Ziele
»Also bitte! Ich bin 12!
Das kenne ich doch alles schon!«
Samstags morgens zu zweit beim Frühstück zu sitzen, sich plötzlich anzuschauen und zu sagen: »Es ist schon Mai, und wir waren noch nicht am Meer!«, das kann eigentlich jeder.
Am selben Nachmittag aber schon Sandwichs schmieren und den Wagen voll tanken, um abends Richtung Atlantik starten zu können – das ist nur etwas für Kinderlose. Zwölf Stunden Fahrt, Sonntagsfrühstück an der französischen Atlantikküste, mittags Menhire besichtigen, nachmittags im Hypermarché Wein bunkern, gegen Mitternacht unterm Eiffelturm stehen und rechtzeitig zum Bürobeginn wieder daheim in Deutschland: von Kindern zu verlangen, solch einen Wochenendausflug mitzumachen, wäre Quälerei.
Familienurlaub hat gemütlicher zu sein. Und weniger spontan. Eltern überlegen sich alles gerne lange im Voraus. Zum Beispiel verabreden sie sich Mitte September für die nächsten Sommerferien mit anderen Eltern, gehen dann ins Reisbüro und buchen sofort. (Elf Monate später, wenn es losgehen soll, hat dann eines der Kinder die Windpocken, das andere einen gebrochenen Arm, die Mutter eine Tagung in Berlin, und der Vater würde eigentlich gern an einer Oldtimerausfahrt teilnehmen – und alles wird ein wenig kompliziert.)
Tagesausflüge dürfen auch etwas kurzfristiger geplant sein, sie brauchen allerdings normalerweise einen Anlass. Die Taufe vom Cousinchen. Oder die Hochzeit von Papas Schulfreund. Oder die von seiner Exfrau. Oder den neuen Van. Außerdem wird natürlich immer über das spezielle Kinderprogramm nachgedacht, denn nur in der Landschaft herumkariolen, das kommt natürlich nicht infrage. Bei diesen Überlegungen geht dann gerne alles, was Erwachsene interessiert, total unter.
Die Vereinten Nationen unterstützen das. Artikel 12 und 13 der UN-Kinderrechtskonvention legen fest, dass Kinder, die fähig sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, nicht nur das Recht haben, diese Meinung frei zu äußern, sondern auch darauf, dass diese Meinung angemessen berücksichtigt wird.
Kleine Einschränkung: Der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung hat in diesem Vertragstext Vorrang. Ob Sie diese Klausel in Diskussionen über Ferien- und Ausflugsziele als Argument anwenden, bleibt Ihnen selbst überlassen.
Freie Meinungsäußerung war leider das Einzige, das Antje (9) blieb, um ihrer Unzufriedenheit mit dem gewählten Reiseziel Ausdruck zu verleihen. Für die Berücksichtigung war es zu spät. Antjes Eltern waren mit ihr in der Türkei unterwegs. Ein Tagesziel stellte der antike Artemistempel in Ephesos dar, beziehungsweise das, was heute noch davon übrig ist.
Das Heiligtum gehörte in der Antike zu den sieben Weltwundern, erfuhr Antje von ihren Eltern auf dem etwas beschwerlichen Weg dorthin. Man hatte das Auto irgendwo geparkt und sich zu Fuß aufgemacht, seit einer Stunde stakste die Familie nun schon durch das sumpfig-steinige Gelände. Vor einer einsam dastehenden, verwitterten Säule blieb Antjes Vater nun stehen und verkündete: »Wir sind da!«
Fassungslos starrte seine Tochter ihn an: »Wie … da?! Ihr habt gesagt, dass das ein Weltwunder ist! Das ist ja wohl nur ein Haufen kaputter Steine! Wenn das hier ein Weltwunder ist, dann ist unser Esstisch daheim auch ein Weltwunder! Und dafür bin ich jetzt hier stundenlang rumgeklettert?! Ich will sofort nach Hause!«
Antje nutzte ihr gutes demokratisches Recht auf freie Meinungsäußerung noch eine ganze Weile lautstark aus. Genutzt hat es freilich nicht viel: Den Weg bis zum Auto zurück musste sie trotzdem laufen. Aber immerhin sind ihre Eltern nie wieder auf die Idee gekommen, Antje ein Weltwunder zu zeigen.
So verschieden die Ansichten über Schönheit und Wert von Sehenswürdigkeiten sind: Man kann auch Interessen verbinden. Nehmen wir an, Opa mag Höhlen. Die wunderschönen bizarren Tropfsteinformationen, das unwirkliche Licht der trüben Glühbirnen dort unten und die Geschichten der Forscher faszinieren ihn schon lange. Opa möchte diese Begeisterung mit seinen beiden fünf und sieben Jahre alten Enkeln teilen. Er lädt sie also ein, mit ihm samstags einen Ausflug zur hundert Kilometer entfernten, touristisch erschlossenen Tropfsteinhöhle zu machen. Das Telefonat mit dem Kleineren der beiden gestaltet sich allerdings etwas schwierig. Er ist nämlich überzeugt: »Höhlen gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!«
»Hm? Wieso das denn? Natürlich gibt es Höhlen.«
»Mama hat gesagt, dass das Quatsch ist mit den Höhlen und den Monstern da drin.«
»Ja, die Monster, die gibt es nicht, die Höhlen aber schon.«
»Dann ist das ja wohl voll langweilig.«
»Frag doch bitte mal deinen Bruder, was er dazu sagt.«
Durchs Telefon hört er seine Enkel debattieren: »Opa will uns in eine Höhle mitnehmen. – Echt? Cool, das ist voll gefährlich, da erschießen einen so fiese Nazis, in den Höhlen! Und man fällt in Löcher mit flüssiger Lava. – Wieso? – Na, wie in dem Computerspiel, das wir bei Lukas gespielt haben. – Er will wissen, ob du mitwillst. – Na klar! – Opa, hallo? Ist gut, wir kommen mit. Sind da wirklich Nazis in den Höhlen?«
»Nein!«
»Opa sagt …«
»Aber Dinosaurierspuren!!!«, ruft der Großvater hastig ins Telefon. »Und vielleicht auch Zähne! Du wirst sehen, das ist interessant.«
Erschöpft legt er auf, um in den nächsten Tagen Dinosaurierfakten zu sammeln, die er dann vor Ort zur Untermauerung seines kleinen Notlügenkonstruktes benutzen kann. Dinosaurier in Höhlen!
Als der große Tag da ist, wird es den Jungs dann tatsächlich nicht langweilig. Jeder Kratzer an der Wand wird zur Krallenspur, jede Vertiefung am Boden ist ein Fußabdruck. Die Frage, wie der 20 Meter lange Tyrannosaurus Rex in die enge Höhle gepasst haben soll, bleibt glücklicherweise aus. Die Magie des Ortes geht nicht spurlos an den Kids vorbei. Opa ist sehr zufrieden. Sogar den Unterschied zwischen Stalagmiten und Stalagtiten hat er erklären dürfen. Spät am Nachmittag tritt die kleine Forschungsmannschaft gut gelaunt den Heimweg an. Weil der Besucherparkplatz ziemlich matschig war und auch der Feldweg dorthin seine deutlichen Spuren und Spritzer auf dem Autolack hinterlassen hat, fährt Opa noch einen kleinen Umweg durch eine Autowaschanlage. Erst kurz vor acht liefert er die Jungs wieder bei den Eltern ab. Die sind natürlich neugierig: »Und? Was war am schönsten?«
Einstimmig die beiden Enkel: »Die Autowaschanlage! Das war cool! Nächste Woche dürfen wir wieder, ja?«
Viele Erwachsene gehen gerne ins Museum. Viele Kinder teilen diese Neigung durchaus nicht, es sei denn, sie werden dort altersgemäß beschäftigt. Nun ist ein Vierjähriger in einer Sammlung zeitgenössischer Kunst, wenn er sich altersgemäß beschäftigt – sprich: seine Wachsmalkreide dabei hat –, ungefähr so gefährlich wie ein Piranha in einem Aquarium mit Goldfischen: Wenn er anfängt mitzuspielen, gibt es Panik rundherum.
Allein in Deutschland gibt es ungefähr 5000 Museen. Aber die meisten sind für Kinder nicht so richtig geeignet: In Naturkundemuseen stehen oft große Skelette, die nach Kletterversuchen schwer wieder aufzubauen sind. Völkerkundler sind stolz auf ihre Holzmasken oder den keltischen Schmuck – alles Eins-a-Spielzeug, das man dann den Kleinen vorenthalten soll. Da ist böses Blut vorprogrammiert. Im Automuseum dürfen sie nicht rumfahren, im Zigarettenmuseum nicht rauchen und im Uhrenmuseum nicht austicken. Irgendwo in Deutschland gibt es sogar ein Mausefallenmuseum, aber wahrscheinlich darf man seine eigene Maus nicht mitbringen.
Also: Wenn schon Museum, dann bitte gut vorbereiten, damit es wenigstens schnell geht. Wie diese Vorbereitung aussehen könnte, sei hier kurz am Beispiel eines berühmten Bildes gezeigt. Sie möchten gerne die »Mona Lisa« sehen. Im Louvre in Paris. Wie gehen Sie vor?
Falsch:
Nach Paris fahren. Sich mittags in die Schlange vor dem Louvre stellen und warten, bis man, gemeinsam mit den hunderten von anderen Kunst-Touris, zu dem Bild durchgeschoben wurde. Versuchen, einen Blick zu erhaschen, dann mit quengelnden Kindern unterm Arm Richtung Ausgang und sich wünschen, man wäre zu Hause.
Richtig:
Nach Paris fahren. Ein Erwachsener geht allein zur Vorverkaufsstelle und besorgt Eintrittskarten, dazu einen Plan des Louvre. Für die Kids gibt es währenddessen Spielprogramm. Am nächsten Tag steht die ganze Familie pünktlich um kurz vor neun vor der Porte des Lions, an der Südseite des Museums. Durch diese Tür hat man den kürzesten Weg zur Mona Lisa (außer dienstags und freitags, da ist sie nämlich zu). Um nicht noch zu den Schließfächern zu müssen, haben Sie keine großen Taschen dabei. Jetzt nehmen Sie Ihren Louvre-Plan und rennen gemeinsam zum Salle des Etats, da hängt das Bild. Wer zuerst da ist, hat gewonnen. Wenn Sie und Ihre Kinder einigermaßen fix unterwegs sind, sollten Sie es schaffen, ein paar Minuten ganz allein vor Da Vincis Meisterwerk zu stehen. Um zehn können Sie dann schon das (versprochene) Kakaofrühstück in einem ruhigen Straßencafé einnehmen, und alle sind glücklich.
Nach diesem Muster können Sie Kulturbesichtigungen immer vorbereiten. Informationsquellen dafür sind das Internet und gute Reiseführer. Einzige Einschränkung: Bestimmte Familienmitglieder leiden möglicherweise unter einen echten Kulturallergie und können wirklich nur ausgewiesene Kinderziele...