2. Sexueller Missbrauch – Erkennungsmerkmale und aktuelle Forschungen
2.1 Begriffliche Abgrenzung
Im deutschen Sprachgebrauch finden sich viele Begrifflichkeiten, die synonym für sexuellen Missbrauch verwendet werden. So stehen Begriffe wie ‚sexueller Missbrauch’, ‚sexuelle Gewalt’, ‚sexualisierte Gewalt’, ‚sexuelle Ausbeutung’ und ‚sexuelle Misshandlung’ in einem engen sprachlichen Zusammenhang. Eine klare Abgrenzung der Begriffe gibt es kaum, vielmehr werden Vor- und Nachteile dieser abgewogen, während sie synonym gebraucht werden (vgl. Julius/Boehme 1997, S.16). Der Begriff ‚sexueller Missbrauch’ wird kritisiert, da er den sexuellen Gebrauch mit einschließe und somit ausdrücke, „dass es auch einen ‚sachgemäßen Gebrauch’ von Kindern gäbe“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, S.10). Aus diesem Grund werden die Begriffe ‚sexuelle Gewalt’, ‚sexualisierte Gewalt’, ‚sexuelle Ausbeutung’ oder ‚sexuelle Misshandlung’ dem Begriff ‚sexueller Missbrauch’ vorgezogen. Besonders die Begrifflichkeit ‚sexuelle Misshandlung’ bringt zum Ausdruck, dass es verschie-dene Formen der Misshandlung von Kindern gibt, und dass sexuelle Miss-handlung eine davon ist (vgl. Julius/Boehme 1997, S.16). Dennoch findet in der Literatur noch recht häufig der Begriff ‚sexueller Missbrauch’ Verwendung. Neben den verschiedenen Begrifflichkeiten kann die Definition auch nach unter-schiedlichen Kriterien erfolgen (vgl. Julius/Boehme 1997, S.18).
Aus psychologischer Sicht definiert sich sexueller Missbrauch wie folgt:
„Sexueller Missbrauch liegt vor bei körperlichen Berührungen oder Handlungen an, mit oder in Gegenwart von Kindern zum Zweck der sexuellen Erregung oder Befriedigung von Erwachsenen“ (Wais 1999, S.8).
Die Definition umfasst fünf wesentliche Merkmale, die gegeben sein müssen. Zum einen ist sexueller Missbrauch dadurch gekennzeichnet, dass sich Täter und Opfer meist kennen, ein vertrauensvolles Verhältnis oder gar Abhängigkeit besteht. Zum anderen nutzt der Täter gezielt dieses Vertrauensverhältnis zum Kind aus. Ein drittes Merkmal ist fast immer die Wiederholung der Handlung. Sexueller Missbrauch kann über einen längeren Zeitraum andauern. Dabei kommt es schrittweise und geplant zur Annäherung und Ausweitung der Handlungen des Täters. „Die Missbrauchsbeziehung dauert in der Regel viele Monate, manchmal jahrelang, in Einzelfällen bis zu 10 oder 15 Jahren“ (Wais 1999, S.14). Aus psychologischer Perspektive beschreibt Wais (1999) ein weiteres viertes Merkmal, wodurch sexueller Missbrauch gekennzeichnet ist. Er geht davon aus, dass das Opfer durch gezielte Maßnahmen zur Geheimhaltung gezwungen wird oder sich zum Schweigen gezwungen fühlt. Ein letzter wesentlicher Aspekt wird von Wais (1999) als „Realitätsverwirrung“ (Wais 1999, S.15) beschrieben. Gemeint ist damit, dass sich das Kind seiner ‚Opferrolle’ lange Zeit nicht bewusst ist und den Missbrauch als solchen nicht erkennt (vgl. Wais 1999, S.8ff).
Bange/Deegener (1996) definieren den Begriff ‚sexueller Missbrauch’ für ihre Untersuchungen wie folgt:
„Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen“ (Bange/Deegener 1996, S.105).
Diese Definition umfasst im Vergleich zu der nach Wais (1999) zusätzlich solche Faktoren, wie Ausnutzung autoritärer Vorteile und Missachtung kindlicher Grenzen auf Seiten des Täters sowie Nichteinverständnis, Unwille und Unter-legenheit auf Seiten des Kindes. In seinen Ausführungen erweitert Deegener (1998) die zuvor gefasste Begriffsbestimmung, in dem er schreibt, dass die Kinder „zu Sexualobjekten herabgewürdigt“ (Deegener 1998, S.24) werden. Dies verdeutlicht noch einmal, dass sich der Täter dem Willen des Kindes unter Ausnutzung seiner Position oder des oft bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses widersetzt (vgl. Deegener 1998, S.24).
Julius/Boehme (1997) verweisen auf eine normative Definition des Begriffs ‚sexueller Missbrauch’, welche auf Schechter/Roberge (1976) zurückgeht.
„Die sexuelle Ausbeutung von Kindern meint die Einbindung von abhängigen und von ihrer Entwicklung her unreifen Kindern und Jugendlichen in sexuelle Aktivitäten, die sie nicht vollständig begreifen, denen sie nicht wissentlich zustimmen können und die soziale, auf familiäre Rollen bezogene Tabus verletzen“ (Schechter/Roberge 1976, nach Julius/Boehme 1997, S.18).
Als Gemeinsamkeiten mit der begrifflichen Bestimmung nach Bange/Deegener (1996) lassen sich sowohl das fehlende Einverständnis, als auch die intellektuelle Unterlegenheit und die Abhängigkeit des Kindes hervorheben. Ziel des Täters sowie eine genauere Festlegung auf die Art sexueller Aktivität finden keine Berücksichtigung.
Aus rechtlicher Sicht wird sexueller Missbrauch durch die Erfassung bestimmter sexueller Handlungen in den einzelnen Paragraphen verdeutlicht. Laut Straf-gesetzbuch Abschnitt 13 definieren die Paragraphen 174 bis 184 solche sexuellen Handlungen, die allgemein als Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bezeichnet werden (vgl. Tröndle/Fischer 2007, S.1089ff).
Die Paragraphen 174 StGB und 176 StGB befassen sich mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen. Geahndet werden „sowohl körperliche Berührungen mit sexueller Absicht, als auch das Zeigen porno-graphischer Darstellungen und eine verbale Beeinflussung“ (Brockhaus/Kolshorn 1993, S.31).
Paragraph 174 StGB beschreibt sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen unter Ausnutzung der Abhängigkeit des Opfers vom Täter. „Als Schutzbefohlene gelten Personen unter 16 beziehungsweise 18 Jahren, die in Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnissen stehen“ (Julius/Boehme 1997, S.20).
Mittels Paragraph 176 StGB wird sexueller Missbrauch von Kindern geahndet. Dass hier wiederum ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Opfer und Täter besteht, ergibt sich indirekt durch die Festlegung der Altersgrenze auf unter 14 Jahre. Sexuelle Handlungen an und vor Personen unter 14 Jahren, das Einwirken auf das Kind durch Schriften und pornografische Darstellungen sowie das Zwingen zu sexuellen Handlungen an dem eigenen Körper oder am Täter sind nach Paragraph 176 StGB Straftaten, die eine Freiheitsstrafe zur Folge haben (vgl. Tröndle/Fischer 2007, S.1107ff). Die rechtliche Definition verdeutlicht, dass man unter sexuellem Missbrauch sowohl sexuelle Handlungen mit Körperkontakt, als auch solche ohne diesen versteht (vgl. Julius/Boehme 1997, S.20).
Neben den bereits aufgeführten psychologischen, normativen und rechtlichen Definitionen findet man auch klinische Begriffsbestimmungen. Dabei erscheint es wichtig, die Folgen sexuellen Missbrauchs darzulegen, um gezielt intervenieren zu können. Fegert (1993) definiert sexuellen Missbrauch als
„ein traumatisches Erlebnis (eine Noxe, d.h. eine schädigende Einwirkung), das auch mit konkreten körperlichen Traumata verbunden sein kann und psychische Sofort-, Früh- und Spätfolgen hervorrufen kann“ (Fegert 1993, nach Julius/Boehme 1997, S.20).
Kritisch zu bemerken ist, dass eine solche Definition in erster Linie vom subjektiven Empfinden des Opfers abhängig ist. Das heißt, dass die Interventions-möglichkeiten daran ausgerichtet werden, in welchem Maße sich das Kind missbraucht fühlt. Ausschlaggebend sind die Folgen, die dieses Erlebnis auslöst. Da gewisse Resilienzfaktoren unter anderem dazu beitragen können, dass das Kind eine solche Erfahrung kompensieren kann und psychisch gesund bleibt, ergeben sich gemäß der Definition in einem solchen Fall keine klinischen Interventionen (vgl. Julius/Boehme 1997, S.20ff).
Des Weiteren findet man in der Literatur sogenannte Arbeits- oder Forschungs-definitionen, die den Begriff ‚sexuellen Missbrauch’ bestimmen (vgl. Julius/Boehme 1997; Bange/Deegener 1996; Brockhaus/Kolshorn 1993). Solche Definitionen sind von verschiedenen Kriterien maßgeblich bestimmt. Diese betreffen den Altersunterschied zwischen Täter und Opfer, das Alter von Täter und Opfer, die Art der sexuellen Handlung, die Anwendung von Zwang und Gewalt, das kindliche Erleben, Folgen des sexuellen Missbrauchs, Missachtung des kindlichen Willens sowie die Frage nach dem Einverständnis (vgl. Julius/Boehme 1997; Bange/Deegener 1996; Brockhaus/Kolshorn 1993).
Jeder Untersuchung liegt eine eigene Definition zugrunde, welche einige der oben aufgeführten Kriterien beinhaltet. So findet sich in der Mehrzahl der Unter-suchungsdefinitionen eine Altersbeschränkung. Diese reicht vom „Säuglingsalter bis zur Pubertät oder maximal zur Volljährigkeit“ (Brockhaus/Kolshorn 1993, S.26). Häufig werden Altersgrenzen mit dem Altersunterschied zwischen Täter und Opfer verbunden. Eine Differenz von mindestens fünf Jahren muss gegeben sein, um dieses Definitionskriterium zu erfüllen. Das heißt, dass der Täter aufgrund seines Alters dem Kind überlegen ist und ein gewisses Machtgefälle besteht....