Unzureichende Bildung geht uns alle an
In Deutschland kann jeder fünfte Jugendliche nur auf dem Niveau der Grundschule lesen und rechnen. Mehr als 50.000 Jugendliche verlassen jährlich die Schule ohne einen Hauptschulabschluss und viel zu vielen jungen Erwachsenen gelingt es nicht, einen Ausbildungsabschluss zu erwerben. Unter den 25- bis 34-Jährigen gilt das für 1,5 Millionen Menschen – eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt bleibt ihnen vielfach verwehrt. Diese wenigen Zahlen machen deutlich, dass wir in unserer Wissensgesellschaft zu viele Jugendliche als Bildungsverlierer zurücklassen. Dabei ist das Problem fehlender Bildungschancen nicht nur ein individuelles Problem dieser Jugendlichen, sondern es geht uns alle an. Jeder dieser jungen Menschen verdient eine Chance, aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes ist von den Folgen fehlender Bildungschancen bedroht und trägt an den Lasten.
Wie groß diese gesamtgesellschaftlichen Lasten aufgrund schlechter Bildung sind, haben wir in dem Projekt »Folgekosten unzureichender Bildung« der Bertelsmann Stiftung beziffert. Als Vorbild diente dabei das Buch »The Price We Pay« von Henry M. Levin und Clive R. Belfield, denen wir für ihre Anregungen und den konzeptionellen Gedankenaustausch im Vorfeld unseres Projektes sehr danken. Beiden Autoren ist es gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern gelungen, für den US-amerikanischen Raum die ökonomischen und sozialen Konsequenzen unzureichender Bildung aufzuzeigen und zu berechnen. Ein solches Vorgehen erschien uns aus mehreren Gründen auch für die deutsche Diskussion sinnvoll und Erfolg versprechend.
Erstens wird der Politik und Öffentlichkeit durch eine wissenschaftlich fundierte Berechnung von Folgekosten deutlich vor Augen geführt, dass unsere derzeitige Bildungspolitik fatale Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Der bestehende Handlungsdruck für bildungspolitische Reformen wird auf diese Weise plastisch. Zweitens kann bei allen gesellschaftlichen Schichten das Bewusstsein dafür geweckt werden, dass faire Bildungschancen in unser aller Interesse sind, auch und gerade im Hinblick auf die heutigen Bildungsverlierer. Die wachsende Heterogenität in unserer Gesellschaft ist Realität; unser Bildungssystem muss den schwächsten ebenso wie den stärksten Kindern bestmögliche Bildungschancen eröffnen. Drittens zeigt eine solche (bildungs-)ökonomische Betrachtung in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unmittelbar, dass sich mehr und wirksame Investitionen in Bildung auszahlen – vor allem langfristig. Dies gilt für die unterschiedlichen Politikressorts gleichermaßen: Auch die Entscheidungsträger aus den Ressorts Justiz, Arbeit und Soziales, Wirtschaft sowie Finanzen profitieren, wenn unzureichende Bildung drastisch reduziert werden kann.
Mit den verschiedenen Folgekostenstudien aus dem Projekt ist es gelungen, das Ausmaß unzureichender Bildung in unserer Gesellschaft aufzuzeigen und nachzuweisen, dass Sparen in der Bildung teuer ist. Sie sind auf sehr breites öffentliches Interesse gestoßen und werden von Politik, Verbänden und Medien vielfach genutzt. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, sie in Form eines Buches im Überblick zusammenzustellen. So können wir in einer Gesamtschau zeigen, wie teuer unser Bildungssystem werden kann, wenn wir weiterhin zu viele Kinder zurücklassen. Das Buch bietet auch die Möglichkeit, über die ökonomischen Berechnungen hinaus den Mehrwert von Bildung zu skizzieren, der nicht in Geldwerten auszudrücken ist. Zugleich können wir Lösungsansätze und Reformwege aufzeigen. Denn das erklärte gesamtgesellschaftliche Ziel muss es sein, kein Kind auf dem Weg durch unsere Bildungssysteme zu verlieren.
Die Berechnung von Folgekosten unzureichender Bildung – eine interdisziplinäre Herausforderung
Beim Start des Projektes zeigten sich schnell verschiedenste Herausforderungen: Über die unterschiedlichen Disziplinen (Ökonomie, Sozialepidemiologie, Kriminologie und Soziologie) hinweg wurde kaum eine gemeinsame Sprache gesprochen, zudem lagen das methodische Vorgehen und die Fragestellungen aus den einzelnen Fachgebieten teils weit auseinander. Auch eine einheitliche Definition unzureichender Bildung ist schwierig, da je nach Blickwinkel sowohl Kompetenzen als auch Bildungsabschlüsse ein sinnvoller Maßstab sein können. Schließlich zeigte sich, dass in einigen Bereichen keine ausreichende Datengrundlage für Kostenberechnungen besteht. Als besondere Herausforderung für eine seriöse Folgekostenberechnung erwies sich darüber hinaus, auf einen wissenschaftlich verifizierten kausalen Zusammenhang zwischen mangelnder Bildung und den entsprechenden Konsequenzen schließen zu können.
Angesichts dieser Ausgangslage haben wir in den Themenfeldern Gesundheit und bürgerschaftliches Engagement von einer Kostenberechnung Abstand genommen. In diesen Bereichen liegen die benötigten Daten nicht vor und es besteht noch dringend weiterer Forschungsbedarf – Näheres dazu findet sich in den beiden Beiträgen im dritten Teil dieses Buches. In den drei anderen Feldern ist es uns aber trotz der oben skizzierten Herausforderungen gelungen, gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Folgekosten unzureichender Bildung zu berechnen. Mit der Kalkulation von Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum wird dabei eine langfristige Makroperspektive abgedeckt. Im Unterschied dazu liegen mit den Studien im Bereich Kriminalität und öffentliche Haushalte zwei exemplarische Tiefenbohrungen auf der Mikroebene vor. Die Ergebnisse der Studien finden sich in den entsprechenden Beiträgen im zweiten Teil dieses Buches.
Die hier aufgeführten Berechnungen basieren jeweils auf einem Vergleich der Ist-Situation mit einer simulierten Situation, in der durch eine hypothetische Bildungsreform die unzureichende Bildung deutlich reduziert wurde. Damit liegen den Kostenschätzungen selbstverständlich Annahmen zugrunde, die kritisch hinterfragt werden können. Zudem wagen die Studien einen Blick in eine ungewisse Zukunft. Aber ohne ein solches Vorgehen wäre es überhaupt nicht möglich, die gesellschaftlichen Konsequenzen unzureichender Bildung aufzuzeigen. Wir haben uns daher gemeinsam mit den jeweiligen Fachleuten entschieden, vorsichtige, konservative Kalkulationen vorzunehmen und die jeweilige Methodik anschaulich darzulegen. Darüber hinaus basieren alle Studien auf international anerkannten wissenschaftlichen Methoden und dem aktuellen Stand der Forschung.
Unser Dank gilt an dieser Stelle daher allen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie den Instituten, die uns bei unserem umfassenden und innovativen Projekt unterstützt haben. Damit konnten wir gemeinsam valide und seriöse Folgekostenberechnungen in die öffentliche Debatte einbringen.
Unzureichende Bildung führt zu enormen Belastungen für die Gesellschaft
Die Folgekosten unzureichender Bildung für die Gesellschaft sind enorm. Erstmals liegen jetzt Zahlen vor, die untermauern, wie wichtig faire Bildungschancen für unsere Gesellschaft sind. Sicher sind auch Spitzenforschung und eine gute Hochschulausbildung für das Entwicklungspotenzial eines Landes immens wichtig; für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft ist es aber von besonderer Bedeutung, allen Kindern den Zugang zu Bildung zu eröffnen und damit Perspektiven für das weitere Leben zu schaffen. Wir dürfen nicht weiter dabei zusehen, wie zu viele Kinder und Jugendliche in unserem Bildungssystem scheitern. Unseren Studien zufolge bringt das enorme Kosten für uns alle mit sich – ganz abgesehen von darüber hinaus zu erwartenden negativen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politische Stabilität.
Jahr für Jahr entstehen durch kriminelles Verhalten und durch Transferausgaben sowie entgangene Steuern und Sozialabgaben erhebliche finanzielle Belastungen für alle Bürgerinnen und Bürger. Das zeigen die Berechnungen der Folgekosten auf der Mikroebene. Wirksame Investitionen in Bildung haben damit bereits kurzfristig positive finanzielle Auswirkungen für die Gesellschaft. Von den Erträgen eines chancengerechten Bildungssystems werden aber vor allem unsere Kinder und Enkel profitieren. Das belegt die Berechnung der Folgekosten fehlender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Über einen Betrachtungszeitraum von 80 Jahren – der durchschnittlichen Lebenserwartung eines heute geborenen Kindes – summieren sie sich auf einen Betrag, der größer ist als das gesamte heutige Bruttoinlandsprodukt Deutschlands. Bildungspolitisches Handeln erfordert demnach Weitsicht – ähnlich wie in der Klimapolitik –, hat dann aber umso beeindruckendere positive Effekte auf die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.
Unzureichende Bildung reduzieren – Reformen sind machbar
Die Folgekostenstudien beantworten noch nicht die Frage, welche Schritte heute in die Wege geleitet werden können, um die unzureichende Bildung in Deutschland deutlich zu reduzieren. Mein Buch »Dichter, Denker, Schulversager« skizziert...