|1|1. Kapitel
Lernen, Lehren und die Pädagogische Psychologie
|2|Fallbeispiel
Im Lehrerzimmer der Oberschule zum Dom fand vor kurzem eine erhitzte Diskussion statt. Es ging um die Frage, ob die Pädagogische Psychologie einem Lehrer wirksame Hilfen anbieten kann, wenn er alltäglich vor vielen Problemen steht, für die er eine Lösung finden muss. Lehrer Wolfgang Kapp gehörte zu jenen Kollegen des Lehrerkollegiums, die die Frage energisch verneinten. Entsprechend erklärte er mit erregter Stimme: „Man hat mir im Studium Geschichten von Pavlovs Hund und von Skinners Ratten erzählt, Beispiele für Wahrnehmungstäuschungen und ethnische Stereotype gegeben … was hilft mir so ein ‚Zeugs‘, wenn ich meine Schülerin Petra zum wiederholten Mal auffordern muss, auf ihrem Platz zu bleiben und endlich aufzupassen, wenn ich Daniel zum x-ten Male ermahnen muss, seine Hausaufgaben ordentlich zu erledigen, oder wenn ich dem größten Teil meiner Klasse immer wieder zu vermitteln habe, dass man sich in der Schule auch Inhalten zuwenden muss, die keinen Spaß machen?“ Lehrerin Sabine Nollmann hatte den engagierten Ausführungen ihres etwas älteren Kollegen mit dem Ausdruck offenkundiger Missbilligung einige Zeit zugehört, sich aber dann entschlossen, ihm entschieden zu widersprechen. Auch sie habe – so erklärte sie – in ihrer Lehrerausbildung von Pavlov und Skinner gehört, aber stets sei dabei auch erarbeitet worden, welchen Bezug deren Theorien zu Ereignissen im Klassenzimmer hätten. Ihr sei in Seminaren vielfältig Gelegenheiten geboten worden, sich u. a. darin zu üben, welche Verhaltensweisen eines Schülers als „operante“ (s. S. 215) zu gelten hätten, unter welchen Bedingungen die Frage der Lehrerin zu einem „diskriminativen Reiz“ (s. S. 232 f.) würde und wie man verhindern könne, dass Schüler durch Konditionierung negative Einstellungen gegenüber einzelnen Fächern entwickeln. In ihren Seminaren habe sie auch Erkenntnisse der Motivationspsychologie kennengelernt und wiederholt die Gelegenheit gehabt, in der Rolle einer Lehrerin (Seminar-)Stunden zu moderieren und dadurch praktische Erfahrungen in der Weckung von Neugier und Interesse sammeln zu können.
Die Diskussion im Lehrerzimmer wäre sicherlich noch einige Zeit fortgeführt worden, wenn ihr nicht der Schulgong, der zur Fortsetzung des Unterrichts rief, ein Ende gesetzt hätte. Als der Pädagogische Psychologe einige Tage später von dieser Diskussion unter Lehrern erfuhr, zeigte er sich erfreut, dass es durchaus gelingen kann, zumindest bei einigen Lehramtsstudenten eine positive Einstellung zu ihrem Fachgebiet zu entwickeln und es zudem möglich ist, dass sich zukünftige Lehrer – wie offenkundig Lehrerin Nollmann – bereits im Studium in der Anwendung ihrer Erkenntnisse üben können. … Vielleicht – so wünschte sich dieser Pädagogische Psychologe – könnte sein Buch, Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, ein wenig dazu beitragen, dass in Lehrveranstaltungen dieses Fachgebietes nicht nur für Abschlussprüfungen „gelernt“ wird, sondern dass erarbeitete Erkenntnisse auch tatsächlich in die Entscheidungen von Lehrern wirkungsvoll einfließen können.
Der kurzen einleitenden Schilderung lässt sich nicht entnehmen, welche fachliche Ausrichtung jene Lehrenden gehabt haben, die dem Lehrer Kapp im Rahmen seines Studiums klassische Lerntheorien und der Lehrerin Nollmann Theorien der |3|Konditionierung offenbar unter Hinweis auf den Praxisbezug vorgestellt haben. Es ist bereits wiederholt vor der Gefahr gewarnt worden, dass Studierende von Lehrveranstaltungen der Psychologie enttäuscht worden sind, denn „Studenten wenden sich üblicherweise dem Lernstoff zu – überzeugt davon, dass er für menschliche Probleme Relevanz habe …, [werden] aber im weiteren Verlauf von der Anwendbarkeit ihrer Lehrveranstaltungen enttäuscht“ (Reynolds, 1997). Pädagogischen Psychologen, die in der Ausbildung von Lehrern tätig sind, kommt also eine besondere Verantwortung zu, indem sie alles tun, damit dieses „sich Abwenden aus Enttäuschung“ möglichst frühzeitig im Studium verhindert wird. Wie sich bereits durch die nachfolgende Kennzeichnung dieses Fachgebietes zeigen lässt, vermögen Vertreter dieses Faches über eine Fülle von Erkenntnissen zu informieren, die in allen Institutionen, in denen gelehrt wird, erhebliche praktische Relevanz aufweisen.
Im vorliegenden Kapitel soll zunächst geklärt werden, was die Pädagogische Psychologie kennzeichnet, welches ihre Aufgaben sind. Sie wendet sich zum einen an den angehenden und ebenso an den in der Unterrichtspraxis stehenden Lehrer, begreift sich aber gleichzeitig als eigenständiges Forschungsgebiet, das Fragen zu klären versucht, die im größeren Umfang im Klassenzimmer entstehen. Da im Mittelpunkt des Interesses der Pädagogischen Psychologie das Lernen und Lehren steht, ist in diesem einführenden Kapitel auch auf diese Prozesse einzugehen. Es soll erläutert werden, welche Änderungen ein Lehrer vornimmt, wenn er statt behavioristischer Vorstellungen von Lernen konstruktivistischen den Vorzug gibt. Abschließend soll geklärt werden, ob die Weitergabe pädagogisch-psychologischer Erkenntnisse an jene Gruppen, die sich auf die spätere Lehre vorbereiten oder diese bereits ausführen, in einer Weise erfolgt, dass die Adressaten auch bestmöglichst davon profitieren.
1.1 Kennzeichnung der Pädagogischen Psychologie
Der Bezeichnung Pädagogische Psychologie ist zu entnehmen, dass es sich dabei um ein Fachgebiet handelt, das innerhalb des Faches Psychologie angesiedelt ist. Die Bedeutung dieser Zuordnung sollte man nicht unterschätzen, denn damit wird ausgedrückt, dass in diesem Fachgebiet Anforderungen an das methodische Vorgehen und an die Entwicklung von Theorien gestellt werden, die innerhalb der Psychologie bestehen. Erst durch ihre Zielsetzung unterscheidet sich die Pädagogische Psychologie von anderen Fachgebieten der Psychologie. Bei der Pädagogischen Psychologie handelt es sich um jene Disziplin der Psychologie, die das Lernen und Lehren im pädagogischen Kontext erforscht und ihre Erkenntnisse anwendet, um Menschen praktisch aller Altersstufen auf der kognitiven, der sozial-emotionalen und der Verhaltensebene in Richtung auf gesellschaftlich wünschenswerte Ziele zu fördern.
|4|1.1.1 Zielsetzungen der Pädagogischen Psychologie
Ebenso wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa in der Medizin, gibt es innerhalb der Vertreter der Pädagogischen Psychologie Spezialisierungen. Sie alle richten ihren Blick zwar auf pädagogische Situationen, die aber in verschiedenen Kontexten anzusiedeln sind. Einige von ihnen beschäftigen sich mehr mit Fragen der Früherziehung, andere sehen ihren Schwerpunkt in Lern- und Verhaltensschwierigkeiten und wiederum andere richten ihren Blick vor allem auf Hochbegabungen und ihre Förderung. In diesem Rahmen steht im Mittelpunkt des Interesses das Lernen und Lehren im institutionellen, also im unterrichtlichen Kontext. Welche Lernleistungen in diesem Kontext erbracht werden, hängt selbstverständlich auch von schulexternen Bedingungen ab, die von der Pädagogischen Psychologie nicht ignoriert werden können. In welcher gesundheitlichen Verfassung Kinder sich der schulischen Arbeit stellen, wird zweifellos im häuslichen Milieu mitbestimmt. Wenn Kinder beispielsweise regelmäßig ein gesundes Frühstück einnehmen – keine Süßigkeiten oder Chips – sind sie in ihren Leistungen anderen beträchtlich überlegen, die ohne Frühstück den Schultag beginnen (Littlecott et al., 2015). Aber auch die physikalisch wahrzunehmende Umgebung, also der Klassenraum und das Schulgebäude sowie dessen unmittelbare Umgebung, findet das Interesse der Pädagogischen Psychologie.
Beispiel
In einer britischen Studie untersuchten Peter Barrett und seine Mitarbeiter (2015), welchen Einfluss die physikalische Ausgestaltung des Klassenzimmers auf den Lernfortschritt von Grundschülern nehmen kann, wobei gleichzeitig versucht wurde, den Einfluss von Mitschülern und Lehrern möglichst auszuschließen. Das Forschungsteam stellte fest, dass Merkmale des Klassenzimmers, wie etwa die Luftqualität, die Farbgestaltung, die Raumtemperatur und die Lichtverhältnisse (Tageslicht), zusammen genommen den Lernfortschritt der...