|16|2 Störungstheorien und -modelle
Am prominentesten ist das kognitiv-behaviorale Modell des pathologischen Hortens (vgl. Frost & Hartl, 1996; Steketee & Frost, 2003; Tolin et al., 2007), das sich auch gut eignet, um Patienten mit den Zusammenhängen ihrer Erkrankung vertraut zu machen. Die verschiedenen Faktoren des Modells wurden inzwischen durch eine Vielzahl an Studien bestätigt (vgl. hierzu auch die Karte „Allgemeines Modell des pathologischen Hortens“ am Ende des Buches).
Wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, werden zunächst (1) allgemeine Vulnerabilitätsfaktoren angenommen:
- a)
Persönlichkeit und Lerngeschichte. Man geht davon aus, dass dysfunktionale Grundüberzeugungen eine bedeutsame Grundlage für die Entstehung pathologischen Hortens bilden. Dies können negative Selbstbilder sein, wie etwa die Vorstellung, nicht liebenswürdig oder unfähig zur Bewältigung von Alltagsanforderungen zu sein (z. B. durch wiederholte Erfahrung von Hilflosigkeit), oder aber auch verinnerlichte Werte aus der Herkunftsfamilie und Modellverhalten der primären Bezugspersonen bzgl. des Umgangs mit materiellen Dingen. Manche Patienten berichten von Herkunftsfamilien, in denen das Wegwerfen intakter Gegenstände verpönt war; einige wuchsen bereits in recht vollgestellten Wohnungen auf. Andere erleben ihr Sammeln und Horten eher als persönliche Freiheit, da sie in einem sehr ordentlichen, fast spartanisch eingerichteten oder klinisch-sterilen Umfeld aufgewachsen sind. Hinzu kommen Persönlichkeitseigenschaften wie etwa Perfektionismus, eine dependente oder unsicher-vermeidende Persönlichkeitsstruktur. Ein dritter Bereich sind häufig komorbide Erkrankungen, z. B. Depressionen, Angst- oder Belastungsstörungen. Auch körperliche Erkrankungen, die neben der intrapsychischen Belastung oft die Mobilität und den Handlungsradius einschränken, sind gelegentlich von Bedeutung. So können sich persönliche Standards für den Zustand einer Wohnung allmählich verschieben, wenn die Entsorgung von Gegenständen mühsam wird. Darüber hinaus kann das Horten einen Versuch darstellen, die schwer zugängliche Außenwelt durch eine zunehmende Anzahl von Gegenständen quasi „nach Hause zu holen“; gelegentlich haben exzessive Online-Einkäufe eine Ersatzfunktion für alternative Verstärker inne.
- b)
Probleme der Informationsverarbeitung. Viele Menschen mit pathologischem Horten leiden generell unter leichten Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrechtzuerhalten, Dinge zu ordnen und zu kategorisieren, Handlungen effektiv zu planen und umzusetzen, Entscheidungen zu fällen, sowie unter einer leicht beeinträchtigten Problemlösefähigkeit (vgl. Woody et al., 2014). Weiterhin findet man häufig geringfügige Defizite im Bereich visuell-räumlichen Lernens und des Arbeitsgedächtnisses. |17|Andererseits können aber auch kognitive Merkmale von Bedeutung sein, die grundsätzlich Ressourcen darstellen, wie etwa eine erhöhte Fähigkeit zu divergentem Denken und Kreativität, die vielfältige Nutzungsmöglichkeiten für Gegenstände denkbar macht (und somit das Wegwerfen erschwert).
Aus diesen Vulnerabilitätsfaktoren resultieren (2) ungünstige Annahmen über die Bedeutsamkeit bzw. den Wert von Gegenständen. Insbesondere drei übergeordnete Bedeutungen persönlicher Besitztümer werden beim pathologischen Horten immer wieder beobachtet:
Der Gegenstand hat eine wichtige Funktion, z. B. zur Selbstwertstärkung oder als vermeintliche Gedächtnisstütze für vergangene Erlebnisse,
der Gegenstand hat einen starken emotionalen Wert, z. B., weil ich ihn wie einen Teil von mir selbst oder einer anderen Person wahrnehme, die mir viel bedeutet,
der Gegenstand hat einen besonderen ästhetischen Wert, z. B. eine ungewöhnliche Oberflächenbeschaffenheit oder eine ansprechende Farbe, die ihn mir besonders kostbar erscheinen lässt.
Hinzu kommen allgemeine Annahmen, die das pathologische Horten fördern, wie etwa ein starkes Verantwortungserleben (ich kann nichts wegwerfen, weil ich mich sonst schuldig fühle, wenn ich es doch einmal brauche), ein ausgeprägtes Gefühl der Verletzlichkeit (meine Gegenstände geben mir Sicherheit und Nestwärme), sowie Misstrauen in die eigene Gedächtnisleistung (ohne Erinnerungsstücke ist ein Teil aus meinem Leben gelöscht).
Diese Annahmen lösen (3) intensive negative Emotionen wie Traurigkeit, Schuld oder Ärger in Zusammenhang mit dem Akt des Wegwerfens oder Verlierens von Gegenständen und positive Emotionen wie Freude, Stolz, eventuell sogar Begeisterung beim Erwerb von Gegenständen aus.
Das pathologische Horten wird nun einerseits durch Vermeiden von aversiven Gefühlen beim Wegwerfen negativ verstärkt. Zum anderen findet gelegentlich eine positive Verstärkung statt, indem das Horten und Ansammeln als freudvoll erlebt wird – beispielsweise wenn ein sorgsam gehüteter Gegenstand sich plötzlich als nützlich erweist oder unverhofft Freude beim Betrachten bereitet. Durch diese Verstärkungsprozesse wird das Wegwerfen immer weiter vermieden.
Gemeinsam mit dem Patienten kann ein individuelles Modell zum pathologischen Horten erstellt werden (vgl. Abb. 3 auf S. 18 und Abb. 7 auf S. 36, welche das Modell anhand eines Fallbeispiels darstellt).
Das kognitiv-behaviorale Modell stellt in Forschung und Praxis den verbreitetsten Ansatz dar. Dennoch sollen zwei weitere Zugangswege zur Symptomatik des pathologischen Hortens noch kurz erwähnt werden:
|18|Abbildung 3: Kognitiv-behaviorales Modell des pathologischen Hortens
|19|Psychodynamische Modelle betrachten pathologisches Horten häufig im Kontext anankastischer Persönlichkeitsmerkmale. Berühmt geworden und oft zitiert ist die Triade aus „Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn“, die Freud erstmals 1908 in seinem Werk Charakter und Analerotik beschreibt. Demnach neigen Menschen mit zwanghaften Persönlichkeitszügen zu einer gewissen Enge und Zurückhaltung auch in Bezug auf materielle Dinge, die von einer ausgeprägten Sparsamkeit über Geiz bis hin zu extremem Horten reichen kann. Wie Wunderlich (1996) ausführt, sind für das Besitzerleben orale und anal-retentive Impulse jedoch gleichermaßen von Bedeutung: Die oralen Impulse, etwas haben zu wollen, führen zur Aneignung des Gegenstandes, während die retentiven Impulse eher für die Verteidigung und Beibehaltung des Besitzes zuständig sind. Lang (2015) beschreibt anhand einiger Fallbeispiele verschiedene psychodynamische Erklärungsansätze für pathologisches Sammeln und Horten. So fungierte das zwanghafte Horten bei einer Patientin als nicht bewusste späte Rebellion gegen die Sauberkeitsdressur ihrer Stiefmutter. An anderer Stelle nahm das pathologische Horten die Funktion eines „Schutzwalls“ gegen allzu große Nähe ein. Die existenzielle Bindung an eine Vielzahl von Objekten wird kompensatorisch zum Ausfüllen einer inneren Leere betrachtet. Nicht zuletzt kann das hartnäckige Horten nach Lang auch dazu dienen, die Vergänglichkeit allen Seins quasi auszuschalten: Durch das „Verräumlichen der Endlichkeit“ wird diese scheinbar beseitigt; die existenziellen Erfahrungen des Abschiedes und Verlusts werden somit vermieden.
Neurobiologische und neuropsychologische Studien betonen, dass pathologisches Horten von speziellen neurobiologischen Merkmalen und neurokognitiven Beeinträchtigungen geprägt ist. Somit vertiefen diese Ansätze in erster Linie einen Teilaspekt des kognitiv-behavioralen Modells. Es wird davon ausgegangen, dass maßgeblich Bereiche beeinträchtigt sind, die die Emotionsregulation, Aufmerksamkeitsleistungen und Entscheidungsfindung steuern. Wie Grisham und Baldwin (2015) allerdings anmerken, sind vermutlich insbesondere Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Funktionsbereichen sowie zwischen subjektiven Beeinträchtigungen (z. B. verringertes Vertrauen in das eigene Langzeitgedächtnis) und objektiven Leistungseinbußen von Bedeutung. Anhand von Studien mit bildgebenden Verfahren und neuropsychologischen ...