Region mit vielen Gesichtern
Capital Region
Im Städte-Korridor von New York, Philadelphia, Baltimore und Washington lebt mehr als ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung, hier konzentrieren sich nicht nur die wirtschaftliche und politische Macht, sondern auch Kunst und Kultur. Südlich davon am James River gingen einst die ersten Siedler an Land – für die Amerikaner heiliger, historischer Boden. Auf den Outer Banks schließlich, den schmalen Inseln vor North Carolina herrscht die Natur, und die Zeit scheint stehengeblieben. All das umfasst unsere Reiseroute – von imponierenden Städten über die Stätten der Geschichte bis zum Sommerglück am Atlantik.
Weil die meisten Urlauber über New York anreisen, beginnt unsere Reise auch dort. Dann übernehmen die Highways die Regie und der erste Turnpike führt gleich durch den bevölkerungsreichsten Staat der USA, New Jersey. Er nennt sich »The Garden State« und bringt ungezählte Blaubeeren hervor, doch die raumfressende Industrialisierung vertreibt die Felder. Und überall wird zur Kasse gebeten. Straßengebühren sind Usus in diesem Landesteil, und das heißt: Toll-Töpfe, Münzcontainer, die an Brücken und Parkways die Hand aufhalten – am liebsten für Abgezähltes, EXACT CHANGE, wie man schon von weitem lesen kann.
Über Princeton, jenes akademische Arkadien, im dem einst Albert Einstein, Thomas Mann, Hermann Broch und Robert Oppenheimer lehrten, geht die Reise über den Delaware River nach Philadelphia. Die Freiheitsglocke läutet zwar nicht mehr, aber ringsumher wurde alles so historisch aufgehübscht, als wolle Benjamin Franklin jedem Besucher heute noch persönlich die Hand schütteln. Doch Philadelphia ist nicht nur eine Historienidylle, sondern eine lebendige Großstadt, längst befreit von jener Verschlafenheit, über die W.C. Fields einst witzelte: »Das Beste an Philadelphia ist der 5-Uhr-Zug nach New York«.
Philadelphia: Die Brunnenfiguren symbolisieren Delaware, Schuylkill und den Wissahickon Creek
Historie als Entertainment
Lancaster County liegt vor der Haustür und mit ihm auch die Amish, die frommen Nachfahren der deutsch-schweizerischen Glaubensgemeinschaften aus dem 16. Jahrhundert, die ohne Autos und Computer, Jeans oder Reißverschlüsse leben – eine entrückte Welt für sich. Unter den Metropolen des Ostens wartet Baltimore mit dem wohl spektakulärsten städtischen Sanierungserfolg auf, mit seinem Inner Harbor, einem Mix aus Restaurants, Geschäften und Museen rund um das zentrale Hafenbecken.
Annapolis, eines der beliebtesten Seglerparadiese des Ostens und vielleicht die attraktivste Provinzstadt auf unserer Route, fasziniert mit einem lebensfrohen, mediterran anmutenden Hafenviertel. Hier kommen (wie überall rund um die Cheasepeake Bay) die köstlichen Maryland blue crabs auf den Tisch.
Mächtig stolz feiert sich Washington DC, als Regierungssitz auf sumpfigem Terrain am Reißbrett geplant, mit monumentalen Bauten und Alleen. In kaum einer anderen amerikanischen Großstadt liegt das Sehenswerte räumlich so beieinander wie hier – die Museen, die Kongressbibliothek, der hinreißende Bahnhof, das spektakuläre neue Newseum. Stadtteile und Vororte setzen farbige Kontrapunkte zu dem auf Wirkung gebauten Zentrum: das ethnisch gemischte Adams-Morgan, das feine, flotte Georgetown und der alte Tabakhafen Alexandria.
Georgetown in Washington DC: Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert
Farmer, Soldat und Staatsmann, das alles vereinte Landesvater George Washington in einer Person. Sein Landhaus auf Mount Vernon oberhalb des Potomac River zählt zu den schönsten Villen in Virginia. Wie die Independence Hall in Philadelphia oder das Lincoln Memorial in Washington ist Mount Vernon eine von vielen nationalen Pilgerstätten, mit denen die Mittleren Atlantikstaaten gepflastert sind. Dabei blüht der amerikanische Ahnenkult noch im kleinsten Detail.
Mount Vernont, der letzte Wohnsitz von George Washington, der hier auch begraben ist
Original und Fälschung liegen nahe beieinander
Kein Nagel, Federkiel oder Stuhl, keine Apotheke oder Kneipe im Leben der Gründerväter, die nicht unter historische Quarantäne geraten wären. Die meisten Museen und nationalen Besinnungsorte ziehen alle Register moderner Unterhaltungstechnik, um aus der historischen Geschichte Entertainment zu zaubern – mit interaktiven Ausstellungen, Videos, Dioramen und Shows. Da wimmelt es von historischen Souvenirs, von plantation homes als Stickvorlage bis zur Spielzeugkanone für den Nachttisch. Die alten Schlachten werden beim reenactment mit viel kostümiertem Personal und Geballer nachgespielt und in den rekonstruierten historischen Siedlungen erfreuen am Wochenende koloniale Laienspieler die Besucher. Original und Fälschung, Restauration und kreative Ergänzung, Dichtung und Wahrheit sind da oft schwer zu unterscheiden.
Aber so ist das überall in den USA. Der einst wahrlich wilde Westen lebt, dank Hollywood, längst als Mythos weiter, der tiefe Süden dank Werken und Filmen wie »Vom Winde verweht«. Der Osten hingegen, von Romanschriftstellern und Regisseuren eher vernachlässigt, dramatisiert seine Vergangenheit durch Denkmalpflege – mit patriotischem Glanz und Gloria, mal heroisch, mal nostalgisch.
Von Washington nimmt die Route Kurs nach Westen und führt durch Virginia, jenen Staat, in dem die Wurzeln des Tabaks ebenso wie die der amerikanischen Nation und insbesondere die des Südens am tiefsten reichen. Der ersten Abnabelung von England folgten die Geburt der Verfassung und Religionsfreiheit und die Schlachten des Bürgerkriegs. Hier fasste die Neue Welt zuerst Fuß, hier warfen die britischen Rotröcke das Handtuch und hier wurden acht Präsidenten geboren.
Koketterie mit der Vergangenheit gehört deshalb in Virginia zum guten Ton und der elitären »Order of First Families of Virginia« darf nur angehören, wer in den ersten Jahren der Kolonialzeit mit dem Schiff gekommen ist. Selbstzweifel oder Zukunftsängste haben im virginischen Seelenhaushalt nichts zu suchen.
Über Manassas, dem ersten Schlachtfeld des Bürgerkriegs, geht die Reise weiter ins Appalachen-Gebirge, genauer zum Shenandoah National Park, einem Naturschutzgebiet, das sich wie ein schmales Tuch über die Blue Ridge Mountains legt. Die Bergwälder aus Hartholz, deren Blätter im Herbst in einen Farbenrausch verfallen, lassen immer noch ahnen, wie der gesamte Osten der USA früher einmal ausgesehen hat. Ein Eichhörnchen hätte damals, im 17. Jahrhundert, mühelos vom Atlantik bis zum Mississippi hüpfen können, ohne je den Boden zu berühren.
Im gleichnamigen Tal, dem Shenandoah Valley, verlief eine von Amerikas großen Passages West, wo der größte Pfadfinder aller Zeiten und frontier hero, Daniel Boone, die Grenzen zwischen Zivilisation und Wildnis verschob und Wege für neue Siedlungen im Westen auskundschaftete. Viele Siedler aber blieben auch wegen der fruchtbaren Böden, der reichlichen Wasservorräte, des angenehmen Klimas und der herrlichen Szenerie. Im Bürgerkrieg galt das Tal als »Brotkorb der Konföderation«, weil es einige Jahre die Armee von General Robert E. Lee versorgte. Heute nisten hier zierliche Kleinstädte.
Brennpunkte der amerikanischen Geschichte
Charlottesville, die heimliche Hauptstadt von Jefferson Country, gehörte zum engeren Wirkungskreis von Thomas Jefferson, dem großen Generator der amerikanischen Verfassung, der wie kein anderer das Ideal des Homo universale verkörperte. Hier hat der »Architekt der amerikanischen Demokratie« sein bauliches Erbe hinterlassen, das elegante Landhaus Monticello und die University of Virginia, ein geradezu erhabenes Bühnenbild für Forschung und Lehre. Der Ruhm dieses Alleskönners strahlt bis heute. Als John F. Kennedy 1962 die Nobelpreisträger des Jahres zu einem Essen ins Weiße Haus lud, sagte er: »Ich glaube, dies ist die ungewöhnlichste Ansammlung von Talent und Wissen, die je im Weißen Haus zusammengekommen ist – mit einer möglichen Ausnahme: wenn Thomas Jefferson hier allein zu Abend aß.«
Shenandoah National Park: Die Skyland Stables bieten geführte Ausritte zu den Wasserfällen
Kostümierte Bewohner von Williamsburg, einst Hauptstadt des kolonialen Virginia
Richmond, die Hauptstadt von Virginia, entpuppt sich mit etwas Geduld als eine kleine touristische Wundertüte. US-Geschichte en gros tut sich anschließend im Gebiet des Tidewater auf, in jener flachen und sandigen Küstenebene, die sich vom Atlantik ein paar hundert Meilen landeinwärts erstreckt. Dort, zwischen York und James River, wo sich heute Fischerei, Landwirtschaft und hübsche Häuschen auf Stelzen befinden, liegen die legendären Brennpunkte der amerikanischen Geschichte: Jamestown, Yorktown und Williamsburg.
Die amerikanische Besiedlung wurde und wird hier aufs Penibelste rekonstruiert, aus wenig echten Relikten, dafür mit viel patriotischem Willen zum Pathos und immer kompatibel mit der amerikanischen Freude am Entertainment. Das gilt für das historische Freilichtmuseum Jamestown Settlement ebenso wie für das Paradebeispiel amerikanisch-patriotischer Selbstbespiegelung, für Williamsburg, die einstige Hauptstadt des kolonialen Virginia.
Als bekannt wurde, dass Williamsburg unter der Regie und mit dem Geld Rockefellers wieder aufgebaut werden sollte, brach ein regelrechtes Restaurationsfieber aus, gegen das kein Archiv und keine Bibliothek des Landes immun waren. Architektenbüros,...