PAPST UND TEUFEL?
«Wenn es sich darum handeln würde, auch nur eine einzige Seele zu retten, einen größeren Schaden von den Seelen abzuwenden, so würden Wir den Mut aufbringen, sogar mit dem Teufel in Person zu verhandeln.»[1] Pius XI., von dem diese Aussage stammt, hat während seiner Amtszeit als Papst in den Jahren von 1922 bis 1939 in der Tat mehrfach den Mut gehabt, mit Personen zu verhandeln, die oftmals für Inkarnationen des Bösen gehalten wurden: Benito Mussolini, Adolf Hitler und Josef Stalin. Dabei ging es dem «Stellvertreter Jesu Christi auf Erden» stets primär um das Seelenheil der Gläubigen und um Garantien für eine ungehinderte Seelsorge der katholischen Kirche. Für die Sicherung des ewigen Lebens der ihm anvertrauten «Schäfchen» war der oberste Hirte der Kirche auf dem Feld der irdischen Existenz sogar bereit, dem Teufel in Gestalt totalitärer Ideologien und ihrer Anführer diplomatisch bis an die Grenzen des Möglichen entgegenzukommen. Im Austausch für die Gewährung geistlicher Freiheit sollte die Kirche zur Not auf alle weltlichen Aktivitäten verzichten und sich aus Politik und Öffentlichkeit im wahrsten Sinn des Wortes in die Sakristeien zurückziehen.
Rom und die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts
Pius XI. hielt diese Rede am 16. Mai 1929. Auf den ersten Blick scheinen sich seine Worte ausschließlich auf die ein Vierteljahr zuvor, am 11. Februar 1929, zwischen dem faschistischen Italien und dem Heiligen Stuhl abgeschlossenen Lateranverträge zu beziehen. Dieses Abkommen hatte nach über einem halben Jahrhundert heftiger Konflikte zwischen dem Königreich Italien und dem Heiligen Stuhl endlich eine Lösung der «Römischen Frage» gebracht. Seit der Besetzung des Kirchenstaates und der Stadt Rom durch italienische Truppen im Jahr 1870 im Zuge des Risorgimento, der Entstehung des italienischen Nationalstaats, hatten sich die Päpste als Gefangene im Vatikan gesehen. Der traditionelle päpstliche Segen «Urbi et Orbi», für die Stadt Rom und den ganzen Erdkreis, wurde an den kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten und Ostern nicht mehr von der äußeren Loggia der Peterskirche gespendet, sondern nur noch von der inneren Loggia in die Basilika hinein, damit die italienischen «Räuber des Kirchenstaates» davon nur ja nichts abbekämen. Für die maßgeblichen Vertreter der Römischen Kurie und den Papst selbst war es schlicht undenkbar, sich den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden, das Oberhaupt von Abermillionen katholischen Gläubigen weltweit, als Untertan des italienischen Königs und gewöhnlichen Bürger Italiens vorzustellen. Zur Ausübung seines universalen geistlichen Amtes brauchte der Papst ihrer Ansicht nach die Souveränität eines eigenen Staates, der ihm völlige Unabhängigkeit von weltlichen Mächten gewährte. Umgekehrt konnte das neue Königreich Italien im Interesse seiner gerade gewonnenen nationalen Einheit auf gar keinen Fall Teile des Kirchenstaates und schon gar nicht die Hauptstadt Rom dem Papst zurückgeben. Staat und Kirche blockierten sich so jahrzehntelang gegenseitig. Während des Ersten Weltkriegs gab es sogar Überlegungen, den Heiligen Stuhl von Rom nach Liechtenstein oder Mallorca zu verlegen. Was mit parlamentarisch gestützten Regierungen Italiens stets gescheitert war, die Conciliazione, die Verständigung zwischen der Römischen Kurie und dem italienischen Nationalstaat, kam zwischen dem totalitären Regime Mussolinis und Pius XI. 1929 schließlich zustande: Faschismus und Katholizismus einigten sich. In den Lateranverträgen, die aus einem Staatsvertrag, einem Konkordat und einem Finanzabkommen bestanden, wurden der souveräne Staat der Vatikanstadt errichtet und damit für den Papst zumindest ein kleiner Kirchenstaat geschaffen sowie als Gegenleistung für eine Entpolitisierung von Klerus und Kirche die katholischen Glaubens- und Moralprinzipien staatskirchenrechtlich in Italien besonders geschützt. Gleichzeitig schaffte der Papst den Faschisten die ungeliebte politische Konkurrenz katholischer Provenienz, die Volkspartei, vom Hals. Die Verhandlungen und der Abschluß der Lateranverträge mit dem Italien Mussolinis können durchaus auch als Pakt des Papstes mit «dem Bösen» im Interesse der Seelsorge interpretiert werden.
Auch wenn Pius XI. in seiner Ansprache im Rahmen einer Privataudienz für katholische Professoren und Studenten den italienischen Bezug seiner Äußerungen akzentuierte, ergibt sich aus dem Kontext klar und deutlich, daß der Pontifex maximus seine Aussagen nicht nur anlaßbezogen beziehungsweise auf die italienische Situation fixiert, sondern in viel grundsätzlicherer Weise verstanden wissen wollte. Es ging ihm nicht nur um die gerade abgeschlossenen Verhandlungen mit Mussolini und den italienischen Faschismus. Pius XI. nutzte die Audienz vielmehr, um am Beispiel des Themas Bildung und Erziehung Rolle und Funktion der Kirche angesichts der Herausforderungen der modernen Welt in prinzipieller Weise zu umreißen. Dabei sahen sich Papst und Kurie seit dem 19. Jahrhundert mit den zunehmenden Versuchen der Staaten konfrontiert, den Einfluß der Kirche in zentralen Bereichen wie der Erziehung der Kinder und Jugendlichen zurückzudrängen oder sogar ganz auszuschalten. Der Papst betrachtete die kirchliche Erziehung als einen unabänderlichen ewigen göttlichen Auftrag an die Kirche zur Rettung der Seelen der jungen Menschen. Die katholische Kirche als «Mater et Magistra», als Mutter und Lehrerin, hatte für ihn nicht nur das unaufgebbare Recht, sondern auch die heilige Pflicht, den Eltern, denen das Erziehungsrecht im Schoß der Kirche nach göttlichem Recht unverrückbar zukam, ihre Hilfe in diesem Bereich angedeihen zu lassen, weil die einzelnen Familien ansonsten überfordert wären. Der Staat indes dürfe sich dieses Recht der Erziehung in gar keinem Fall anmaßen, das wäre «absurd» und «gegen die Natur» – so der Papst. In der vollständigen Kontrolle von Erziehung und Bildung der jungen Generation, die von zahlreichen Staaten, gleich welcher Weltanschauung sie auch folgten, angestrebt wurde, sah Pius XI. eine Hauptgefahr nicht nur für das zeitliche Wohl, sondern auch für das ewige Heil der Kinder und Jugendlichen. Hier war die Kirche gefordert, hier standen ewige Werte auf dem Spiel, hier ging es um Sein oder Nichtsein, hier mußte man notfalls sogar mit dem Teufel in Person verhandeln. Der Papst unterstrich in seiner Ansprache, daß er in dieser Weise schon mehrfach mit den Staaten verhandelt habe und bis an die Grenzen des für die Kirche Möglichen gegangen sei, «wenn davon das Schicksal unserer geliebten Katholiken abhing». Aber wenn es um die naturrechtlichen Prinzipien und das göttliche Recht selbst ging, mußte die Kirche nach Ansicht Pius’ XI. unnachgiebig bleiben, weil diese «unanfechtbar, unabdingbar, unwiderstehbar» seien, also schlicht nicht zur Disposition der Menschen – auch nicht der Kirche – stünden.
Der moderne Staat, gleichgültig auf welcher weltanschaulichen Grundlage er basierte, versuchte nach Ansicht von Papst und Kurie einen umfassenden beziehungsweise totalen Anspruch auf seine Bürger durchzusetzen, der mit dem nicht minder totalen Anspruch der katholischen Kirche auf ihre Gläubigen in Konflikt geraten mußte. Die katholische Weltanschauung sah sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker mit totalitären Ideologien konfrontiert, die als politische Religionen das Christentum und seinen absoluten Wahrheitsanspruch bis aufs Messer bekämpften. Ideologien traten mit einem ebensolchen Anspruch und dem Ziel einer totalen Vereinnahmung von Staat, Gesellschaft und Individuen auf. Sie vergötterten sich selbst in Pervertierung des biblischen Gebots «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben». Daß die katholische Kirche mit ihrem dem Selbstverständnis nach in Gott selbst gründenden Wahrheitsanspruch und der Papst als Repräsentant Jesu Christi angesichts dieser vielfältigen, nicht minder umfassenden Heilsangebote und alternativen politischen Religionen herausgefordert waren, liegt auf der Hand. «Der Begriff des Totalitarismus» – so hieß es in einem internen Papier des Päpstlichen Staatssekretariates vom Herbst 1933 – «darf aber keinesfalls dazu mißbraucht werden, um politische und weltliche Ziele zu erreichen. Die Kirche selbst strebt nach Totalität, um den ganzen Menschen und die ganze Menschheit für Gott zu verlangen.»[2]
Wenn im folgenden von «Totalitarismus» und «Totalitarismen» gesprochen wird, dann geschieht dies eher aus pragmatischen Gründen; eine Anlehnung an eine bestimmte Theorie ist damit nicht verbunden. Die Verwendung des Totalitarismusbegriffs könnte in der Tat dazu führen, die Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher politischer Systeme wie des Kommunismus und des Faschismus zu stark zu betonen. Hier geht es nur darum, den umfassenden Anspruch, den unterschiedliche politische Ideologien und religiöse Glaubensgemeinschaften erhoben haben, im wahrsten Sinn des Wortes auf einen Begriff zu bringen. Im kurialen Sprachgebrauch der dreißiger Jahre scheinen die Begriffe «total» und...