2 Osteopathische Techniken – ein Überblick
Bei dem Versuch, sich über die Vielfalt osteopathischer Techniken einen Überblick zu verschaffen, wird derjenige Leser verzweifeln, der nach einem System sucht, unter dem sich alle Methoden bestimmten Oberbegriffen zuordnen lassen. Denn dieses System gibt es nicht. Das liegt vor allem daran, dass Begriffe wie direkt und indirekt teilweise synonym für strukturell und funktionell verwendet werden – aber eben nur teilweise. Die große Vielfalt in der Osteopathie ist zunächst sehr verwirrend. Aber gerade diese Vielfalt dient dazu, die verschiedenen Techniken zum Wohl des Patienten einander ergänzend anzuwenden mit dem Ziel, dass der Patient sein individuelles Gleichgewicht optimiert.
Für die Anwendung der Osteopathie am Kleintier und für das Verständnis der Begrifflichkeiten in dem vorliegenden Buch sei Folgendes gesagt: Die Autorinnen unterscheiden zwischen struktureller und funktioneller Vorgehensweise über die Art des Umganges mit dem zu untersuchenden und zu behandelnden Gewebe (bzw. dem gesamten Patienten) und über die Zielrichtung eines therapeutischen Impulses.
In diesem Sinne bedeutet funktionelles Arbeiten, gezielt mit den inhärenten selbstregulierenden Kräften im Patienten zu arbeiten und sie in das diagnostische und therapeutische Handeln unmittelbar einzubeziehen. Hierbei werden diagnostische und therapeutische Impulse so gesetzt, dass die Gewebereaktionen palpatorisch begleitend erfasst werden.
Demgegenüber bedeutet strukturelles Arbeiten das Erfassen physikalischer Parameter und das Setzen von Impulsen auf oder in ein verändertes Gewebe mit der Absicht, die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Dies verbunden mit dem Wissen, dass kein Impuls unbeantwortet bleibt, und der Erwartung, dass auf den gesetzten Impuls eine balancierende Gewebereaktion folgt.
Es geht wohlgemerkt nicht darum, eine Methode als besser oder schlechter zu klassifizieren. Es geht darum, unter Respektierung der osteopathischen Prinzipien, die den jeweiligen Bedürfnissen des Patienten angemessene Technik anzuwenden, um so effektiv wie möglich ein dauerhaft gutes Resultat zu erzielen. Das verlangt das selbstständige, verantwortungsbewusste und flexible Handeln auf der Grundlage sicher angewandter Techniken, vereint mit einem Höchstmaß an intuitivem Einfühlungsvermögen.
Die Arbeit des Osteopathen besteht im wahrsten Sinne des Wortes im „Begreifen“ von Regulationsprozessen, die jedes Lebewesen braucht, um sich an innere und äußere Belastungen anzupassen.
2.1 Versuch einer Einteilung
Der übersichtlichste Zugang zu der mehrfach erwähnten verwirrenden Vielfalt ist unter einem primär anatomischen Gesichtspunkt zu gewinnen. Man unterscheidet (? Abb. 2.1):
- parietale Osteopathie
- viszerale Osteopathie
- kraniosakrale Osteopathie
Jeder dieser zunächst rein anatomischen Therapieansätze kennt sowohl strukturelle als auch funktionelle Techniken, wobei wiederum beide Vorgehensweisen gleichermaßen sanfte wie starke Impulse verwenden. Dies sei am Beispiel der parietalen Techniken erläutert: Die parietalen Techniken können zunächst in strukturelle und funktionelle Techniken gegliedert werden. Zu den strukturellen Techniken zählen die Gelenkmobilisationen und -manipulationen, wobei die traditionell eher als sanft eingestuften Mobilisationen durchaus auch kräftige Impulse verwenden. Die Manipulationen (High Velocity Low Amplitude, HVLA-Techniken), die zwar zu den kräftigen strukturellen Techniken zählen, zeichnen sich vor allem durch hohe Beschleunigung bei geringstem Kraftaufwand aus.
Auch unter dem Oberbegriff kraniosakrale und viszerale Osteopathie verbirgt sich wiederum eine Vielfalt unterschiedlichster Vorgehensweisen. Alle diese Techniken haben ihre Geschichte und die meisten gehen auf ganz bestimmte Begründer zurück. Im Folgenden werden kurz die Techniken beschrieben, die Gegenstand dieses Buches sind und seit mehreren Jahren von den Autorinnen erfolgreich am Kleintier praktiziert werden.
? Abb. 2.1 Osteopathische Technikenvielfalt.
2.1.1 Parietale Osteopathie
Die parietale Osteopathie richtet ihren Fokus auf den Bewegungsapparat, also auf Knochen, Gelenke, Muskeln und Faszien. Dies sind alle Strukturen, die während der Embryonalentwicklung aus dem Mesoderm (mittleres Keimblatt) hervorgegangen sind. Die parietale Osteopathie wird weiter unterteilt in strukturell/osteoartikuläre und funktionelle Osteopathie.
Strukturelle Osteopathie
Die zur parietalen Osteopathie zählende strukturelle oder auch osteoartikuläre Osteopathie (? S. 70) ist am ehesten mit der sogenannten „Manuellen Medizin“ vergleichbar. Sie untersucht und behandelt Störungen des Gelenkes bzw. des Bewegungsapparates, die sich in einer reversibel gestörten Funktion eines Gelenkes im Sinne einer Bewegungseinschränkung äußern. Hierbei werden weiche Techniken oder Mobilisationstechniken sowie harte Techniken oder Manipulationstechniken unterschieden.
Die Mobilisation beruht auf einer langsamen und weichen, passiven Bewegung der Gelenkpartner innerhalb des Gelenkspiels (Joint Play) zur Diagnostik der bestehenden Funktionseinschränkung und der anschließenden therapeutischen Wiederholung derselben Bewegung zur Auflösung oder zumindest Verbesserung der Funktionsstörung. Diese Technik kann in den meisten Fällen ohne Kontraindikation eingesetzt werden. In diesem Buch erfahren Sie aber auch, wie die Mobilisation in sehr funktioneller Vorgehensweise durchgeführt werden kann
Bei der Manipulation werden die Vektoren der Bewegungseinschränkung im Gelenkspiel eingestellt und durch einen, kurz als Thrust bezeichneten, Impuls in die Richtung der Einschränkung gelöst. Der Impuls zeichnet sich aus durch hohe Beschleunigung bei minimaler Amplitude (High Velocity Low Amplitude Thrust). Diese Form der Gelenkbehandlung kann und darf nur bei reversiblen Bewegungseinschränkungen, also bei reinen Funktionsstörungen eingesetzt werden. Jede strukturelle Veränderung oder auch nur der Verdacht auf ein solche stellt eine Kontraindikation für die Anwendung dieser Technik dar.
Funktionelle Osteopathie
Die funktionelle Osteopathie richtet ihren Fokus nicht auf die gestörte Gelenkstruktur, also die Einschränkung der Beweglichkeit, sondern auf die gestörte Funktion der Weichteile, die die Gelenkstrukturen in Bewegung bringen. Zur funktionellen Osteopathie gehören die lokal angewandte myofasziale Release-Technik (? S. 36) und die regional und überregional angewandte myofasziale Release-Technik in Ketten (? S. 46).
Das myofasziale Release (Myofascial Release Technique oder MRT) taucht als Begriff für eine Technik erstmals 1981 als Titel für eine Fortbildungsreihe an der Michigan State University auf. Das Skript zu dieser Fortbildung – durchgeführt von Anthony Chila, D.O., John Peckham, D.O. und Robert C. Ward, D.O. wurde allerdings nie veröffentlicht [38]. Mehrheitlich wird in der Literatur die MRT allerdings auf Robert Ward zurückgeführt. In dem besagten Text führt dieser selbst aus, dass die MRT auf Basis von Still-Konzepten entwickelt wurde. Dieser nutzte während eines großen Teils seines Wirkens indirekte Release-Techniken mit dem Ziel, die dreidimensionale Funktionalität im Patienten zu verbessern bzw. wiederherzustellen.
Die MRT wird auch als „Brückentechnik“ über das Spektrum manualtherapeutischer Techniken bezeichnet, da sie zahlreiche Prinzipien aus Weichteiltechnik, Muskel-Energie-Technik, indirekter Technik und kraniosakraler Technik verbindet [61]. Die Besonderheit der Technik besteht in ihrer integrierten Betrachtungsweise der anatomischen und physiologischen Befunde des Patienten im Kontext mit psychologischen und soziologischen Aspekten. Dies bedarf dann bei der Anwendung in der Tiermedizin der erweiterten Betrachtungsweise der Besonderheiten in der individuellen Tier-Halter-Beziehung. Dasselbe gilt natürlich auch in erweiterter Form für das myofasziale Release in Ketten.
2.1.2 Viszerale Osteopathie
Die viszerale Osteopathie richtet ihren Fokus auf die inneren Organe. Sie wurde Ende des 20.Jahrhunderts von Jean-Pierre Barral und Pierre Mercier entwickelt. Hierbei werden Spannungsänderungen an den inneren Organen sowohl in ihrer Eigendynamik (Motilität) als auch in ihrem Aufhängungs-/Befestigungssystem (durch Faszien und Bänder) sowie der Beweglichkeit der Organe zueinander (Mobilität) ertastet und behandelt.
Der Ursprung der Motilität ist die Embryonalentwicklung eines jeden Organs. Diese tastbare organspezifische „embryonale Entwicklungsbewegung“ vollzieht jedes Organ fortwährend und sie ist Ausdruck seiner Vitalität. Die Mobilität ist der Ausdruck der Beweglichkeit der Organe zueinander und zu den sie einhüllenden oder stützenden faszialen Strukturen.
2.1.3 Kraniosakrale Osteopathie
Die kraniosakrale Osteopathie geht auf den osteopathischen Arzt und Schüler Stills William Garner Sutherland (1873–1954) zurück. Das Wort „kranial“ bezieht sich dabei auf den Schädel als oberen Pol des kraniosakralen Systems, das Wort „sakral“ bezieht sich auf das Kreuzbein (Sakrum) als unteren Pol. Beide Pole bewegen sich synchron zueinander und folgen...