vielen ehrenamtlich Engagierten einer der größten Arbeitgeber nach dem Staat und der katholischen Caritas.
Die Mutter, Barbara Strohm, hatte Theologie fürs Lehramt und Germanistik belegt. Ein Angebot, über den Dichter Jeremias Gotthelf zu promovieren, lehnt sie zwar ab. Doch die Literatur begleitet ihr Leben, vor allem die Gedichte von Rainer Maria Rilke. »Sie ist ein ganz anderer Typ als mein Vater«, sagt Heinrich. Sie ist Mutter von fünf Kindern und Pfarrfrau, die sich in der Gemeinde engagiert. Viele Jahrzehnte arbeitet sie auch bei Amnesty International mit und übernimmt für Niederbayern die Auslösung von »Urgent Actions«, Sofortmaßnahmen, wenn Menschen von einer Hinrichtung oder von grausamen Strafen bedroht sind. Außerdem betätigt sie sich als Künstlerin, leitet Batikkurse und fertigt Batiken für Kirchen. Und gestaltet legendäre Schaukästen, das Einladungsmedium der Zeit. Trotzdem bewahrt sie sich eine Distanz zu den etablierten kirchlichen Welten. »Sie hatte immer einen Affekt gegen alles zu Amtliche«, erinnert sich Heinrich Bedford-Strohm. Aber die Verantwortung für das Gemeinwesen hat auch sie kennen gelernt. »Schon die Familie, aus der sie kam, hat ihre Warmherzigkeit geschätzt«, berichtet ihr Mann.
So gestaltet sich die Konstellation zuhause: eine Mutter, die neben allem Engagement für die Familie da ist, und ein Vater, der Gemeindearbeit als Beitrag zum Gemeinwesen versteht. Am Tisch diskutiert die Familie über Politik und Privates. Eine geschützte, Gedanken anregende Atmosphäre.
Zu den protestantischen Frömmigkeitsformen der Familie Strohm gehört das Tischgebet vor und das Dankgebet nach dem Essen – jedenfalls dann, wenn es warm auf den Tisch kommt, so wie das bei Protestanten und Katholiken damals üblich ist. Die Mutter betet auch abends mit den Kindern. Das hat der Sohn bei seinen eigenen Kindern übernommen, sagt er. »Ansonsten ist die Frömmigkeit, die ich zuhause erlebt habe, nicht die gleiche, die ich jetzt selbst praktiziere. Die zuhause war zurückhaltender, nüchtern, alles andere als etwa evangelikal und weitab vom Enthusiastischen, zu dem ich eher neige.« Der Vater zeigt sich auch skeptisch gegenüber der Taizé-Spiritualität, die dem Sohn wichtig wird. Doch Heinrich Bedford-Strohm hat die Frömmigkeit der Eltern als glaubwürdig in Erinnerung. Nach einem Weihnachtsfest, erinnert er sich, gab es in der Gemeinde heftigen Protest. Albert Strohm hatte in der Christvesper Bilder von hungernden afrikanischen Kindern gezeigt. »Mein Vater hat immer ein bisschen quer zur bürgerlichen Religiosität die ethisch geprägte kritische Stimme hereingebracht«, sagt Heinrich Bedford-Strohm. Sein älterer Bruder Christoph ist heute Professor für Kirchengeschichte in Heidelberg.
1967 zieht die Familie an eine neue Pfarrstelle in Coburg. Die Stadt gilt als schwieriges Pflaster für die Kirche. Im Herzen Frankens und vor allem in München, erzählt Albert Strohm, heißt die Region »das Galiläa der Heiden«. Ihn ficht das nicht an. Schon 1968 baut er ein Gemeindezentrum am Ketschendorfer Hang, das heutige Zentrum St. Lukas. Es vereint Kirche, Pfarrhaus und die Gemeinderäume. Weißer Kalksandstein im halben Versatz lässt die gegliederte Front unter tief heruntergezogenen Dächern ebenmäßig wirken. Drinnen ebenfalls sichtbares Kalksandstein-Mauerwerk, aber lebendiger im Viertelversatz mit Köpfen. Ein ausgetiefter Betonquader als Taufstein. Der Blick geht frei ins Gebälk aus mächtigen Leimbindern. Der Bau ist schlicht und auf das Wesentliche reduziert, so wie gute Architektur in diesen Jahren aussieht. »Das Vorbild dafür hatte ich in Amsterdam gesehen«, verrät Albert Strohm. Für den Bau hat er den bekannten Architekten Hans-Busso von Busse gewonnen. Das Granitpflaster am Altar setzt sich fort durch den Gang und vor der Tür weiter bis auf den Bürgersteig. Alles aus demselben Material und in derselben Ausführung. Der durchgehende Weg soll zum Ausdruck bringen, dass Kirche und Welt zusammenhängen und keine gegeneinander abgeschotteten Räume darstellen. Im Gemeindezentrum am Ketschendorfer Hang bekommt Heinrich die Impulse, durch die er später das Programm der Öffentlichen Theologie mitformulieren wird. Schon in den Sechzigerjahren ist dem Vater Gemeinwesenarbeit wichtig, die heute wieder als »Sozialraumorientierung« entdeckt wird.
Die Glocke, die an einer Trägerkonstruktion vor der Frontmauer hängen soll, lässt Albert Strohm im thüringischen Apolda gießen, also in der DDR. Die fertige Glocke holt er mit seinem Opel Rekord Caravan ab. Das kommt im Fernsehen. Heinrich sieht die Reifen fast aus den Radhäusern quellen, die Federung drückt auf den Anschlag. Die Glockeninschrift gibt einen Satz aus der Offenbarung des Johannes wieder: »Siehe, ich mache alles neu.« Das steht auch auf dem Grabstein des Großvaters. Die Gewissheit, dass Gott die Welt erneuert und den Menschen damit Mut gibt, auch selbst an der Erneuerung mitzuarbeiten, gehört sozusagen zu den Grundlagen des Familienglaubens.
Deborah Bedford-Strohm ist überzeugt, dass Heinrich dort, im Gemeindezentrum am Ketschendorfer Hang, die Impulse bekommen hat, durch die er später das Programm der Öffentlichen Theologie mitformulierte: »Da hat er eine Theologie kennen gelernt, die für ihre Umgebung Bedeutung gewann.«
Albert Strohm pflegt auch regelmäßig Kontakte in die nahe DDR. Eine Patengemeinde liegt in Mecklenburg-Vorpommern. Und Coburg gehört wegen des nahen Übergangs in Hof zur Region des kleinen Grenzverkehrs. Dort ist es leichter, Visa für Tagesreisen in die DDR zu bekommen. Albert Strohm nutzt das für Gemeindeausflüge. Dabei lernt auch Heinrich die Orte jenseits des Grenzzauns kennen: »Ich bin als Junge in die DDR gekommen, sah die Dörfer dort und habe noch den Geruch der Braunkohlefeuerung in der Nase.« Während des Winters ist die Luft in der DDR vom stickigen Qualm der Braunkohle durchsetzt. Denn der Arbeiter- und Bauernstaat muss mit der heimischen Energiequelle heizen. Das teure Öl aus der Sowjetunion dient vor allem der Produktion.
Heinrich fühlt sich im Gemeindezentrum am Ketschendorfer Hang zuhause. Er erlebt hier die Kirche als einen Treffpunkt von Glauben und Welt. Im Gemeindezentrum initiiert sein Vater eine offene Jugendarbeit. Mit Tischtennis, mit Räumen zum Treffen, aber ohne ständige Aufsicht oder Programm. »Da wurden die ersten Erfahrungen zwischen Mädchen und Jungs gemacht«, sagt der heutige Ratsvorsitzende, »aber das alles hat mir nicht geschadet.« Die ersten Zigaretten rauchen sie hinter dem Gemeindezentrum. Natürlich haben sich die Nachbarn beim Vater, dem Pfarrer, beschwert. Und der Vater hat die Freiheit der Jugendlichen verteidigt. Nicht das Rauchen. Aber er warb dafür, den jungen Leuten ihren Raum zu lassen. Die Jungen fühlen sich ernst genommen, auch darin, sich auszuprobieren. »Mir haben die heimlichen Zigaretten im Jugendalter gereicht; ich habe nie wieder in meinem Leben das Bedürfnis danach gehabt«, sagt Heinrich.
So hat er die Kirche seines Vaters als einen Raum der Freiheit erlebt: »Wir wussten: Da sind wir gewollt, da dürfen wir hin, da steht keine Bekenntnis- und Glaubenskontrolle an der Tür, sondern da dürfen wir...