[29]Kapitel 2:
Entscheidungsfindung
Wenn eine Krankheit in eine Phase übergegangen ist, in der Therapien nicht oder nicht mehr das Ziel einer Heilung verfolgen, sind schwierige und manchmal äußerst belastende Entscheidungen zu treffen. Dies trifft auch für Therapien zu, die bei unheilbaren Krankheiten (viele neurologische Erkrankungen) eingesetzt werden. Wenn eine Therapie nicht zu einer Verbesserung einer, zum Beispiel im Verlauf schlechter gewordenen, Lungenfunktion, oder zu einer Verbesserung der Lebensqualität des Kindes führt, muss darüber nachgedacht und entschieden werden, ob sie durchgeführt [30]oder fortgesetzt werden soll. Wichtig hierbei ist, zu bedenken, dass viele Therapien, die bei schwerkranken Kindern durchgeführt werden, für das Kind sehr belastend und sogar mit Schmerzen verbunden sind. Beispielsweise ist eine Beatmung nicht nur eine Hilfe, sondern immer auch mit Leiden verbunden. Neben Schmerzmedikamenten benötigt das Kind, wie jeder andere Patient, Medikamente zur Sedierung (künstlicher Schlaf). Das sedierte Kind kann aber nicht kommunizieren und nicht am Leben teilhaben. Es ist also deutlich eingeschränkt. Deshalb geht es in Entscheidungen um Fragen, was das Kind möchte, wie weit es mitbestimmt, und was über das Kind bestimmt werden darf und wer dies tun kann. Wenn eine Entscheidung gegen eine bestimmte Therapie getroffen wird, muss überlegt werden, was dem Kind an Stelle dieser nicht oder nicht mehr durchgeführten Therapien gut tun würde. Bei solchen Entscheidungen kommt natürlich der Zustimmung oder dem Einverständnis der Eltern eine große Bedeutung zu.
2.1 Das Recht auf Selbstbestimmung
Jeder Patient hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Dies ist ein Grundrecht. In der Schweiz werden solche grundsätzlichen medizinischen Sachverhalte, die auf ethischen Prinzipien aufbauen, von der Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in Form von Richtlinien erarbeitet und bieten Ärzten und Behandlungsteams eine wichtige Grundlage in ihrem klinischen Alltag. Eine dieser Richtlinien widmet sich der Frage nach den Rechten des Patienten (6). Das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet, dass der Wille des urteilsfähigen Patienten in der Behandlung und Betreuung zentral ist. Es darf nicht gegen den erklärten Willen des Patienten gehandelt werden. Einschränkend muss ergänzt werden, dass dem Willen nur entsprochen werden muss, wenn die Behandlung den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst entspricht. Der Patient hat jedoch das Recht, eine anerkannte Therapie zu verweigern.
[31]Auch Kinder haben das Recht, ihre Sichtweise in Bezug auf ihr Leben zu äußern. Das ist klar in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 formuliert. Da bei Kindern in Bezug auf Selbstbestimmung die Urteilsfähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, kommt dem Kindeswohl häufig eine größere Bedeutung zu (7). Allerdings kann auch bei einem minderjährigen Kind (unter 18 Jahre) eine Urteilsfähigkeit gegeben sein. Im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung beschreibt die Kategorie «Urteilsfähigkeit» die Fähigkeit Informationen zu verstehen, die für die Entscheidung notwendig sind. Ebenso muss der Patient in der Lage sein, die Konsequenzen, die sich aus der Entscheidung ergeben, abwägen und beurteilen zu können. In der UN-Kinderrechtskonvention gilt das Wohl des Kindes als gewahrt, wenn es «sich gesund und natürlich in Freiheit und Würde körperlich, geistig, moralisch, seelisch und sozial» entwickeln kann.
Für nicht urteilsfähige Kinder entscheidet der gesetzliche Vertreter, in der Regel die Eltern. Bei kleinen Kindern, die an einer schweren, möglicherweise zum Tode führenden Krankheit leiden und noch nicht in vollem Maß urteilsfähig sind, ist es wichtig, sie in gewisse Entscheidungen einzubeziehen und ihre Wahrnehmungen und Äußerungen ernst zu nehmen. Die Voraussetzung für eine solche Einbeziehung ist eine altersentsprechende Information des Kindes und der Eltern.
2.2 Um welche Entscheidungen geht es?
Im Kontext von Palliative Care und der Betreuung am Lebensende werden Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte medizinische Behandlung unterschieden. All diesen Entscheidungen liegen ethische Prinzipien zugrunde, die vom Behandlungsteams im Entscheidungsprozess herangezogen und diskutiert werden, bevor die Überlegungen den Patienten und deren Angehörigen vorgestellt und diese um ihre Meinung gebeten werden. Es werden die im medizinischen Fachjargon verwendeten Begriffe benutzt und erklärt:
[32]Therapiebeschränkung/Therapieverzicht: Dies beinhaltet die Entscheidung, eine in der Situation übliche Behandlung wie beispielsweise die antibiotische Behandlung einer Lungenentzündung, die Verlegung auf eine Intensivstation oder eine maschinelle Beatmung nicht zu beginnen, da ihr Nutzen im Kontext der Krankheit des Kindes als nicht (mehr) hilfreich und nicht mehr zumutbar erachtet wird. Es beinhaltet nicht die Entscheidung «gar nichts mehr» zu tun. Im Gegenteil, jede Behandlung und Maßnahme, die das Befinden des Kindes dann zu verbessern vermag, ist zwingend notwendig.
Ein 6-monatiger Junge mit einer sehr seltenen neuromuskulären Erkrankung, die dazu geführt hat, dass er nicht selbständig atmen kann, sich langsam verschlechtert und er zunehmend leidet. Um die Beatmung auch zu Hause zu ermöglichen, wird ihm einige Wochen zuvor, bei einer Operation, eine Kanüle (Röhrchen) so über den Hals direkt in die Luftröhre eingelegt, dass eine Beatmung auch zu Hause mit einem Heimbeatmungsgerät möglich wäre. Die genaue Diagnose ist in dieser Zeit noch nicht bekannt. Während seiner Verschlechterung trifft die endgültige Diagnose ein, die seine sehr schwere Erkrankung bestätigt. Mit dem Wissen dieser Diagnose und der damit gut zu erklärenden Verschlechterung des Befindens wird das Gespräch mit den Eltern gesucht, um ihnen zu erklären, dass der Plan einer Entlassung nach Hause mit der bereits angedachten Heimbeatmung nicht realistisch ist. In der Folge verschlechtert sich die Situation weiter und es besteht der Eindruck, dass das Kind trotz, oder mit der Beatmung leidet. Dies sehen auch seine Eltern und bitten darum, keine weiteren Therapien zu beginnen und ihren Sohn zu «erlösen». Gemeinsam wird entschieden, die Beatmung durch die Maschine nicht weiter zu intensivieren und bei Hinweisen auf eine Lungenentzündung auf eine antibiotische Behandlung zu verzichten. Es werden Medikamente (Morphin) gegen die zeitweise offensichtlich bestehende Atemnot gegeben. Die Eltern sind viel bei ihm und halten ihn auf den Armen. Nach wenigen Wochen stirbt der Junge an einem Nachmittag im Beisein seiner Eltern und der älteren Schwester auf der Intensivstation – die über all die Monate für die Familie zu einem zweiten Zuhause geworden ist.
Therapieabbruch: Dies umfasst die Entscheidung, eine bestimmte, bereits begonnene Behandlung nicht mehr weiterzuführen, weil sie nicht den gewünschten Effekt erzielt hat. Für das Kind bedeutet es, dass eine Fortsetzung der Behandlung wie beispielsweise eine [33]maschinelle Beatmung oder eine Chemotherapie nur noch die häufig von nahestehenden Menschen wenig realisierten, unerwünschten Wirkungen nach sich zieht. Der Grund des «Nicht-Realisierens» wird von Betroffenen häufig als ein Kämpfen verteidigt, dem das große innere Gebot zugrunde liegt, die Hoffnung niemals aufzugeben. Das ist zutiefst menschlich und sehr verständlich. Es könnte ja doch ein Wunder geschehen! In diesem Kampf und Ringen wird das Leiden des Kindes jedoch nicht mehr gesehen und alles «Nichtstun» als Akt der Verneinung und des Aufgebens fehlgedeutet. Da Entscheidungen offensichtlich anstehen, und so vom Behandlungsteam vermittelt und angekündigt werden, ist auch seitens betroffener Eltern ein Schritt nötig, sich der Perspektive von Fachpersonen zu stellen und sich diese gegebenenfalls gemeinsam mit einer außenstehenden Person erklären zu lassen. Ein Therapieabbruch wird nur dann vorgeschlagen, wenn der Nutzen einer Behandlung deutlich geringer ist oder – im Vergleich zu dem Schaden durch die Behandlung – gänzlich fehlt. Ein Therapieabbruch bezieht sich nur auf eine bestimmte Therapie oder Behandlung, betrifft aber nicht die gesamte Behandlung und Betreuung des Patienten, die auch bei dem Abbruch einer bestimmten Therapie selbstverständlich fortgeführt wird.
2.3 Welche Entscheidungen dürfen Eltern für
ihr Kind treffen?
Eltern treffen natürlicherweise und in der Regel absolut selbstverständlich Entscheidungen für ihr Kind. Sie sorgen mit Liebe für ihr Kind, unterstützen es, seine Potentiale zu entfalten und sich zu einem selbständigen Menschen zu entwickeln. Eltern haben juristisch die «Vollmacht» über ihr Kind. Diese Vollmacht bedeutet aber nicht, dass das Kind den Eltern gehört und sie unbeschränkt entscheiden dürfen.
Eltern sind die gesetzlichen Vertreter des Kindes und müssen für ihr Kind Entscheidungen treffen. Dies wird als Stellvertreterentscheidung [34]bezeichnet: die Eltern entscheiden «an Stelle» des Kindes. Eltern müssen sich hierfür eine Meinung bilden und kommen so in einen Prozess der Entscheidungsfindung. Dazu benötigen sie umfassende und verständliche Informationen über die Krankheit ihres Kindes, den erwarteten Krankheitsverlauf, die Prognose und die aus ärztlicher Sicht zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten, inklusive deren Erfolgsaussichten und die mit der Behandlung verbundenen Nebenwirkungen und Belastungen für das Kind. Diese Informationen sollten, wenn immer möglich, von einer konstanten über den Krankheitsverlauf involvierten ärztlichen und pflegerischen Fachperson übermittelt werden. Eltern...