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Partizipation im Wandel

Unsere Demokratie zwischen Wählen, Mitmachen und Entscheiden

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl518 Seiten
ISBN9783867936248
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Politische Partizipation ist ein zentrales Wesensmerkmal von Demokratien. Neben den traditionellen Partizipationsformen wie der Stimmabgabe bei Wahlen haben neuere Formen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Bürger nehmen heute ebenso durch dialogorientierte und direktdemokratische Verfahren, wie Bürgerforen oder Bürgerentscheide, direkten Einfluss auf politische Debatten und Entscheidungen. Unsere Demokratie ist damit vielfältiger geworden. Doch welche Rollen spielen dialogorientierte und direktdemokratische Verfahren im politischen Alltag genau? Wie passen sie zu den traditionellen Partizipationsformen und wie werden sie von Bürgern und politischen Eliten bewertet? Welche Wirkung haben sie auf unser politisches System? Gemeinsam mit der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg ist die Bertelsmann Stiftung diesen zentralen Fragen nachgegangen. Die Ergebnisse stützen sich auf empirische Daten aus 27 deutschen Kommunen sowie Expertengutachten zu den Bundesländern und ausgewählten internationalen Fallstudien.

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Leseprobe

Politisches Engagement in deutschen Kommunen: Strukturen und Wirkungen auf die politischen Einstellungen von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung


Oscar W. Gabriel, Norbert Kersting

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich in Deutschland und anderen Demokratien ein grundlegender Wandel des sozialen und politischen Engagements der Bevölkerung vollzogen (ausführlich: Gabriel 2011; Kaase 1982; Steinbrecher 2009; Kersting 2008; van Deth 2009). In den beiden ersten Nachkriegsdekaden war ein deutlicher Anstieg der Wahlbeteiligung und der partei- und wahlbezogenen Formen politischer Beteiligung zu verzeichnen. Im Anschluss an die Studentenunruhen breiteten sich sogenannte unkonventionelle Formen politischer Aktivität wie Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Platzbesetzungen und Verkehrsblockaden als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele aus. Als Folgewirkung dieser zweiten Phase der partizipatorischen Revolution wurden Rufe nach einer erweiterten Beteiligung der Bürgerschaft an politischen Planungen und Sachentscheidungen laut. Diese führten bereits in den 1970er-Jahren zu ersten Änderungen des Planungsrechts und der Gemeindeordnungen.

Eine enorme Schubwirkung in Richtung auf einen Ausbau der gesellschaftlichen Beteiligungsrechte löste die Wiedervereinigung Deutschlands aus. In deren Gefolge verankerten alle Bundesländer direktdemokratische Formen der Beteiligung in ihren Landesverfassungen und Gemeindeordnungen bzw. erleichterten die Nutzung dieser Einflussmöglichkeiten (Kersting 2004; Eder und Magin 2008; Magin und Eder 2007; Meerkamp 2011). Gegenwärtig existiert in den Ländern und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland ein breites Spektrum verfasster und nicht verfasster Beteiligungsmöglichkeiten. Dagegen vollzieht sich die Bürgerbeteiligung an der Bundespolitik nach wie vor im Rahmen repräsentativ-demokratischer Strukturen und Prozesse. Zudem wurden zahlreiche Spielarten von Bürgerdialogen entwickelt, mittels derer eine bessere Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Vorbereitung von Entscheidungen angestrebt wurde (vgl. Bertelsmann Stiftung 2010; Kersting 2008; Renn 2013; Smith 2009).

Innerhalb der Bürgerbeteiligung lassen sich somit zwei Typen unterscheiden. Zum einen handelt es sich um die Beteiligung an der Implementierung politischer Entscheidungen, oft auch als Selbsthilfe und zum Teil als bürgerschaftliches Engagement tituliert. Als zweiter politischer Beteiligungstypus, der im Forschungsprojekt im Vordergrund steht, wird die eigentliche politische Partizipation gesehen. Hierbei handelt es sich ausschließlich um eine Beteiligung am Entscheidungsfindungsprozess. Politische Beteiligung wird hier somit eng definiert und nur als »politische« Partizipation an Entscheidungsfindungsprozessen analysiert. Politische Partizipation umfasst demnach »alle Tätigkeiten (…), die Bürger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedensten Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen« (Kaase 1995: 521). Damit grenzt sie sich von der gemeinwohlorientierten Selbsthilfe als Beteiligung an der Politikimplementierung ab. Beide sind wichtige, teils voneinander abhängige Formen von Bürgerbeteiligung. Erstere sind im Bereich der sozialen Innovation angesiedelt, letztere – hier untersuchte Instrumente – sind im Bereich demokratischer Innovation verortet. Des Weiteren lässt sich Offline- und Online-Beteiligung unterscheiden (Kersting 2012). Elektronische Demokratie soll im Spannungsfeld zwischen repräsentativer, direkter und deliberativer Demokratie künftig eine besondere Rolle spielen (Kersting 2004; 2014).

Wie die empirische Forschung belegt, war die Ausdifferenzierung des Beteiligungssystems mit einer verstärkten Nutzung nicht verfasster, direktdemokratischer und dialogorientierter Partizipationsformen verbunden. Dagegen werden die für die repräsentative Demokratie typischen Formen der Einflussnahme, insbesondere die Wahlbeteiligung, die Mitgliedschaft in politischen Parteien und großen Interessenverbänden, weniger genutzt als in den 1960er- und 1970er-Jahren (ausführlich: Gabriel 2011; Gabriel und Völkl 2005). Viele Beobachter interpretieren diese Veränderung der Beteiligungsstrukturen als Ausdruck einer Krise der aktuellen Form der Politikgestaltung in repräsentativen Demokratien und leiten daraus die Forderung nach einer Ausweitung der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerschaft an der Gestaltung der Politik ab. Besondere Hoffnungen richten sich dabei auf den möglichen Beitrag direktdemokratischer und dialogorientierter Beteiligungsformen. Diesen ist die Funktion zugedacht, die für repräsentative Demokratien typischen Formen der Politikgestaltung zu ergänzen oder gar zu ersetzen (Cain, Dalton und Scarrow 2008; Kersting 2008; Geißel und Newton 2012; Smith 2009).

Die Ursachen des Wandels der Beteiligungsstrukturen sind relativ gut erforscht. Der Anstieg des Bildungsniveaus der Bevölkerung, die Ausbreitung von Selbstverwirklichungswerten und die kognitive Mobilisierung der Bevölkerung bilden nach den vorliegenden Erkenntnissen der empirischen Forschung die wichtigsten Antriebskräfte des gewachsenen politischen und sozialen Engagements. Dagegen existieren keine überzeugenden empirischen Belege für die populäre These, bei der Veränderung des politischen Verhaltens der Bürgerinnen und Bürger demokratischer Staaten handele es sich um die Folge einer gewachsenen Politikverdrossenheit (vgl. u. a. Barnes und Kaase 1979; van Deth, Montero und Westholm 2007; Norris 2002; Zukin et al. 2007).

Über die Folgen der veränderten Beteiligungspraxis für das Verhältnis der Bevölkerung zum politischen System, für den Ablauf der politischen Prozesse und für das Funktionieren der politischen Institutionen ist jedoch nur wenig bekannt (Ausnahmen z. B. Gabriel 2000; Quintelier und van Deth 2014; Theiss-Morse und Hibbing 2005; van Deth 2013c; Verba und Nie 1972: 265 ff. für politische Partizipation im Allgemeinen; Gastil et al. 2010; Grönlund, Setäla und Herne 2010 für deliberative Beteiligungsformen; Bowler und Glazer 2008; Drewitz 2012; Smith und Tolbert 2004 für direktdemokratische Beteiligungsformen). Dementsprechend sind die Forderungen nach einer Erweiterung und qualitativen Verbesserung der politischen Beteiligungsmöglichkeiten – ebenso wie die Vorbehalte gegen derartige Reformen – überwiegend normativ begründet. Auf empirische Erkenntnisse über die Auswirkungen solcher Änderungen der politischen Institutionen und Prozesse auf die Qualität der Demokratie können sie sich kaum stützen.

Die Diskussion über die möglichen Wirkungen eines Ausbaus politischer Beteiligung bildet den Ausgangspunkt der hier vorgelegten Untersuchung. Sie beschäftigt sich mit dem Beitrag der Beteiligung an direktdemokratischen, dialogorientierten und für die repräsentative Demokratie typischen Partizipationsformen für das Verhältnis der Bürger zur Politik. Im Unterschied zu den meisten vorliegenden Studien beschränkt sich diese Untersuchung allerdings nicht auf die Bestandsaufnahme der Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürgerschaft, sondern bezieht die Wahrnehmungen und Bewertungen politischer Entscheidungsträger in die Betrachtung ein. Dies ist vor allem deshalb erforderlich, weil die Art und das Ausmaß bürgerschaftlicher Aktivität vermutlich nicht allein von den Ressourcen, Motiven und der sozialen Integration der Bürgerinnen und Bürger abhängen, sondern beteiligungsfreundliche Einstellungen und Verhaltensweisen der politischen Führungsgruppen ebenfalls eine maßgebliche Rolle dafür spielen dürften, wie sich bürgerschaftliches Engagement vollzieht (vgl. Verba, Schlozman und Brady 1995).

Die Analyse der möglichen Wirkungen des politischen Engagements auf die Einstellungen der Bürgerschaft bringt eine veränderte Perspektive in die Partizipationsforschung ein (vgl. hierzu auch: Quintelier und van Deth 2014). Die meisten empirischen Studien gehen der Frage nach, welche Faktoren für bürgerschaftliches Engagement ausschlaggebend sind. Die hierzu vorliegenden Erkenntnisse belegen eindeutig, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in modernen Gesellschaften ein gleichartiges und gleich hohes soziales und politisches Engagement aufweisen. Vielmehr beteiligen sich die ressourcenstarken, politisch interessierten und sozial gut integrierten gesellschaftlichen Gruppen überdurchschnittlich stark an politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Die bisher erfolgte Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten hat den bereits aktiven Teilen der Bürgerschaft zusätzliche Einflussmöglichkeiten auf die Politik gegeben. Dies ist ein wichtiges Anliegen in der Demokratie. Auf der anderen Seite birgt die ungleiche Wahrnehmung von Beteiligungschancen das Risiko, dass die Bedürfnisse der inaktiven Gruppierungen von den politischen Führungsgruppen nicht hinreichend erkannt und bei ihren Entscheidungen berücksichtigt werden. Im Hinblick auf die Bedeutsamkeit des Ziels politischer Gleichheit in der Demokratie darf bei einer Ausweitung der Beteiligungsangebote nicht vergessen werden, nach Möglichkeiten zu suchen, um die bisher weniger aktiven gesellschaftlichen Gruppen stärker in das...

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