OUVERTÜRE
Baue meine Kirche wieder auf
Noch müht sich die Sonne mit dem Dunst des Morgens, doch das bunte Volk stört das nicht. Im Gegenteil. Der Himmel meint es wieder einmal gnädig mit den zehntausenden Pilgern, die von allen Seiten auf den Platz vor der Basilika Sankt Peter strömen. Keine sengende Hitze wie im Sommer, erst recht kein Regen, wie er im Herbst den Petersplatz in ein unansehnliches Meer aus Schirmen und Plastikponchos verwandelt, auch keine kalten Böen, die im Winter durch die Kolonnaden fegen. Überhaupt: der Winter. Wie fast überall in Europa hat er im ersten Jahr des Pontifikates von Papst Franziskus auch in Rom nicht stattgefunden.
Doch an den Launen der Witterung liegt es nicht, dass die Generalaudienz auch an diesem 26. Februar unter freiem Himmel stattfindet. Fast ein Jahr nach seiner Wahl zum Oberhaupt der römischkatholischen Kirche zieht der Mann vom Ende der Welt noch immer die Menschen an wie ein Magnet. Ob Sommer, Herbst oder Winter, die Aula Paolo VI hätte die Pilger nicht fassen können, die Woche für Woche Papst Franziskus sehen und hören wollen.
50.000 sind es heute, vielleicht 60.000, vielleicht doch etwas weniger – wer will sie zählen? Und wer will die Namen der Städte und Bistümer, der Pfarreien oder der Schulen, der Orden oder der Einrichtungen behalten, die zur Begrüßung auf Italienisch, Polnisch, Deutsch oder Spanisch über den Platz hallen? Beifall und Fahnen geben die Richtung zu erkennen, in der die gerade Angesprochenen in der Masse vermutet werden müssen. Aber mal hier, mal da brandet nicht allein Beifall auf, sondern Jubel. Von Ferne folgt die akustische Spur einem weißen Punkt, der sich wie von Geisterhand geführt knapp über den Köpfen der Menge hin und her bewegt. Papst Franziskus, der als «Persönlichkeit des Jahres» vor kurzem auf dem Titelblatt der amerikanischen Zeitschrift «Time» zu sehen war, nimmt sich wieder einmal alle Zeit der Welt für seinen giro, die Fahrt kreuz und quer durch die Reihen der Pilger. Und was für eines Jahres.
Der Zusammenbruch
Gut ein Jahr ist vergangen, seit Papst Benedikt XVI. zum letzten Mal bei einer Generalaudienz zu sehen war. Am 6. Februar 2013 betritt er in weißer Soutane, mit roten Schuhen und mit goldenem Brustkreuz die überdachte Audienzhalle. Wie viele Menschen den Mann mit den tiefliegenden, schwarz umrandeten Augen noch sehen und hören wollten, ist nicht überliefert. Vielen Katholiken gleich welcher Herkunft und welchen Ranges ist ob des Skandals namens «Vatileaks» längst Hören und Sehen vergangen. Ein Papst, der vor «Raben» nicht sicher ist, die über Jahre Dokumente von seinem Schreibtisch entwenden und in Zeitungen und Büchern verbreiteten,[1] – das setzt nicht nur den Treuesten der Treuen zu. Niemand vermag mehr zu sagen, wem in der Umgebung des Papstes noch zu trauen ist. Die Kommunikation in der Kirche bricht zusammen. Bald ist das Pontifikat Benedikts XVI. auch formell Geschichte.
Am Montag, dem 11. Februar, erklärt der deutsche Papst seinen Verzicht auf das Amt des Bischofs von Rom. Mit purpurfarbener Mozetta und einer breiten Stola bekleidet, denselben Insignien, mit denen Joseph Kardinal Ratzinger am Abend des 19. April 2005 als Papst unter die Augen der Öffentlichkeit getreten war, bricht er mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass ein Papst nicht zurücktritt.
«Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben»,[2] lässt Papst Benedikt das wegen dreier Heiligsprechungen zusammengekommene Kardinalskollegium am Rosenmontag 2013 wissen. Kardinaldekan Angelo Sodano verliest eine vorbereitete Erklärung, nahezu allen steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Niemand hatte etwas geahnt. Auch außerhalb der Mauern des Vatikans will kaum jemand auf Anhieb die Nachricht vom Rücktritt des Papstes glauben. Aber für einen Aprilscherz ist es zu früh.
Es gibt kein Zurück. Mag der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz mehr oder weniger unverhohlen darauf hinweisen, dass Christus oder Papst Johannes Paul II. auch nicht vom Kreuz herabgestiegen seien, der Entschluss ist unumstößlich: «Mit voller Freiheit», so hat es Benedikt am Rosenmontag 2013 gesagt, verzichte er auf das Amt des Bischofs von Rom. Am Montag der letzten Februarwoche nimmt Papst Benedikt aus den Händen dreier Kardinäle seines Vertrauens einen Bericht über «Vatileaks» entgegen. Drei Tage später steigt ein weißer Hubschrauber über dem Petersdom auf und nimmt Kurs auf Castel Gandolfo, die unweit Roms gelegene Sommerresidenz der Päpste. Am 28. Februar 2013 um 20.00 Uhr ist der Stuhl des Heiligen Petrus vakant.
Wie wird es weitergehen? Welchen Namen wird der alte Papst wohl tragen? Welche Titel führen? Wo seinen Wohnsitz nehmen? In welcher Kleidung und mit welchen Insignien sich der Öffentlichkeit zeigen? Die symbolische Ordnung der Kirche wird besichtigt und auf Schäden untersucht. Hat Ratzinger das Papstamt entmystifiziert, wenn nicht gar profaniert? Und mit seinem Schritt einen langen Schatten auf das öffentliche Sterben seines Vorgängers Johannes Paul II. geworfen? Wer aber, so wird eingewandt, hätte mit lautererem Sinn von der Möglichkeit Gebrauch machen können, dass auch ein Papst auf sein Amt verzichten kann? Und dass es dazu nicht mehr bedarf, als dass «der Verzicht frei geschieht und hinreichend kundgemacht, nicht jedoch, dass er von irgendwem angenommen wird»? So ist es Recht in der Kirche.[3]
Eigentlich nicht
Diese Möglichkeit wiederum stellt Berufstheologen und Kirchenrechtler vor Fragen, die sich seit Jahrhunderten nicht mehr gestellt hatten: Ist das eine Papstamt nicht so untrennbar mit einer Person verbunden, dass sich schon die Vorstellung verbietet, dass es zwei Päpste geben könnte? Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der Präfekt der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre, wird noch mehr als ein Jahr nach dem Amtsverzicht Benedikts sagen, diese Konstellation könne theologisch «eigentlich nicht» eintreten. Da ist die Geschichte längst über die Theologie hinweggegangen.
Was aber geht in Jorge Mario Kardinal Bergoglio vor? Anders als etwa die Mehrzahl der deutschen Kardinäle hat der Mann vom Ende der Welt es sich nicht nehmen lassen, am Vormittag des 28. Februar 2013 im Vatikan zu sein. Er möchte der eigens anberaumten letzten Begegnung von Papst Benedikt mit dem Kardinalskollegium nicht fernbleiben. Obwohl er äußerst ungern reist, hat Bergoglio die argentinische Hauptstadt am Dienstag, dem 26. Februar, verlassen.
Wie immer hat er den Flug gebucht, der Buenos Aires um die Mittagszeit verlässt und am kommenden Morgen in Rom eintrifft, wie immer reist er in schlichtem Schwarz, wie immer mit wenig Gepäck, wie immer lässt er seine schwarze Aktentasche mit Brevier, Kalender und Rasierapparat nicht aus den Augen. Ebenfalls wie immer sitzt er in Reihe 25 der Economy-Klasse, wie immer vor einem der Notausgänge, wie immer am Gang. Ein Platz, wie er unter Vielfliegern beliebt ist, weil er mehr Beinfreiheit gewährt – bei einem Transatlantikflug von etwa 14 Stunden Dauer keine geringe Erleichterung für einen 76 Jahre alten Mann, der mit Rückenbeschwerden zu kämpfen hat und orthopädische Schuhe tragen muss.
Und wie immer wird er bald wieder nach Buenos Aires zurückkehren, in jene Stadt, in der er groß geworden war und außerhalb derer er nichts bewirken könne, wie er vor Jahren seinem Förderer Kardinal Antonio Quarracino anvertraut hatte. Kardinal Bergoglio lässt es jeden wissen, der ihn in den Tagen vor der Abreise nach Rom auf die Möglichkeit anspricht, dass die Wahl des Kardinalskollegiums diesmal auf ihn fallen könne. Wenige sind es nicht, die diese Möglichkeit erwägen. Evangelina Himitian[4], Paul Vallely[5] und Elisabetta Piqué[6], die im Jahr 2013 detailreiche Lebensbilder von Papst Franziskus vorgelegt haben, wissen von vielen Augen- und Ohrenzeugen jener Tage zu berichten. Ihnen allen sagt Bergoglio, dass er spätestens zu Beginn der Karwoche zurück sein wolle. Die Predigt für die Chrisam-Messe ist schon geschrieben und soll umgehend in Druck gehen.[7]
Warum sollte er nicht zurückkehren? Auch nach dem letzten Konklave in jenen denkwürdigen Apriltagen des Jahres 2005 ist er schließlich nicht als Papst in Rom geblieben. Damals war er acht Jahre jünger gewesen als jetzt und dennoch nicht gewählt worden.
Damals war der Name Bergoglio kurz aufgeblitzt. Er soll der «Gegenkandidat» von Joseph Kardinal Ratzinger gewesen sein. Wer? Warum? Der Jesuit aus Argentinien verschwindet aus dem Fokus der internationalen Öffentlichkeit so schnell, wie er aufgetaucht ist. Der Kelch des Papstamtes ist an ihm vorübergegangen und sollte wohl nie wieder zum Greifen nahe sein. Oder sollte es doch zutreffen, was manch ein Jesuit für gut verbürgt hält: Dass Bergoglio nicht lange nach dem Konklave des Jahres 2005 beginnt, mit Hilfe einer Lehrerin seine Italienischkenntnisse zu verbessern?
Haut ab, alle
Wenn es wirklich so gewesen sein sollte, dann lässt...