Einleitung
Im Februar 1987, nur wenige Wochen vor seinem Tod, hielt der bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnete Jacob Taubes vier Paulusvorlesungen an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg. In seiner Einführung zu den Vorlesungen beklagte er mit Emphase die Abschottung der Theologie und die Marginalisierung der Bibel.
„Ich halte die Abgeschlossenheit der theologischen Fakultäten für ein Verhängnis. Meiner Ansicht nach liegt eine dringende Aufgabe bei diesen Fakultäten, einige Fenster in ihre Monaden einzubauen … Ich halte das für eine Katastrophe des deutschen Bildungssystems … Ich habe Freunde wie Henrich, die deshalb zum Schluß kommen, die Theologische Fakultät abzuschaffen an der Universität. Ich habe dem immer widerstanden, weil ich gesagt habe: ohne dieses ABC könnte ich ja keine Philosophie unterrichten. Er kann, weil er ja mit dem Selbstbewusstsein beginnt, verstehen Sie, er braucht das also alles nicht, aber ich armer Job kann auf die Geschichte nicht verzichten. Und deshalb bin ich der Ansicht, daß hier in den Institutionen Durchlässigkeiten geschaffen werden müssen. Ich halte es für eine Katastrophe, daß meine Studenten aufwachsen in purer Ignoranz der Bibel. Ich habe eine Dissertation über Benjamin bekommen, wo zwanzig Prozent der Assoziationen falsch waren. Er kommt also mit der fertigen Arbeit an, ich lese darin und sage: Hören Sie mal, Sie müssen mal in die Sonntags-Schule gehen und die Bibel lesen! Und in der Feinheit der Benjaminiten sagt er mir: In welcher Übersetzung? Sag ich: Für Sie ist jede gut genug. Das ist der Zustand in der philosophischen Fakultät, wie ich ihn erlebe.“1
Inzwischen ist eine merklich größere Durchlässigkeit unübersehbar. Die allgemeine „Wiederkehr der Religion“ in den westlichen Kulturen hat im Raum der Geistes-, Sozial- bzw. Kulturwissenschaften ein neues Interesse an religiösen, theologischen wie auch biblischen Themen und Fragestellungen entfacht.2 In diesem Umfeld ist zumal auch die Aufmerksamkeit zu verorten, die die Briefe des Apostels Paulus gegenwärtig in den intellektuellen Diskursen erfahren. Neben den genannten Paulusvorträgen von Jacob Taubes sind es v.a. die philosophischen Pauluslektüren von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek, die für Aufsehen sorgen – bis in das Feuilleton hinein.3 Akzentuierungen des philosophischen Gehalts der Paulusbriefe und umfänglichere philosophische Auslegungen der Gedanken des Apostels sind allerdings kein Novum. Bereits Baruch de Spinoza notierte in seinem „Tractatus theologico-philosophicus“, keiner von den Aposteln habe mehr philosophiert als Paulus.4 Namentlich Friedrich Nietzsche setzte sich dann in seinem Werk intensiv mit Paulus auseinander, und Martin Heidegger widmete sich zu Beginn der 1920er Jahre in seinen Vorlesungen zur „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ eingehend den Briefen des Apostels an die Thessalonicher und die Galater. Die Einzeichnung des Apostels in die Philosophie geht freilich bis in die frühen Anfänge des Christentums zurück. Bereits die Apostelgeschichte lässt Paulus auf dem Areopag in der Manier eines Philosophen auftreten (Apg 17,16–34). Dazu fügt sich, dass in der exegetischen Forschung immer wieder der Versuch unternommen wurde, den Apostel und seine Gedankenwelt mit bestimmten antiken philosophischen Schulen zu korrelieren, sei es, dass man ihn und seine Theologie mit den Epikureern,5 mit den Kynikern,6 mit den Stoikern7 oder auch der sog. zweiten Sophistik8 ins Verhältnis setzte. Alle diese Versuche stießen freilich auf berechtigte Kritik. Jenseits konkreter Schulzuweisungen lassen sich die Paulusbriefe jedoch durchaus allgemein im philosophischen Diskurs der damaligen Zeit verorten, überschneiden sich doch zentrale Charakteristika des paulinischen Wirkens mit dem allgemeinen Auftreten und Agieren antiker Philosophen. Hier wie dort spielten Lehre, Ermahnung und die konzentrierte Auseinandersetzung mit Texten der Tradition eine Schlüsselrolle. So schreibt Loveday Alexander: „Teaching or preaching, moral exhortation, and the exegesis of canonical texts are activities associated in the ancient world with philosophy, not religion.“9 Aber auch die Belehrung bzw. die meditatio in Briefform, Gemeinschaftsmähler, das Ringen um die eigene Identität gegenüber der Außenwelt u.a.m. bestimmten die philosophischen Schulen und die paulinischen Gemeinden gleichermaßen.10 Wichtiger noch ist, dass das die antiken Philosophien prägende Thema der Menschenformung, der Bildung eines neuen Selbst, getragen durch Seelenführung (Psychagogik),11 auch in den Paulusbriefen begegnet. Dies gilt insofern, als die Paulinen grundsätzlich ebenfalls einer Transformation des Selbst – wie auch des sozialen Miteinanders – das Wort reden, hier freilich auf der Basis der in Christus angestoßenen umfassenden Transformation der Welt im Ganzen.
Der vorliegende Band geht vor diesem Hintergrund wichtigen philosophischen Paulusportraits der Vergangenheit und Gegenwart nach. Die ersten drei Beiträge bieten zunächst einige grundsätzliche Orientierungen und Überblicke. Es folgen neun Einzelportraits einschlägiger philosophischer Pauluslektüren, vom 19. Jh. an bis in die jüngste Gegenwart hinein.
Karl Kardinal Lehmann eröffnet den Band mit einer persönlich gehaltenen Einführung in das Leben und Werk des Apostels Paulus aus theologischer Perspektive. Ekkehard W. Stegemann führt im Anschluss daran Verortungen des Paulus in der antiken Philosophie vor Augen und schlägt von da aus eine Brücke in die Philosophie der Aufklärung. Er bespricht das philosophische Paulusportrait in Apg 17, erörtert die philosophisch-rhetorische Profilierung des Paulus bei den christlichen Apologeten und im spätantiken apokryphen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, er durchleuchtet kritisch die These vermeintlicher stoischer Einflüsse in der paulinischen Theologie und geht schließlich paulinischen Anschlüssen in Immanuel Kants These vom radikal Bösen nach. Micha Brumlik bietet einen Überblick über die von ihm als „postmodern“ klassifizierten Paulusdeutungen von Daniel Boyarin, Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek. Er beleuchtet sie konsequent vom Gedanken der Messianität her und stellt bei den drei Letztgenannten antijudaistische Implikationen heraus. Daniel Havemann zeigt die eminente Bedeutung auf, die Paulus in Friedrich Nietzsche Moralphilosophie trotz bzw. gerade aufgrund dessen kritischer Auseinandersetzung mit dem Apostel zukommt. Er tut dies, indem er die philosophische Bedeutung der Polemik in Nietzsches Spätwerk erhellt, die zentralen Konturen und Quellen der Paulusdeutung des Philosophen darlegt und schließlich – orientiert an den Stichworten Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe – eine Auslegung der paulinischen Theologie auf der Basis der Moralkritik Nietzsches vorträgt. Holger Zaborowski erörtert das Paulusbild in Martin Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens. Er erhellt zunächst die situativen und philosophischen Hintergründe der Vorlesungen, zeigt dann die Bedeutung der paulinischen Aussagen für Heideggers Verständnis des faktischen Lebens in seiner Zeitlichkeit auf und spürt schließlich einigen impliziten Nachwirkungen des Paulinismus in der späteren Philosophie Heideggers nach. Dass sich auch Hermann Schmitz in seiner Leibphänomenologie eingehend mit Paulus beschäftigte, wurde bislang nur wenig beachtet. Umso erfreulicher ist es, dass Michael Großheim und Henning Nörenberg hier eine Einführung in die Paulusinterpretation der „Neuen Phänomenologie“ bieten. Christoph Schulte deckt die überragende Bedeutung auf, die Paulus im Werk und Leben Jacob Taubes’ einnimmt, und zwar über die eingangs erwähnten Heidelberger Vorträge hinaus. Wolfgang Stegemann setzt sich kritisch mit Daniel Boyarins Portrait des Apostels als Kritiker des Judentums auseinander. Er kontrastiert es mit den Paulusdeutungen von Lloyd Gaston, Stanley K. Stowers und Caroline Johnson Hodge, die Paulus jenseits jeglicher Herabminderung des Judentums auslegen. Der Apostel sei nicht als „Champion der jüdischen Selbstkritik“, sondern als Diskursbegründer einer jüdisch-christlichen Kultur zu begreifen. Martin G. Weiß entfaltet Gianni Vattimos Philosophie des „Schwachen Denkens“ als „Ontologie der Aktualität“, geht der Verankerung dieser Philosophie in den christlichen Konzepten der kenosis und caritas nach und zeigt auf, dass sich Vattimos Zeitbegriff an der paulinischen Beschreibung der urchristlichen faktischen Lebenserfahrung orientiere und Vattimos methodischer Skeptizismus auf das paulinische „Als-ob-nicht“ (ὡς μή) zurückführbar sei. Schließlich stellen Alexander Heit, Markus Buntfuß und Christian Strecker die derzeit viel beachteten Pauluslektüren von Alain Badiou, Slavoj Žižek und Giorgio Agamben vor, indem sie sie in deren Philosophien verankern und in einigen Zügen kritisch hinterfragen.
Selbstredend ließen sich noch weitere philosophische Pauluslektüren anführen, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnten. Sie sollen wenigstens kurz erwähnt werden, um die Breite der jüngeren philosophischen Rezeption des Apostels anzuzeigen. Zu verweisen ist diesbezüglich namentlich auf die Pauluslektüre Jean-François Lyotards, die im Dialog mit Eberhard Gruber entstand und unter dem Titel „Ein Bindestrich“ erschien.12 Zu nennen ist ferner John...