1.2 Wie eignen sich Kinder die Welt an? Selbstbildungsprozesse brauchen Beteiligung
Was bedeutet Bildung bei Kindern?
Wenn die Eltern in einer Kindertagesstätte gefragt werden, welche Wünsche sie für ihr Kind haben, steht der Wunsch nach einer guten Bildung häufig ganz weit oben. Mit „guter“ Bildung ist dann meist gemeint, einen möglichst hoch qualifizierten Schulabschluss zu erreichen.
Dabei wird der Begriff Bildung häufig im Sinne von Wissensvermittlung oder Aneignung von Wissen benutzt. Diese Sichtweise unterstellt, dass einem Kind Wissen und Bildung „beigebracht“ werden können. Die meisten Forschungsergebnisse gehen jedoch inzwischen davon aus, dass niemand unmittelbar bewirken kann, dass ein anderer etwas lernt oder sich bildet. Bildung ist eine Leistung der Kinder, die „das, was um sie herum geschieht, aufnehmen und zu einem inneren Bild ihrer Wirklichkeit verarbeiten“ (Schäfer 2003, S. 14). Kinder versuchen, die Welt um sich herum zu verstehen, und das nicht in erster Linie durch die Erklärungen oder Vermittlung von Erwachsenen, sondern durch eigenes Ausprobieren und „Tun“. Sie wollen eigene Hypothesen aufstellen und die Richtigkeit selbst überprüfen. Jedes Kind bildet sich also selbst.
Bildung kommt nicht von außen
Dies bedeutet für die pädagogische Arbeit in der Kindertagesstätte, dass Bildungsprozesse von Fachkräften nur angeregt, unterstützt und begleitet werden können. Wenn ein Kind hingegen kein Interesse am Thema oder am Prozess hat, laufen alle unsere Bemühungen ins Leere (vgl. Schäfer 2003, S. 16).
Diese Selbstbildungsprozesse brauchen einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Kinder, sie müssen dort anknüpfen, wo die Kinder gerade stehen, an ihren Interessen und an ihrer Motivation. Dazu ist die Beteiligung der Kinder notwendig. Beteiligung in der Kindertagesstätte ermöglicht, dass Kinder ihre Themen, Interessen und Anliegen einbringen, und gewährleistet damit, dass Bildungsthemen und -prozesse auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und ihre Lebenswirklichkeit zugeschnitten sind.
Veränderte Lebenswirklichkeiten bedingen neue Bildungsanforderungen
Neben der Frage, wie Kinder sich bilden, spielt auch der Aspekt der Bildungsinhalte eine große Rolle. Welche Kompetenzen und Fähigkeiten brauchen Kinder in der Welt von morgen? Welche Kompetenzen sollte die pädagogische Arbeit in der Kindertagestätte unterstützen und fördern? Die gesellschaftlichen Bedingungen verändern sich heute sehr schnell. Sie sind unendlich komplex geworden und damit für den Einzelnen nur noch schwer überschaubar. Während viele von uns Erwachsenen noch mit einer geringen Anzahl von Fernsehprogrammen und dem Sendeschluss um Mitternacht groß geworden sind, scheint dies für die heutige Kindergeneration kaum noch vorstellbar. Internet, MP3 oder Handy sind für die meisten alltäglich geworden. Auch die Produktionsbedingungen und der Arbeitsmarkt sind in unserer Gesellschaft massiven Veränderungen unterworfen. Nur noch wenige Berufe kommen ohne ständig fortschreitende technische Neuerungen aus. Neben diesen beruflichen Aspekten haben sich auch das Zusammenleben in der Familie und die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung deutlich verändert.
Insgesamt sind also heute sehr viel mehr unterschiedliche und individuellere Lebensentwürfe möglich als noch vor einigen Jahrzehnten. Diese Veränderungen haben natürlich auch immer Einfluss auf unser gesellschaftliches Leben und damit auf Bildungsthemen und Aneignungsmöglichkeiten. Eine Folge der Entwicklung ist, dass immer größere Flexibilität von jedem Einzelnen erwartet wird. Ohne Fort- und Weiterbildung ist beispielsweise berufliches Überleben kaum noch möglich (vgl. Sturzbecher/Großmann 2003, S. 39 ff.).
Zu Schlüsselkompetenzen in der modernen Welt werden deshalb:
die Fähigkeit, sich immer wieder neue Inhalte selbsttätig anzueignen (lebenslange Lernprozesse),
Problem- und Konfliktlösekompetenzen,
Kommunikationsfähigkeiten,
Verantwortungsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft sowie
die Fähigkeit, Informationen auszuwählen und zu entscheiden.
Kinder brauchen Angebote zur Selbstbildung
Da niemand vorhersagen kann, welches Wissen im späteren Leben eines Kindes notwendig sein wird, geht es auch in der Kita-Pädagogik nicht mehr in erster Linie darum, eine Bandbreite von „speziellem Wissen“ zu vermitteln, sondern darum, Kindern die Chance zu geben, unterschiedliche methodische, personale und soziale Kompetenzen zur Wissensaneignung auszubilden. Konkret rückt damit das Produkt (also z. B. das Wissen: Ich kann schon bis zehn zählen!), in den Hintergrund und dem Prozess der Aneignung kommt eine entscheidende Rolle zu.
•• PRAXISTIPP FÜR ERZIEHER/INNEN
Es lohnt sich bei der Beobachtung eines Kindes das Augenmerk weniger auf das Ergebnis seiner Aktivität zu richten als auf folgende Fragestellungen: Wie engagiert ist das Kind? Wie kommt es zu Informationen? Welche Wege geht es, um sich neue Inhalte anzueignen? Wie kooperiert es dabei mit anderen? Überträgt das Kind das Gelernte auf andere Bereiche? Traut es sich auch neue Herausforderungen zu?
Partizipationsprozesse fördern die sozialen Fähigkeiten von Kindern
Um vielfältige lernmethodische Kompetenzen zu entwickeln, braucht jedes Kind Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten, die Überzeugung, etwas bewirken zu können, und Kooperationsfähigkeit. In Partizipationsprozessen bekommen die Kinder die Möglichkeit, diese personalen und sozialen Fähigkeiten weiter zu entwickeln (vgl. Sturzenhecker/Knauer/Richter/Rehmann 2010). Sie erhalten die Chance, ihre eigene Meinung zu äußern und zu vertreten. Ihre Äußerungen werden wahrgenommen und zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen gemacht. Sie erleben, wie wichtig ihr persönlicher Beitrag für die Gruppe ist, und entwickeln damit die Überzeugung, etwas in der Kita bewirken zu können. Dabei eignen sie sich nicht nur...