2 HISTORISCHE ENTWICKLUNGSLINIEN EINER JUNGEN DISZIPLIN
Die Geschichte der Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung ist eine Geschichte der ausgrenzenden Pädagogik. Als Teildisziplin der Heil- und Sonderpädagogik entwickelt sie sich erst in den 1970er Jahren. Der Grund für diese – im Vergleich zur Pädagogik oder Heilpädagogik – späte Entstehung begründet sich durch die Fokussierung auf ein Klientel, welches erst in jüngster Vergangenheit in den Fokus der Pädagogik geriet und vorher umfassend aus allen gesellschaftlichen und pädagogischen Bezügen ausgeschlossen (siehe Kap. 1.1 und 1.2) ist. An diesem Ausschluss hat die sich entwickelnde Heil- und Sonderpädagogik durchaus selbst einen erheblichen Anteil. Historische Entwicklungslinien, die die Professionalisierung der Sonder- und Heilpädagogik markieren, werden für den Personenkreis der schwer- und mehrfachbehinderten Menschen zu Wegmarken, durch die ihre Ausgrenzung aus pädagogischen Handlungsfeldern bestätigt und gefestigt wird.
Insofern werden im Folgenden zunächst einige Marksteine der Heil- und Sonderpädagogik dargestellt und es wird überprüft, wie sie in ihrer Entwicklung als wissenschaftliche Disziplin und Profession durch eigene Theoriebildung diesen Ausschluss mit hervorgebracht hat.
Im Anschluss daran wird die Entstehung einer Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung skizziert.
2.1 Erste Grenzziehungen zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickeln die Wegbereiter einer Pädagogik, die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in den Fokus nehmen, erste Erziehungsversuche. Es sind vornehmlich Mediziner, Naturwissenschaftler oder Theologen, die in ihrer jeweiligen Tätigkeit eine Affinität zur Pädagogik erkennen. So ist Itard, dessen pädagogische Bemühungen um Victor zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste noch unsystematische Versuche einer beginnenden Heilpädagogik markieren, ein französischer Arzt und Taubstummenlehrer. Er dokumentiert als einer der ersten seine Unterrichts- und Erziehungsversuche mit Victor.
Einige Jahrzehnte später – in der Mitte des 19. Jahrhunderts – kennzeichnet die Tätigkeit von Georgens, Deinhardt und Gayette, von Séguin, Guggenbühl oder Anderen den systematischen Beginn der Heilpädagogik. Ihr pädagogisches Interesse gründet weniger in einem moralisch-paternalistischen Gefühl der Verantwortung und Fürsorge für bestimmte Personen, sondern entspringt eher dem Geist der Aufklärung und einem damit verbundenen Interesse an methodischen Fragen der Erziehung und Bildung zur Hervorbringung eines sich selbst bildenden und perfektibilisierenden Subjektes (vgl. Moser und Horster 2012, S. 13). Der radikal neue Gedanke jener Pioniere ist dabei, dass der einzelne Mensch nicht länger auf ein natur- und schicksalhaftes Dasein reduziert, sondern in die Möglichkeit seiner eigenen Entwicklung gestellt wird. Diese Entwicklung – so die Überzeugung – kann durch Erziehung und Bildung beeinflusst werden. Die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes sind demnach nicht zuvorderst durch die biologischen Anlagen, die Begabung oder die Talente bestimmbar, sondern durch Erziehung und Bildung und damit durch seine Möglichkeiten, Beziehungen zu seiner Umwelt aufzunehmen und zu gestalten. Helferich formuliert 1847:
„Die Erfahrung hat gelehrt, daß unter der Leitung einer vernünftigen Erziehung schwache Organe des Denkens sich so sicher stärken, als Muskeln, Knochen und Bänder bei einer gehörigen Gymnastik, ja kein Organ hierin bildsamer und erziehbarer erscheint, als das Gehirn und Nervensystem“ (Helferich 1847, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 31f,).
Georgens, Deinhardt und Gayette konkretisieren 1858 in einem Aufsatz über „Heilung, Besserung und Erziehung“ diesen Zusammenhang. Sie führen aus, dass „die Ausbildung der Organe mittelst ihrer Bethätigung stattfindet; und zwar in der Weise, dass die Formgestimmtheit der Ausbildung von der irgendwie bedingten Form der Bethätigung abhängig ist“ und „Erziehung, wenn sie überhaupt die Entwicklung fördern und umgrenzen, die Gestaltung bestimmen will, wesentlich auf die Beherrschung der Thätigkeiten angewiesen ist“ (Georgens, Deinhardt und Gayette 1858, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 55).
Damit beschreiben sie einen Zusammenhang zwischen der „Ausbildung der Organe“ und der Möglichkeit eines Kindes, tätig zu werden und in Beziehung mit der Welt zu treten, und formulieren gleichzeitig, dass Erziehung – wenn sie erfolgreich sein will – genau auf die Herstellung dieser Beziehung angewiesen ist. Behinderung wird also nicht als pathologisch unveränderbarer Zustand, sondern als Folge fehlender Entwicklungsmöglichkeiten aufgrund gesellschaftlicher und sozialer Isolierung oder Verwahrlosung gedeutet. Georgens und Deinhardt (1861) messen damit der „‚exacten’ Kenntnis der Krankheitsursachen“ und der „sichere[n] Bestimmung des organischen Grundes, den das Übel als solches hat“, nur eine sehr bedingte Bedeutung für die pädagogische Arbeit zu (Georgens & Deinhardt 1861, S. 220 bzw. S. 227, zit. nach Störmer 2007, S. 294). Der große Verdienst dieser ersten Heilpädagoginnen und Heilpädagogen für die Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik liegt in diesen Erkenntnissen. Aus ihnen heraus begründen sie ein Verständnis von Heilpädagogik als Pädagogik und betrachten sie nicht als Erfüllungsgehilfe der Medizin (vgl. Lindmeier 2013, S. 112).
Kinder und Jugendliche mit schwerer und mehrfacher Behinderung haben von diesen Einsichten jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt profitiert. Für sie gelten pessimistische Einschätzungen ihrer Erziehungs- und Bildbarkeit (siehe Kap. 1.2).
Selbst die Entwicklung einer konfessionell getragenen „Caritas“ und die Einrichtung großer Pflegeanstalten und Hospitäler gegen Ende des 18. Jahrhunderts tragen nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Auch hier führen ökonomische Gesetze zu einer erneuten Selektion von Menschen, die als „nicht-arbeitsfähig“ gelten. Sobald Intelligenzgutachten den Schluss nahelegen, dass keine Erwerbsbefähigung erzielbar sei, werden schwer oder mehrfach behinderte Menschen von den Anstalten ausgeschlossen (vgl. Osten 2011, S. 43). Teilweise werden in den Anstalten spezielle Pflegeabteilungen eingerichtet, um die Kinder und Jugendlichen, die als „bildungsunfähig“ gelten, von jenen zu isolieren, die Erziehung erhalten (vgl. Störmer 2007, S. 289). Diese Entscheidung wird durch zwei miteinander zusammenhängende Motive begründet. Zum einen durch eine scheinbar geringe Erfolgsaussicht und zum anderen durch eine Legitimationspflicht gegenüber der Gesellschaft, die nur durch Erfolge erfüllt werden kann. Helferich (1847, zit nach Lindmeier und Lindmeier 2002, S. 31) schreibt, dass „die wirkenden Kräfte bei der ohnehin so schwierigen Aufgabe mit gar zu vielen, entmuthigenden Hindernissen und Mühseligkeiten einen unnützen Kampf zu kämpfen hätten“ und die „hochwichtige, reinmenschliche Sache schief aufgefaßt und verkannt“ werden könnte. Damit verweist das Zitat darauf, dass die Heil- und Sonderpädagogik von ihren ersten Anfängen an – mehr als jede andere Pädagogik – ihr Handeln im Kontext sozioökonomischer und gesellschaftlicher Interessen legitimieren musste. Dies führt zu einer Grenzziehung entlang einer hypothetisch-willkürlichen Linie zwischen „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“. Der Abkehr von einer „pragmatisch-pädagogischen Auffassung von Bildsamkeit“ (Lindmeier 2013, S. 112) folgt eine Praxis, die nicht alle Kinder und Jugendlichen umfänglich mitdenkt. Dennoch zeigen die Anfänge einer systematischen Heilpädagogik in ihrer theoretischen Anlage auch erste ermutigende Ansätze für die Formulierung eines umfänglichen Bildungsrechts aller Menschen, insbesondere in den Analysen von Georgens und Deinhardt. In der weiteren Entwicklung der Heilpädagogik wird sich diese Theorielinie jedoch nicht fort- und durchsetzen.
2.2 Die Entwicklung einer Pädagogik der Ausgrenzung
Im Anschluss an die dargestellten ersten Entwicklungen im Feld der Heilpädagogik dominiert im folgenden Jahrhundert eine andere Lehrmeinung die Theorie und Praxis. Diese entwickelt sich vor allem unter dem Einfluss von Medizinern und Psychiatern. Ausgehend von den Auffassungen Pinels und seines Nachfolgers Esquirol zu...