1 Wenn Religiosität krank macht:
Fakten und Folgen
Michael Utsch
1.1 Religiosität zwischen Gottesvergiftung und Glaubensmedizin
Die Wirkungen religiöser Überzeugungen werden aus psychologischer Sicht bis heute kontrovers eingeschätzt. Weil Psychiater und Psychotherapeuten tendenziell stärker a-religiös eingestellt sind als Angehörige anderer Professionen, haben sie diesen Bereich bisher eher vermieden (Kaiser, 2007). So gehen viele dieser Berufsgruppe nach wie vor von einer „Gottesvergiftung“ aus, wie sie der bekannte Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser (1976) eindrücklich beschrieben hat. Ihm zufolge ziehen religiöse Überzeugungen häufig lebensfeindliche Einstellungen und neurotische Störungen nach sich. Bestärkt wird diese Haltung von Veröffentlichungen der letzten Jahre, die, aus der Perspektive eines kämpferischen Atheismus, jeglichen religiösen Glauben als Wahnerkrankung einstufen (Dawkins, 2007; Hitchens, 2007). Zahlreiche Erfahrungen belegen, dass der Umgang mit fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen – wozu man auch den kämpferischen Atheismus zählen kann – therapeutisch schwer behandelbar sind (Aten, Mangis & Campell, 2010). Religiosität aber generell krankmachende Wirkungen zu unterstellen, führt ebenso in die Irre wie die Behauptung, der Glaube mache in jedem Fall gesund.
In den letzten Jahren ist eine veränderte Haltung der Psychologie und Psychotherapie zur Religion zu beobachten, die sich auch im dem Gesinnungswechsel Mosers widerspiegelt. In seinem Bestseller „Gottesvergiftung“ hatte er mit dem strafenden Richtergott seiner Kindheit abgerechnet. Sein Gottesbild zeigte einen gewalttätigen und unbarmherzigen Patriarchen, der über den absoluten Gehorsam seiner Untergebenen wacht. Durch Kenntnisnahme von empirischen Befunden, die unmissverständlich einen positiven Einfluss des Glaubens auf die Gesundheit belegen, sowie erstaunliche eigene Erfahrungen bei Patienten mit positiven Gottesbildern änderte sich seine Einstellung. Heute kann Moser bestimmte religiöse Glaubenshaltungen als eine Quelle von Kraft und seelischem Reichtum würdigen (Moser, 2011).
Mittlerweile liegen neben den USA, einem religionspsychologisch gut erforschten Kontinent, auch für Deutschland erstaunlich differenzierte Befunde vor, die unter bestimmten Bedingungen die Bewältigungskraft positiver Spiritualität und Religiosität in Krisen und Krankheiten eindeutig belegen (Bucher, 2007; Klein, Berth & Balck 2011; Unterrainer, 2010; Utsch, 2008, 2011). Keinesfalls kann man aber kausale Aussagen im Sinne „je frömmer desto gesünder“ treffen, auch wenn manche amerikanischen Studien diesen Nachweis erbringen wollen. Bei genauerer Prüfung hängt es offensichtlich von der Art und Weise der individuell gelebten Religiosität ab, ob sie sich als Belastung oder Bewältigungshilfe erweist.
Weil über die positiven Zusammenhänge von Glaube und Gesundheit in den letzten Jahren schon viel publiziert wurde (Möller, 2007; Klein & Albani, 2007; Baumann, 2008; Ehm & Utsch, 2008; Frick, 2009; Maurer, 2009), stehen in diesem Buch die pathologischen Aspekte im Mittelpunkt. Im folgenden Abschnitt werden sieben verschiedene Aspekte krankmachender Religiosität untersucht:
- Vier Ursachen für pathologische Religiosität
- Religiosität aus entwicklungspsychologischer Sicht
- Religionsmissbrauch in Sekten und „Psychogruppen“
- Glaubensweitergabe in geschlossenen religiösen Gemeinschaften
- Ambivalente Wirkungen von Religiosität – empirische Befunde
- Zur Therapie krankmachender Gottesbilder
- Folgen für die psychotherapeutische Praxis
1.2 Vier Ursachen für pathologische Religiosität
1. Sozialisation
Jedes Kind sucht nach Erklärungen, um sich mit den Geheimnissen der Welt vertraut zu machen. Die primären Bezugspersonen und das vertraute Lebensumfeld der ersten Lebensjahre liefern im Regelfall einen Deutungsrahmen und beantworten die existenziellen Fragen des Kindes. Auch hinsichtlich der ethisch-moralischen Orientierung erweist sich das Umfeld der ersten Lebensjahre als maßgeblich. Es kann deshalb einen großen Unterschied machen, ob das Kind einer binationalen Partnerschaft oder in einer Familie der Zeugen Jehovas aufwächst. Mit der Erfahrung von Fremdheit muss ein Kind, dessen Eltern aus unterschiedlichen Kulturen stammen, viel intensiver umgehen lernen als ein Zeuge Jehovas in einem relativ geschlossenen Familiensystem. Manchmal wehren sich Jugendliche aus einer Familie, deren Mitglieder Teil einer strengen Glaubens- oder Religionsgemeinschaft sind, mit dem stärker werdenden Streben nach Autonomie dieses Lebensalters, gegen dogmatische Normen, was innerfamiliäre Konflikten zur Folge hat. Eindrückliche Fallbeispiele von Aussteigern belegen, wie entwicklungshemmend und lebensverneinend einzelne Menschen die Gewohnheiten und Strukturen einer (neu-)religiösen Gemeinschaft erlebt haben (Kohout, 2010). Wer die strengen Regeln und Strukturen einer religiösen Gemeinschaft als bedrückend, einengend, ja als „sektenhaft“ empfindet, steht in der Gefahr, pathologische Symptome zu entwickeln. Bei den Zeugen Jehovas gibt es beispielsweise empirische Hinweise dafür, dass dies nicht für alle Mitglieder gilt, sondern nur bei bestimmten Persönlichkeitsmustern der Fall ist (Deckert, 2007; Pohl, 2010).
2. Idealisierung
Neben der Sozialisation können auch die Enttäuschungen infolge überhöhter Erwartungen an eine religiöse oder spirituelle Gruppe Krankheiten verursachen. Vor allem in Zeiten persönlicher Instabilität, beruflicher Wechsel oder Lebenskrisen darf der Nutzwert eindeutiger Antworten und klarer Strukturen nicht übersehen werden, den eine straff organisierte Gruppe bieten kann. Auf dem heutigen esoterischen Lebenshilfemarkt werden viele Menschen von Meistern und spirituellen Lehrern angezogen, die mit ihren einfachen Lösungsvorschlägen die Sehnsucht nach Sicherheit und Führung perfekt bedienen. In den letzten Jahren ist deshalb deutliche Kritik am Machtmissbrauch in psycho-spirituellen Gruppen geübt worden (Caplan, 2011; Doerne, 2009; Scharfetter, 1999). Spiritualität, so wurde nachgewiesen, dient so manchem Gruppenleiter zum Ausleben seiner egoistischen Motive. Als nützliche Ideale geschickt verschleiert, sind gerade Jugendliche und junge Erwachsene, die zu Idealisierung neigen, anfällig für derartige Versprechungen.
Während die früher sog. Jugendsekten heute nicht mehr attraktiv sind und zahlenmäßig kaum noch auffallen, gibt es mittlerweile auf dem alternativen Gesundheitsmarkt Dutzende von Anbietern, die die Heilungssehnsucht ihrer Klienten ausnutzen und übergriffige Meister-Schüler-Bindungen herstellen. Besonders wenn körperliche Heilung mit spirituellem Heilen in Verbindung gebracht wird, ist die Gefahr der Vereinnahmung groß (Utsch, 2009).
Aus psychoanalytischer Sicht kann der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte bestätigt werden. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt vorwiegend emotional vertreten und nicht mehr rational geprüft würden, kann nach Erkenntnissen des Psychoanalytikers Winfried Ruff (2005) ein fanatischer Glaube mit dem Ziel entstehen, „alles Böse in der Welt zu bannen, damit es sich nicht mehr in inneren oder äußeren Katastrophen auswirken kann“ (S. 51). Im Rückgriff auf psychoanalytische Entwicklungsmodelle zeigt Ruff überzeugend auf, wie blindes Vertrauen in abhängigen Beziehungen mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann. Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu: „Indem der Mensch seinen (...) Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, entwickelt er eine Haltung von gläubiger Hoffnung“ (ebd., S. 50). In sektiererischen Gruppen würden jedoch der religiöse Führer idealisiert und seine Lehre ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichne sich dadurch aus, dass sie Zweifel zulasse und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger Zuversicht motiviere. Selbst freudianische Psychoanalytiker, früher in der Regel Verfechter radikaler Religionskritik, gehen also heute unbefangener und konstruktiver mit religiösen Glaubensüberzeugungen ihrer Klienten um.
3. Machtmissbrauch
Machthungrige Gruppenleiter erfüllen nicht nur eine Sehnsucht einzelner Mitglieder nach Unterwerfung, sondern ziehen für sich selber daraus einen narzisstischen Profit (Walach, 2000). Gerade unter dem Deckmantel der Religion lässt sich der Machtmissbrauch in Organisationen gut verschleiern. Nicht erst die skandalösen Fälle sexuellen Missbrauchs besonders in der katholischen Kirche weisen darauf hin (Funke, 2010). Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass der Vatikan seit Kurzem zur Eignungsprüfung ihrer Priesteramtskandidaten Psychologen einsetzt. Interne Supervision, demokratische Strukturen und zeitliche Begrenzungen der Posten könnten helfen, die Gefahren pathologischer Religiosität einzudämmen. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung an 150 Ordensschwestern ergab den überraschenden Befund, dass in dieser Gruppe ein aufwändig überprüftes Maß an „seelischer Reife“ sehr ungewöhnlich verteilt war: Ordensschwestern im Mittelbereich gab es wenige, dagegen war die Gruppe mit sehr hohen und sehr niedrigen...