2. Die Praxis des Bibliologs
Nach der Einführung in den Charakter und die Hintergründe des Bibliologs wendet sich das folgende Kapitel der konkreten Praxis des Bibliologs zu. Es stellt die Schritte vor, die zur Vorbereitung eines Bibliologs erforderlich sind, beschreibt die Techniken, die als „Handwerkszeug“ für seine Durchführung benötigt werden, und reflektiert die Wege zum Gelingen eines Bibliologs.
2.1 Die Auswahl des Textes
Der erste Schritt bei der Planung eines Bibliologs ist die Entscheidung für einen biblischen Text. Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich tatsächlich mit fast allen Texten bibliologisch arbeiten, zumindest mit allen Textgattungen, also nicht nur mit Erzähltexten, sondern auch mit Brieftexten, Psalmen, prophetischen Texten oder Gesetzestexten. Voraussetzung für den bibliologischen Umgang mit diesen schwerer zugänglichen Gattungen sind allerdings längere Erfahrungen im Anleiten von Bibliologen und eine entsprechende Sicherheit darin, die Kreativität und Souveränität freisetzt. Für den Anfang empfiehlt es sich, mit Texten zu arbeiten, die bibliologisch leicht zugänglich sind, um einen guten Einstieg sowohl für sich selbst als auch für die Gemeinde, Schulklasse oder Gruppe zu finden. Bibliologe anzuleiten ist anspruchsvoll genug und muss nicht durch eine zu frühe Wahl schwieriger Texte künstlich erschwert werden.
Die Textfindung (die durchaus einige Zeit in Anspruch nehmen kann), vollzieht in der Regel zwei Bewegungen, eine positive und eine negative.
2.1.1 Argumente für einen Text
Positiv empfiehlt es sich, zunächst die eigene Lust und Neugier auf einen biblischen Text als Ressource zu nutzen. Wenn einen selbst ein Text anspricht und die eigene Entdeckungsfreude weckt, ist die Chance groß, dass sich das positive Verhältnis zum Text auf die Teilnehmenden überträgt.
Der Text sollte aber auch daraufhin geprüft werden, ob er für eine Gruppe geeignet ist: Zu welchen Texten können die Teilnehmenden einen guten Zugang finden, mit welchen biblischen Gestalten können sie sich vermutlich gut identifizieren? Dies kann bei Jugendlichen anders sein als bei Seniorinnen und Senioren, bei einer eher konservativen Frömmigkeit anders als bei einer nichtkirchlichen Gruppe, bei Frauen anders als bei Männern, bei kirchlichen Hauptamtlichen anders als bei Kirchenmitgliedern. Allerdings bedeutet dies nicht, einen möglichst „passgenauen“ Text für die jeweilige Zielgruppe finden zu müssen, als könnten sich Senioren nur mit Simeon und Hanna (Lk 2,22–40), Kinder nur mit David im Kampf gegen Goliath (1 Sam 17), Frauen nur mit Ruth oder Martha (Lk 10, 38–42) oder Pfarrer nur mit Petrus identifizieren. Im Gegenteil: Gerade für die ersten Versuche empfiehlt es sich, den Text nicht zu dicht an den persönlichen Themen der Teilnehmenden zu wählen, weil sich diese dann oft kaum mit der biblischen Situation identifizieren, sondern stärker an ihre eigenen Lebensgeschichten erinnert werden.
Bei der Erzählung einer Blindenheilung für eine Gruppe von Sehbehinderten (z.B. Mt 9,27–31 oder Mk 10,46–52) oder für Hochbetagte die Erzählung von Simeon und Hanna (Lk 2,22–40) werden vermutlich die eigenen Fragen und Themen der Teilnehmenden in den Vordergrund treten.
Diese in die biblische Geschichte und in die Rollen des Texten hineinzuverweben, ist zwar durchaus möglich, erfordert jedoch größeres methodisch-handwerkliches Geschick sowie Souveränität in der Leitung und ist manchmal geradezu hohe bibliologische Kunst. Ebenso ist es bei einer Erstbegegnung mit dem Bibliolog zunächst einfacher, nicht zu tief in ihre Lebensthemen hineingeführt zu werden, weil es ansonsten nahe liegt, „aus der Rolle“ zu fallen und nicht als die biblische Person, sondern als man selbst zu sprechen. Geeignet sind also Texte, die zur Identifikation einladen, ohne in besonders belastete Themen dieser Gruppe hineinzuführen.
Dieser Suchprozess wird dadurch erleichtert, dass es gar nicht so wenige Themen gibt, die vermutlich alle Menschen in irgendeiner Weise beschäftigen – Freiheit und Bindung, Vertrauen und Zweifel, Mut und Angst, Sicherheit und Aufbruch, die Rollenverteilung in Familien und nicht zuletzt die Frage nach dem Grund des Lebens. Zudem sind die biblischen Texte in der Regel sehr offen angelegt und enthalten mehr als ein Thema, so dass die Chance groß ist, dass unterschiedliche Menschen einen Zugang zu ihnen finden. Im Blick auf den biblischen Text bedeutet dies, die unterschiedlichen Aspekte und Themen eines Textes mit einem wachen und offenen Blick wahrzunehmen. Oft erschließen sich nach eingehender Beschäftigung mit einem Text Themenstränge, die zunächst von anderen, vordergründigeren überlagert waren.
Die Verklärung Jesu (Mt 17,1–9 / Mk 9,2–13 / Lk 9,28–36) beispielsweise hat nicht nur die Person Jesu und sein Verhältnis zu Gott zum Thema, sondern erzählt auch von Unterschieden und möglichen Rivalitäten zwischen den Jüngern, von denen einige mit auf den Berg dürfen und andere nicht.
Die Geschichte von der kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28 / Mk 7,24–30) handelt nicht nur vom Glauben der Frau und von der Veränderung Jesu, sondern auch von Selbstüberwindung und Erniedrigung, von Stärke und Schwäche, von der Beziehung zwischen Jesus und der Frau und von dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.
Weiter kann ein Blick auf den Kontext, für den der Bibliolog konzipiert wird, hilfreich sein. Sein Ort im Kirchenjahr kann eine Rolle spielen: Die Begegnung zwischen Maria und dem Engel Gabriel (Lk 1,26–38) bietet sich im Advent an, der Einzug nach Jerusalem (Mt 21,1–11 / Mk 11,1–11 / Lk 19,29–40 / Joh 12,12–19) passt in die Passionszeit (und ebenfalls in die Adventszeit), die Himmelfahrtsgeschichte (Apg 1,9–12) liegt um Himmelfahrt herum nahe. Besonders im Gottesdienst stellt sich die Frage, ob ein bibliologisch geeigneter Text für diesen Sonntag als Predigttext vorgesehen ist. Oder enthält die Perikopenordnung einen Text für diesen Sonntag aus einer anderen Perikopenreihe, der sich als Bibliolog eignet?19 Ist dies nicht der Fall, sollte man sich von der Perikopenordnung lösen und besonders für die ersten Versuche die Eignung des Textes für den Bibliolog dem Einhalten der Perikopenordnung vorordnen. In der Regel folgen andere Sonntage dann wieder der Perikopenordnung, so dass nicht die Gefahr besteht, sich auf die eigenen „Lieblingstexte“ zu konzentrieren. Soll der Bibliolog im Religionsunterricht stattfinden, kann der Lehrplan eine Orientierungshilfe sein. Welche Themen oder Texte sind ohnehin für die nächste Zeit vorgesehen und könnten sich für diesen Zugang eignen? Dabei kann ein Bibliolog sowohl ein guter Einstieg in ein neues Thema als auch eine Vertiefung oder ein Abschluss sein.
Wenn ich nach diesen Fragen immer noch Schwierigkeiten habe, einen geeigneten Text zu finden, blättere ich übrigens gerne einmal in der Bibel herum – gar nicht selten fällt mir plötzlich ein Text ins Auge, der mich spontan zu einem Bibliolog reizt.
2.1.2 Kriterien für die Textauswahl
Hat sich ein Text herauskristallisiert (manchmal sind auch noch mehrere in der engeren Auswahl), empfiehlt sich als zweiter Schritt, sozusagen als „Gegenprobe“, den Text anhand bestimmter Kriterien auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen. Diese Kriterien fungieren als Wahrnehmungshilfe und manchmal auch als Warnung, einen Text, der sich zunächst scheinbar eignet, doch lieber nicht (oder erst später) zu wählen.
a. Der Text hat einen erzählenden Charakter und enthält Handlungen.
Texte, die eine Geschichte erzählen und bei denen eine Handlung erkennbar ist, sind bibliologisch zugänglicher als Brieftexte, Reflexionen oder Genealogien. Die Dynamik, die ein Text mitbringt, erleichtert das Hineinkommen in den Bibliolog und fördert die innere Dynamik der Teilnehmenden. Texte ohne Handlungsfortschritt fordern von der Leitung ein wesentlich größeres Maß an Kreativität im Umgang mit dem Ansatz und eine entsprechende Sicherheit in seiner Handhabung.20 Die Teilnehmenden müssen zudem eine höhere Bereitschaft mitbringen, die Schwelle zum Bibliolog zu überschreiten und sich auf eine weniger eingängige Konstellation einzulassen. Erzählende Texte hingegen nehmen Menschen in ihren Handlungsverlauf rasch hinein und fördern die Identifikation mit den Handlungsträgerinnen und -trägern. Ihre Spannung überträgt sich auf die Spannung der Teilnehmenden.
Erzählende Texte finden sich in vielen Büchern der Hebräischen Bibel. Das erste und zweite Buch Mose (Genesis und Exodus) erzählen fast durchgängig, ebenso die Bücher Josua, Richter und Ruth, und auch die Bücher Samuel und Könige bestehen zu großen Teilen aus Erzähltexten. Aber auch in den anderen Büchern Mose sowie bei vielen der Propheten finden sich Handlungen. In der griechischen Bibel bestehen die Evangelien zu großen Teilen aus Erzählungen (Matthäus, Markus und Lukas noch stärker als Johannes), ebenso die Apostelgeschichte.
b. Der Text erzählt von menschlichen Erfahrungen und Beziehungen.
Erfahrungen von biblischen Gestalten, die Menschen heute nachvollziehen können und möglicherweise aus eigenem Erleben kennen, schaffen eine Nähe zum Text und erleichtern die Identifikation mit den Rollen. Erfahrungen von Zuwendung und Ablehnung, Gemeinschaft und Rivalität, Angenommenwerden und Konfrontation, Entscheidungen, Abschiede und Begegnungen, Gefühle wie Freude, Trauer, Wut, Erleichterung etc. laden dazu ein, die biblische Geschichte mit der eigenen Lebensgeschichte zu verweben. Zwischenmenschliche Beziehungen...