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Konstitutionstheoretische Überlegungen – Der pädagogische Begründungszusammenhang von Beratung
Trotz der nicht unerheblichen Bemühungen, Beratung aufgrund der sich deutlich abzeichnenden Bestimmungsprobleme, die sich auf die Abkoppelung von grundlagentheoretischen und disziplinbezogenen Wissensbeständen zurückführen lassen, eine eigenständige Beratungswissenschaft (Fatzer u. Kohlhage, 2004; Möller u. Hausinger, 2009) zur Seite zu stellen und damit Beratung sowohl als Profession, also als akademischer Beruf, als auch als Disziplin auszuweisen, kann Beratung immer nur eine Option im Handlungsrepertoire einer professionellen Praxis sein.
Die sich aktuell abzeichnende Entwicklung von Beratung, eine Entwicklung, die sich durch den Versuch charakterisieren lässt, Beratung als Funktion einer professionellen Praxis aus dieser herauszulösen und als eigenständigen Beruf zu etablieren, kann am Gegenstandsbereich Supervision, bei dem diese Entwicklung schon weit fortgeschritten ist, nachgezeichnet werden. Theoriegeschichtlich betrachtet war Supervision im anglo-amerikanischen Sprachraum an den Beruf des Sozialarbeiters gebunden. Supervision hatte Ausbildungsfunktion und sollte den angehenden Sozialarbeiter in seine Tätigkeit einführen und unterstützen. Im europäischen Sprachraum entwickelte sich Supervision als Teil des Weiterbildungssystems im Rahmen psychoanalytischer Weiterbildung und hatte dort die Aufgabe, den Weiterbildungskandidaten bei der Behandlung seiner Patienten beizustehen (Hechler, 2005). Beide Formen der Supervision waren an Grundberufe gekoppelt, die sich ihrerseits wieder auf ihre korrespondierende Disziplin bezogen. Heute wird Supervision, begünstigt durch eine starke Interessensvertretung, fast überwiegend als eigenständiger Beruf aufgefasst.
Ob diese interessensbasierte Expansion einer professions- und konstitutionstheoretischen Analyse standhält, ist zu bezweifeln, denn jede professionelle Praxis ist auf ihre korrespondierende Disziplin bezogen und umgekehrt. Das heißt, der Arzt bedient sich der Kenntnisse der Medizin, der Anwalt/Richter derer der Jurisprudenz, der Pfarrer bezieht sich auf die Theologie und der Erzieher/Lehrer auf die Pädagogik. Hieraus folgt zum einen, dass jede professionelle Praxis beraterisch tätig sein kann und auch ist. Man spricht vom ärztlichen Rat, von der Rechtsberatung und von der Seelsorge als pastorale Beratung. Zum anderen ist allen gemeinsam, dass sie ihre Begründung aus den jeweiligen disziplinären Zusammenhängen ableiten.
Disziplin | Medizin | Jura | Theologie | Pädagogik |
Profession | Arzt | Anwalt | Pfarrer | Erzieher |
Profes- sionelle Handlungs- optionen | Heilmittel | Rechtsmittel | Heilsmittel | Erziehungs- mittel |
Abb. 3: Disziplinen – Professionen – Handlungsoptionen
Betrachtet man die spezifischen Disziplinen mit den dazugehörigen Professionen und deren eigentümlichen Handlungsoptionen, dann fällt auf, dass in dieser Systematik die Psychologie mit Hinblick auf Beratung zunächst keine Erwähnung findet. Und dies scheint umso mehr zu verwundern, da sowohl im fachlichen als auch im öffentlichen Diskurs mit Beratung eigentlich überwiegend „psychologische“ Beratung gemeint ist (Steinebach, 2006).
Legt man aber die oben ausgeführten Unterscheidungskategorien bei der strukturellen Bestimmung von Beratung zu Grunde, dann ergeben sich mit Hinblick auf Psychologie und auf „psychologische“ Beratung einige Fragen.
Betrachtet man Beratung als eine Handlungsform einer professionellen Praxis, dann muss für die wissenschaftliche Disziplin Psychologie eine korrespondierende professionelle Praxis identifiziert werden: Ohne Profession, keine professionellen Handlungsoptionen und damit auch keine Beratung! Sieht man von der Tatsache ab, dass Wissenschaft an sich als Profession gelten kann, dann war Psychologie lange Zeit ausschließlich eine akademische Disziplin ohne professionelle Interventionspraxis. Die Professionalisierung der deutschen Psychologie mit Hinblick auf eine professionelle interventionspraktische Wissensanwendung vollzog sich im Nationalsozialismus (Geuter, 1988). Das Zusammenspiel von Wehrmacht, Wirtschaft und Staat schaffte ein Feld, in dem insbesondere die test- und persönlichkeitspsychologischen Kompetenzen der Psychologie gefragt waren. Dieser testdiagnostische Schwerpunkt, der maßgeblich für die Professionalisierung der Psychologie verantwortlich war, setzte sich im Nachkriegsdeutschland in den aufkommenden Erziehungsberatungsstellen fort und fand hier einen institutionell abgesicherten Ort, um sich zu etablieren. Neben der testdiagnostischen Tätigkeit fand zunehmend auch die psychotherapeutische Tätigkeit durch die Psychologen in den Beratungsstellen Verbreitung. Der zweite Professionalisierungsschub der Psychologie fand also in und durch die Erziehungsberatungsstellen statt. Als dritte und bislang letzte und folgenreichste professionelle Entwicklungsphase der Psychologie kann das 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz, das auch in Fachkreisen als „Psychologengesetz“ bezeichnet wird, angesehen werden. In diesem Zusammenhang erscheint es so, als werde der wissenschaftlich-akademischen Disziplin Psychologie nun der Psychologische Psychotherapeut, der in Ansätzen vorher schon als „Klinischer Psychologe/Psychotherapeut“ bekannt war, als professionelles Pendant zur Seite gestellt.
Die Entwicklung der Psychologie als Profession wirft aber einige Fragen auf. Zunächst kann festgehalten werden, dass der erste Professionalisierungsschub im Nationalsozialismus ganz offensichtlich die Kernkompetenzen der Psychologie abgefragt hat und man somit von einem genuin psychologischen Praxisfeld sprechen kann. Ob die test- und persönlichkeitspsychologischen Untersuchungen und die daraus folgenden Konsequenzen den Charakter einer interventionspraktischen oder aber vielmehr den einer ingenieurialen Wissensanwendung hatten, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Doch macht es einen Unterschied, wissenschaftliches Wissen einzelfallbezogen interventionspraktisch zur Anwendung zu bringen, da dann von professionellem Handeln gesprochen werden kann. Die ingenieuriale Wissensanwendung wissenschaftlichen Wissens dagegen entspricht zwar einem akademischen Beruf, nicht aber einer Profession.
Beim zweiten Professionalisierungsschub im Rahmen der Erziehungsberatungsstellen muss festgehalten werden, dass die gesetzliche Grundlage – zunächst durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) ab 1953 und dann, ab 1991, durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) – eine pädagogisch motivierte und ausgestaltete Grundlage war, in der die Psychologie ihren Platz fand. Die Begründung für psychologisches Handeln ergab sich also aus einer pädagogischen Bestimmung.
Ähnliches gilt für den dritten Professionalisierungsschub im Rahmen des...