Vorwort
1. Ein halbes Jahrhundert
Wie kein anderer italienischer Dichter hat Pier Paolo Pasolini (1922 – 1975) die italienische Geschichte und die Veränderungen der Gesellschaft, also das »Leben der Nation«, mit seinem Werk und seinem Tun begleitet. Kein Vers, kein Akt, in dem nicht der Anstoß von außen erkennbar wäre. Und umgekehrt. Kein Vers und kein Akt, der nicht das Leben erhellt: die großen Landschaften zwischen Friaul und dem »afrikanischen« Süden; die vielerlei Lebensweisen der italienischen Bevölkerung; die politischen Hoffnungen und Niederlagen.
Grundlage dieser Art von Reflexion war Pasolinis Anderssein, sein »anderes« sexuelles und soziales Verhalten und sein Widerspruch gegen den totalitären Charakter der Normalität. Er schreibt: »Die Vorstellung vom absoluten Vorrang des Normalen ist … geradezu kriminell.«1 Und an anderer Stelle: »Ich habe aufgrund meiner persönlichen Lebensweise, aufgrund meiner Entscheidung darüber, wie ich meine Tage verbringe und wie ich meine Vitalität und meine Gefühle einsetze, schon als Junge die bürgerliche Lebensweise (für die ich vorbestimmt war) verraten. Ich habe jede Norm und jede Grenze überschritten. Dadurch konnte ich – ganz konkret, real und dramatisch – jenes Universum erfahren, das sich, grenzenlos weit, unterhalb der Ebene der bürgerlichen Kultur erstreckt: das bäuerliche Universum (zu dem auch das städtische Subproletariat gehört); und auch die Welt der Arbeiter (in dem Sinne, daß auch ein Arbeiter, mit Leib und Seele, zur Volkskultur gehört).«2 Ich zitiere aus den »Freibeuterschriften«, doch Äußerungen dieser Art ziehen sich als Bekenntnisse durch das ganze Werk.
Geboren im Jahr der faschistischen Machtergreifung und aufgewachsen in Bologna, entdeckt er in Friaul, in der Heimat seiner Mutter, die letzten Bilder von Menschen und Dörfern eines über fast tausend Jahre unveränderten »Naturzustands«. Er erlebt den Krieg, den antifaschistischen Widerstand, das kommunistische Engagement für eine neue Gesellschaft, die die Vergangenheit in sich aufheben würde, und das Scheitern dieser Hoffnungen. Zu Beginn der sechziger Jahre projiziert er seine Erfahrungen und Hoffnungen bewußt und als Mythos auf die erwachende Dritte Welt. In der Revolte von 1968 sieht er einen Modernisierungsschub in Richtung Konsumgesellschaft. Diese wird für ihn zur apokalyptischen Vision und ist das eigentliche Thema der »Freibeuterschriften«.
2. Irritation und Polemik
Am 7. Januar 1973 beginnt Pier Paolo Pasolini eine zunächst lose Mitarbeit bei der sonst konservativen Mailänder Tageszeitung Il Corriere della Sera. Der Artikel »Gegen die langen Haare« eröffnet mit seiner aus der Semiotik übernommenen Analyse der Körpersprache den Diskurs Pasolinis über die »anthropologische Mutation«. Aus der These, daß sich heute rechte und linke Jugendliche physisch nicht mehr unterscheiden, folgert Pasolini, daß die Jugendlichen allgemein, auf eine neue Art und Weise unglücklich sind, nur daß dieses Unglück von den neofaschistischen Bombenlegern auf eine besonders »erbitterte und monströse Art gelebt wird«3; der Gegensatz von Faschisten und Antifaschisten ist sekundär geworden. Es gibt einen neuen, viel schlimmeren Faschismus, der mit seiner Diktatur des Konsums die Körper und Köpfe gleichschaltet.
Um die provozierende Wirkung dieser Thesen zu verstehen, muß man Sätze lesen wie den, mit dem eine Rezension der Erzählungen von Sandro Penna beginnt: »Was für ein wunderbares Land war Italien während des Faschismus und unmittelbar danach«; oder, etwa gleichzeitig geschrieben, den Beginn des Artikels »Die erste, wahre Revolution von rechts«: »In den Jahren 1971/1972 begann eine der gewaltsamsten und vielleicht auch endgültigsten Restaurationsperioden der Geschichte.« Beide Sätze kommentieren einander. Wenn vor uns die Apokalypse liegt, verklärt sich die Vergangenheit, und dies um so mehr, als gerade die Zerstörung der Vergangenheit das Ziel der neuen Reaktion ist. Hier thematisiert Pasolini erstmals das, was Enzensberger später die »Furie des Verschwindens« nannte, die auch einen Heiner Müller nicht mehr schlafen ließ. In der bisherigen Geschichte haben sich die Sieger die Vergangenheit der Besiegten angeeignet. Jetzt wird Vergangenheit überhaupt ausgelöscht. Eine Schule, die noch vom »Erbe der Väter« oder von einer »dichterischen Verinnerlichung der Welt« spricht, wirkt unehrlich oder antiquiert. Kein Erbe harrt mehr der Aneignung, keine Welt der Verinnerlichung. Dem »unerträglichen Siegerblick der Wirklichkeit«. (von heute) stellt Pasolini die von Penna erfahrene und beschriebene »Anmut der Wirklichkeit«. (von damals) gegenüber und formuliert eines seiner berühmten Paradoxe: »Es gibt nichts Antifaschistischeres als diese Begeisterung Pennas für das Italien unter dem Faschismus.«4
Auch angesichts der politischen Ereignisse müssen die Thesen Pasolinis provozieren. Im Italien der Jahre 1971/1972 erhalten die Neofaschisten »gegen die kommunistische Gefahr« erheblichen Zulauf und auch internationale Unterstützung. Dies, wie Pasolini es tut, als reine Oberflächenphänomene zu sehen, unter denen sich eine andere, epochale Umwälzung vollzieht, die »links« und »rechts« gleichermaßen erfaßt, war schwer zu akzeptieren von Menschen, die in der praktischen politischen Auseinandersetzung stehen. Eine reaktionäre Wende, wie sie wenige Jahre zuvor in Griechenland stattgefunden hatte und dann auch im Herbst 1973 in Chile stattfand, war für Italien nicht auszuschließen. Warum Pasolini trotzdem darauf insistiert, daß die Unterschiede zwischen »rechts« und »links« durch die »strukturelle Gewalt«. (Pasolini benutzt diesen von Johan Galtung geprägten Begriff nicht, sondern spricht verkürzt immer nur von »Macht«) der Konsumgesellschaft eingeebnet werden, erklärt er anläßlich des Referendums zur Scheidungsfrage.
Am 12. Mai 1974 siegen, bei einer Volksabstimmung über die Abschaffung des vor wenigen Jahren erst erlassenen Ehescheidungsgesetzes, die laizistisch-progressiven Neinstimmen, und am 28. Mai kommt es (als Antwort auf diese Niederlage?) zu einem Bombenanschlag auf eine Gewerkschaftskundgebung in Brescia mit 8 Toten und 94 Verletzten. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus, im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen, in Turin und Genua mit 100 000, in Mailand und Rom mit 200 000 Menschen. Pasolini äußert sich dazu in einem Artikel vom 10. Juni. Für ihn hat das positive Abstimmungsergebnis recht wenig mit einem Kampf zwischen traditionellen, klerikal-faschistischen und progressiven, sozialistisch-laizistischen Werten zu tun, sondern ist das Ergebnis der Vernichtung aller Werte der Tradition und einer dadurch verursachten »kulturellen Mutation«, »die ebensoweit vom traditionellen Faschismus wie von sozialistischer Fortschrittlichkeit wegführt«.5 Eine humanistische Revolte, sowohl in ihrer christlichen als auch in ihrer kommunistischen Motivation, ist im Zeitalter der Herrschaft des Konsums unmöglich geworden.
Wer damals an die Möglichkeit einer »humanistischen Revolte« glaubte und in der Arbeiterbewegung das entscheidende historische Subjekt sah (was Pasolini nie getan hat), mußte diese Position als »romantische Kapitalismuskritik« oder als »reaktionäre Ausweglosigkeit« empfinden. So ist die negative Reaktion von Maurizio Ferrara, Chefredakteur der kommunistischen L’Unità, zu verstehen. Gleichzeitig beschuldigt auch Italo Calvino, Schriftsteller und Freund Pasolinis, diesen der »klagenden Nostalgie«. Beiden antwortet Pasolini am 8. Juli mit einem seiner schönsten Artikel: »Enge der Geschichte und Weite der bäuerlichen Welt«. Überraschend an den ablehnenden Reaktionen ist nicht der Rückgriff auf den Nostalgievorwurf, der schon Mitte der sechziger Jahre in einem großen Essay von Alberto Asor Rosa6 erhoben worden war und den auch, in ganz anderem Ton, ein so großer Freund Pasolinis wie Gianfranco Contini erheben wird (der von einer »rückwärtsgewandten Utopie« spricht); überraschend ist das völlige Desinteresse der Kritiker an der politisch wie literarisch durchaus relevanten existentiellen Erfahrung und Verzweiflung Pasolinis, die schon immer produktives Zentrum seines Werkes war. Hatte er nicht schon in »Gramscis Asche«. (1956) geschrieben: »Nicht der Herbst/sondern das Heimweh nach alten Zeiten, flößt Melancholie ein/Doch in dieser Melancholie liegt das Leben«?7 Hatte er nicht in »Eine verzweifelte Vitalität«. (1964) bekannt: »Aus dem Drang zu bewahren/bin ich Kommunist«?8 Nun sieht er sich gezwungen, erneut die »Bedeutung des Nachtrauerns« zu erklären, und schreibt in dem gleichnamigen Gedicht9 (1974): »Ich beweine eine tote Welt. Aber nicht ich, der ich weine, bin tot. Wenn wir vorwärts gehen wollen, müssen wir die Zeit, die nicht mehr wiederkommen kann, beweinen und nein sagen zu dieser Realität, die uns in ihrem Gefängnis einschließt …«.
Die Regression als Ausweg, das Zurückgehen auf der »Stufenleiter des Seins«, um in der Umkehr die ganze Menschheitsgeschichte wieder aufzunehmen, war schon 1958 das Thema des Gedichtes »An die rote Fahne«10: »Du rühmst dich so vieler Siege für Bürger und Arbeiter –/werde wieder zum Fetzen, auf daß der Ärmste dich schwenke.« In ihrem »Vorwärts« vom Fetzen zur Fahne zur Flagge wurde die rote Fahne zur Gefangenen einer staatstragenden...